Nashville
21:00 Uhr
Der Regen ließ langsam nach und es folgte eine bittere Kälte. Taylor bahnte sich einen Weg zwischen den blau-weißen Streifenwagen und Vans der Rechtsmedizin die Estes Road hinunter. Ein Streifenbeamter winkte sie durch und sie parkte ihren Wagen vor der Einfahrt der Kings.
Dan Franklin, der Sprecher des Police Departments, erwartete sie bereits. Er hatte hellbraunes Haar und blaue Augen, ein relativ nichtssagendes, beinahe unscheinbares Gesicht, war aber fast eins neunzig groß und mindestens zweihundertdreißig Pfund schwer. Er verbrachte viel Zeit im Fitnessstudio und das zahlte sich aus. Körperlich war er einschüchternd, emotional war er der Fels, der das Department zusammenhielt. Er war die erste Verteidigungslinie gegen die Presse. Was eine sehr prekäre Position war – Metro brauchte die Medien und die Medien brauchten Metro, aber manchmal spielten sie nicht fair. Franklin stellte sicher, dass beide Seiten zu ihrem Recht kamen.
Er öffnete die Tür und Taylor stieg aus. „Was ist los?“ „Ich muss mit dir reden.“
Taylor blieb stehen. „Schieß los.“
„Ich glaube, es wäre gut, wenn du die Pressekonferenz geben würdest.“ Er unterstrich seine Worte dadurch, dass er mit der Hand auf die Motorhaube ihres Wagens klopfte, und diese Betonung wirkte irgendwie gekünstelt. Taylor war sofort misstrauisch.
„Ach, komm schon. Die Pressekonferenz ist dein Job.“
„Ich weiß, und ich werde auch bei dir sein.“ Er hörte mit dem Klopfen auf und lehnte sich gegen das Auto. Dann verschränkte er die massigen Arme vor der Brust und sagte: „Wir sind schon seit langer Zeit befreundet, oder?“
„Beinahe zehn Jahre.“
„Und du vertraust mir?“
„Ja.“
„Dann gib die Pressekonferenz. Ich verspreche dir, es ist das Richtige.“
„Aber, …“
Er unterbrach sie. „Taylor, die Stadt Nashville will sehen, dass du wieder die Führung übernommen hast. Du warst ein paar Monate lang Futter für die Medien, und in dem Moment, wo du wieder deinen alten Verantwortungsbereich übertragen bekommst, passiert in deiner Schicht eine Reihe von Morden. Sie wissen, dass Fitz vermisst wird, wissen von dem Lehrling des Schneewittchenmörders. Du musst ihr Vertrauen zurückgewinnen. Du musst sie wissen lassen, dass du die Kontrolle hast, dass die alte Taylor Jackson wieder im Geschäft ist. Deine Aufklärungsrate liegt immer noch weit über der jedes anderen Cops in der Stadt – was sage ich, im ganzen Land. Dies ist die perfekte Gelegenheit für dich, die Leute wieder auf deine Seite zu ziehen.“ Er atmete tief durch und fügte dann schnell hinzu: „Und wir können eine Kamera hinter dir aufstellen, die Menge filmen und gucken, ob uns was auffällt.“
„Ah, das ist also der Plan. Bestechung durch die Gegenschüsse. Du appellierst an mein Bedürfnis, den Irren zu finden, der das hier getan hat.“ Sie lächelte bei ihren Worten, und Dan erwiderte das Lächeln.
„Ich glaube wirklich, dass es gut für dich ist. Es setzt dem Klatsch ein Ende.“
Taylor atmete laut aus und dachte ein paar Minuten darüber nach. Dan hatte recht, sie musste das Vertrauen der Bewohner von Nashville zurückgewinnen. Marken und Ehrungen waren schön und gut, aber auf lange Sicht zählte nur der Erfolg, die Lösung eines Falles. Die Bewohner der Stadt waren zwar schnell bereit, zu vergeben, aber die Eskapaden des letzten Jahres hatten Taylors makellosen Ruf befleckt und damit auch den der Metro. Sie mussten erfahren, dass sie zu einhundert Prozent zurück war, zuverlässig und in der Lage, diesen Fall zu lösen. Denn acht tote Teenager an einem Abend würden Nashville schwerer erschüttern als jeder andere Fall, mit dem sie es bisher zu tun gehabt hatte.
Zu schade, dass Baldwin die Stadt hatte verlassen müssen. Sie hatte schon bei anderen Fällen mit seinem Team zusammengearbeitet und wusste, dass der Chief trotz ihrer Differenzen in der Vergangenheit froh war, bei einem Kapitalverbrechen die Unterstützung des FBI zu haben. Er meinte, es erzeuge Vertrauen in der Bevölkerung. Egal was passiert war, wenn die Menschen die drei magischen Buchstaben F-B-I hörten, fühlten sie sich sofort sicherer. Nun ja, zumindest die meisten Menschen.
Sie hörte die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf. In der Not frisst der Teufel Fliegen. Wie wahr.
Sie ging in Gedanken noch einmal alles kurz durch. Sie konnten die zusätzlichen Aufnahmen gebrauchen, denn sie hatte das dumpfe Gefühl, dass der Mörder zuschaute, den Aufruhr genoss, den er verursacht hatte.
„Okay. Ich mach’s. Wann?“
„Wir gehen in fünfzehn Minuten live auf Sendung.“ Sie hielt ihn am Arm zurück. „Hey, Dan? Danke.“ Er nickte nur und ging.
Sie eilte ins Haus und fand Lincoln, der sich auf seinem Netbook Notizen machte.
„Hey“, sagte sie.
„Selber hey“, erwiderte er. „Ich habe gerade mit McKenzie gesprochen. Er hat die Party beendet und das Haus erst einmal abgeriegelt. Er meint, die Eltern stünden mit Schaum vor dem Mund vor der Tür, um ihre Kinder mit nach Hause zu nehmen. Wenn du hier fertig bist, sollst du bitte zu ihm rüberkommen und mit den Kids reden.“
„Hast du dich um die Videobänder gekümmert?“
„Ja. Ich fahre gleich ins CJC zurück, lade alles hoch, was wir haben, und fange an, mich auf die Suche nach etwas Verdächtigem zu machen.“ „Gut. Dan will, dass ich die Pressekonferenz gebe, also warte so lange und nimm die Aufnahmen auch gleich mit. Habt ihr diesen hübschen kleinen Plan zusammen ausgeheckt?“
„Nein. Es war seine Idee. Aber er hat gefragt, ob du ihn auf der Stelle erschießen würdest, wenn er ihn dir vorschlägt. Ich hab ihm gesagt, dass du so schießfreudig nun auch wieder nicht bist.“
Sie schaute ihn aus zusammengekniffenen Augen an und er schenkte ihr ein kleines Lächeln.
„Ich muss mich vorbereiten. Haben wir schon alle Eltern aller Opfer informiert?“
„Alle außer von einem. Hier sind deine Informationen.“ Lincoln reichte ihr ein paar Blätter. Es war kaum zu glauben, dass seit ihrem Eintreffen am ersten Tatort erst vier Stunden vergangen waren. Es fühlte sich eher wie vier Tage an.
„Hast du Bilder von den anderen Tatorten?“
Er reichte ihr einige Polaroids und sein Notizbuch, in dem er jeden Tatort akkurat nachgezeichnet hatte.
„Das ist perfekt, danke. Oh, und noch was, das du im Hinterkopf behalten kannst – der Tatort, von dem ich gerade komme, der von Brandon Scott. Du wirst sehen, das Level an Gewalt war dort zehnmal höher als bei allen anderen Opfern. Ich denke, er könnte das eigentliche Opfer gewesen sein und die anderen dienten nur dazu, die Spuren des Mörders zu verwischen. Du musst über diesen Jungen so viel wie möglich herausfinden, und zwar möglichst schnell. Er könnte die beste Verbindung zu unserem Mörder sein, die wir haben.“
„Wirklich? Dann ist der Verdächtige vielleicht noch in der Nähe.“ „Ja, das Gefühl habe ich auch. Das wirkt alles so verdammt … inszeniert.“
„Ja, stimmt. Und koordiniert. Niemand, mit dem wir gesprochen haben, hat etwas Ungewöhnliches gesehen. Keine dunklen Gestalten, die in den Gärten herumschleichen. Nichts. Der Mörder passt in diese Nachbarschaft.“
Taylor blätterte durch Lincolns Notizen. Er war so gewissenhaft, dass sie das Gefühl hatte, die letzten vier Stunden noch einmal zu erleben.
„Was unseren Verdächtigen angeht, wage ich die Vermutung, dass wir es mit jemandem zu tun haben, der weiß ist, männlich und zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Jahre alt.“
„Fünfzehn … glaubst du wirklich, ein Kind könnte für dieses Maß an Zerstörung verantwortlich sein?“
„Möglich ist alles. Die Viktimologie ist der erste Hinweis – das weißt du. Aber ich würde nicht empfehlen, das laut zu sagen. Ich denke, wir müssen uns unter den Lehrern und Angestellten der Schule umhören, ob es irgendwelche Drohungen gegeben hat.“
„Ich werde alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.“
„Okay.“ Sie nahm Lincolns Notizen und ging in die Küche der Kings, um ihre Gedanken zu sammeln. In ihrem Kopf tanzten die verschiedenen Möglichkeiten durcheinander.
War Brandon Scott wirklich das eigentliche Opfer und die anderen Morde nur Kollateralschäden? Das war ein grauenhafter Gedanke, den sie dennoch nicht außer Acht lassen durfte. Es war durchaus möglich, dass das hier nicht das Werk eines Erwachsenen war. Sie wusste, sie hatten es mit einem Monster zu tun, aber wenn das Monster sich selber noch als Kind herausstellte, hatten sie ein noch größeres Problem.