Nashville
23:40 Uhr
Taylor war nur eine Meile von ihrem Zuhause entfernt, aber an den heimischen Herd würde sie noch ein paar Stunden nicht zurückkehren können. McKenzie saß neben ihr und gähnte lang und ausführlich.
„Wohin fahren wir?“, fragte er.
„Ich dachte, wir könnten es im Subversion versuchen. Oder hast du sonst eine Idee, wohin er gegangen sein könnte?“
„Weiß er, dass Juri Edvin im Krankenhaus liegt?“
„Ich weiß nicht.“ Sie rief Marcus an. Er ging beim ersten Klingeln ran. Sie erklärte ihm die Situation mit Ariadne und Schuyler Merritt und bat ihn dann, ins Vanderbilt hinüberzugehen. Juri Edvin musste bewacht werden. Wenn Schuyler sich entschloss, bei seinem Freund vorbeizuschauen, würden sie ihn erwarten. Marcus erzählte ihr, dass der Fahndungsaufruf nach Schuyler Merritts Wagen raus war – ein silberner Hyundai Elantra von 2000. Gut, dann hielten wenigstens alle Einheiten nach ihm Ausschau.
Sie flog die Interstate 40 entlang. Um diese Uhrzeit bestand der einzige Verkehr aus Schwertransportern und Lastwagen, dazwischen ein paar Betrunkene auf dem Heimweg von der Bar. Autos und Trucks machten ihr Platz, überließen ihr die linke Spur. Sie fuhr schnell, über neunzig Meilen. Wie eine Flucht vor Ariadne.
„Verdammt, was hat die Frau sich dabei gedacht, sich allein auf die Suche zu machen?“
McKenzie schüttelte den Kopf. „Sie dachte, sie könnte es mit ihm aufnehmen.“
„Ja, genau. Der Junge hat bereits sieben Morde auf dem Kerbholz, dazu seine Eltern und Gott weiß wen noch. Sicher kann sie es mit ihm aufnehmen, eine einzelne Frau, allein im Dunkeln, ohne jegliche Unterstützung. Ich wünschte wirklich, die Leute wären nicht so dumm.“
„Sie hat gedacht, er wäre einer von ihnen. Sie ist sehr mächtig. Ich wette, sie dachte, er würde sich ihrer Autorität beugen. Sie war fehlgeleitet, ja, aber du siehst doch auch, dass sie nur helfen wollte.“
„Ich sehe vor allem, dass sie dabei beinahe getötet worden wäre. Sie ist vergewaltigt worden, McKenzie. Du weißt, welche Auswirkungen das auf eine Frau hat. Sie wird nie wieder ruhig schlafen.“
„Sie nicht oder du nicht?“ Er sagte es freundlich, aber sie sprang trotzdem darauf an.
„Das ist nicht meine Schuld“, sagte sie. Gerade fuhren sie am Hustler Store in der Church Street vorbei. Taylor fuhr weiter bis zum Broadway und bog dann links ab. Sie wollte zum Lower Broadway und sich dort die Gesichter auf der Straße anschauen, sehen, ob sie den Nachwuchsvampir in der Masse entdeckte.
„Natürlich nicht. Das heißt aber nicht, dass du dir nicht die Schuld daran gibst. Du hättest das aber nicht verhindern können.“ „Ich hätte früher darauf kommen können, wer Schuyler Merritt ist. Wenn ich von Anfang an auf Ariadne gehört hätte …“ Ihre Stimme verebbte. Instinktiv wusste sie, dass das nicht stimmte. Mein Gott, der Fall war erst achtundvierzig Stunden alt und sie waren dem letzten Verdächtigen dicht auf den Fersen. Das war verdammt gute Arbeit von ihrem Team und das wusste sie. Trotzdem fühlte es sich wie ein Fehlschlag an. Sie würde das Bild von Ariadnes blutbeschmierten Schenkeln für immer mit sich herumtragen.
Sie fuhren zwei Stunden lang herum, machten einen Abstecher zum Subversion, das nur einmal im Monat die Pforten öffnete, nicht jeden Abend, wie sie gedacht hatte. Das war also eine Sackgasse. Um zwei Uhr morgens drehte sie an der Second und Lindsley um, fuhr noch ein letztes Mal die Straße entlang und schaute sich alle Autos und Gesichter genau an. Als sie wieder am Hooters vorbeikamen, sagte sie: „Ich geb’s auf. Hier ist er nicht.“
„Lass uns für heute Schluss machen. Wir brauchen ein wenig Schlaf. Jede Streife auf Nachtschicht hält nach ihm Ausschau.“ „Macht es dir was aus, noch kurz am Krankenhaus anzuhalten, bevor ich dich nach Hause bringe?“
„Natürlich nicht.“
Sie fuhr über die Church Street rechts auf die Baptist und bog auf den Parkplatz vor der Notaufnahme ein. Sie stellte das Fahrzeug in einer Ecke ab und gemeinsam gingen sie hinein.
An der Rezeption zeigte Taylor ihre Marke und sagte, dass sie sich nach einem Vergewaltigungsopfer erkundigen wollten. Ariadne war eine Statistik geworden, für immer gezeichnet. Taylor erkannte erst, als die Worte raus waren, was sie getan hatte – verdammte Gewohnheiten. Deshalb brachte man ihnen bei, sich von den Opfern zu distanzieren, damit dieses brennende Gefühl der Schuld nicht überhandnahm. Wenn sie das nicht täte, würde sie nie mehr essen, schlafen, Ruhe finden. Aber Ariadne fühlte sich wie eine Freundin an, und sie als Nummer zu behandeln, schmerzte.
Die Schwester zeigte ihnen den Weg zum Untersuchungszimmer – wenigstens hatte man ihr etwas Privatsphäre gegönnt und nicht in einem der nur durch Vorhänge voneinander getrennten Betten untersucht. Durch den Dschungel aus Piepen und Rufen hörte Taylor kleine Schmerzlaute durch die Notaufnahme sausen. Irgendjemand übergab sich, ein Kind weinte, eine Frau stöhnte unter den ersten Wehen. Elend in höchstem Maße, so fühlte sich die Notaufnahme für sie an.
Sie klopften an die Tür von Ariadnes Zimmer und traten ein, ohne auf eine Antwort zu warten.
Die Hexe lag im Bett, das weißblaue Krankenhaushemd war am Hals zugebunden. Verschiedene Prellungen zeichneten ihr Gesicht, die Wunde an der Stirn war mit mehreren Stichen genäht worden, die sich schwarz von der violetten Schwellung abhoben. Ihre Augen waren geschlossen, aber Taylor hörte den flachen Atem – sie schlief nicht. Taylor trat ans Bett und unterdrückte den Drang, ihren Arm auszustrecken und Ariadnes Hand zu nehmen.
„Es tut mir leid“, sagte sie nur leise.
Ariadne öffnete die Augen. Der himmelblaue Blick war unendlich traurig. „Mir auch“, sagte sie. Ihr Kiefer war geschwollen und beinahe schwarz verfärbt. An dem Lichtkasten neben dem Bett hing ein Röntgenbild, auf dem der Haarriss im Unterkiefer deutlich zu sehen war.
„Sie werden mir den Kiefer für ein paar Wochen verdrahten“, nuschelte sie.
„Nicht sprechen“, sagte Taylor. „Ich will nicht, dass Sie noch mehr Schmerzen erleiden müssen.“
Ariadne verdrehte die Augen. „Hey, vielleicht nehme ich ein paar Pfund ab. Das wäre gar nicht so schlecht.“
Taylor versuchte sich an einem Lächeln. Wenn sie Witze machen konnte, war ihr Lebensmut nicht gebrochen. Ihr fiel eine Last von den Schultern. Sie trat näher ans Bett.
„Ich werde ihn finden“, schwor sie.
„Ich weiß. Er wird bestraft werden. Genau wie Sie, wenn Sie nicht aufpassen. Seien Sie vorsichtig, Lieutenant.“ Ariadne war erschöpft. Sie schloss die Augen. Taylor war sicher, dass sie ihr ein starkes Beruhigungsmittel gegeben hatten, um sowohl den körperlichen als auch den seelischen Schmerz zu lindern.
Sie tätschelte ihr unbeholfen die Hand und verließ dann das Zimmer. McKenzie blieb noch ein paar Minuten, bevor er sich wieder zu ihr gesellte.
„Was hat sie gesagt?“, fragte Taylor.
„Nichts. Sie schläft. Ich wollte nur …“
Er brach ab, und Taylor nickte. Sie wusste, was er getan hatte. Das Gleiche wie sie: stumm um Vergebung gebeten.
„Komm, fahren wir heim.“
Sie hatte sich noch nie so ausgelaugt gefühlt wir in diesem Moment, in dem sie in ihre Garage fuhr. Die Außenbeleuchtung des Hauses brannte dank der Zeitschaltuhren und hieß sie fröhlich willkommen. Die Trauer in ihrem Magen galt nicht nur Ariadne, sondern allen Opfern – den Kindern, die gestorben waren, Brittany Carson und ihrer Entscheidung, im Tod Leben zu spenden, dem Jungen, Brandon Scott, von seiner Liebe betrogen. Nashville würde nach diesem Halloweenwochenende nie wieder das Gleiche sein, wäre für immer gebrandmarkt durch die verdrehten Sehnsüchte eines Teenagers. Man würde sich für immer an das Green-Hills-Massaker erinnern. Ariadne hatte recht: Solange es lebende Menschen gab, die der Toten gedachten, würden sie immer weiterleben.
Würde sie auch über Fitz so denken können, wenn man ihn niemals finden sollte? Wäre eine Erinnerung an den Mann ausreichend?
Wenn sie jetzt zusammenbrach, würde es vielleicht kein Zurück mehr geben. Sie entschied sich, stark zu bleiben, nahm sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und ging hinauf in das Extrazimmer. Ihr geliebter Billardtisch stand schweigend im Raum und wartete auf sie.
Sie nahm die Hülle ab, trank das Bier aus, nahm sich eine weitere Flasche aus dem kleinen Kühlschrank, den sie für genau diesen Zweck hier oben installiert hatte.
Anpeilen, stoßen. Anpeilen, stoßen. Der Rhythmus beruhigte sie. Sie räumte den Tisch in fünf Minuten leer, spielte 8-Ball gegen sich selbst und baute die Kugeln dann für eine Runde mit neun Bällen auf. Als sie die Sieben versenkte, glimmte in ihrem Hinterkopf ein Gedanke auf. Bei der gelb und weiß gestreiften Neun spürte sie, wie Frieden sich in ihr ausbreitete. Vielleicht war es das Bier, vielleicht das Spiel, vielleicht das Wissen, dass egal, was passierte, Baldwin zu ihr zurückkommen und sie zusammen sein würden. Sie vergab sich selbst und ging ins Bett.
Das Telefon klingelte. Taylor hörte es und ein Teil ihres Gehirns erkannte das Geräusch. Sie war so müde und der Schlaf gab sein Bestes, um sie wieder in seine dunklen Arme zurückzuziehen. Sie blinzelte zur Uhr. 6:40 Uhr. Verdammt.
Sie nahm den Hörer ab und zwang sich, wach zu klingen.
„Lieutenant? Commander Huston hier. Sie müssen sich sofort bei der Hillsboro High School melden. Die Schüler werden bedroht. Wir haben alles abgeriegelt. Sieht aus, als wenn Ihr Verdächtiger dort mit einer Waffe herumfuchtelt. Er hat eine Klasse als Geiseln genommen, und mir ist berichtet worden, dass ein Sicherheitsbeamter überwältigt wurde. Ich weiß allerdings keine Einzelheiten. Sie werden dort so schnell wie möglich gebraucht. Und Lieutenant? Seien Sie vorsichtig. Es klingt, als hätte dieser Junge nichts mehr zu verlieren.
Taylor war bereits aus dem Bett gesprungen. „Ich bin auf dem Weg“, sagte sie atemlos und legte auf.