27. KAPITEL

Nashville
19:00 Uhr

Der Krankenhausflur war für Taylors übermüdete Augen zu grell erleuchtet und zu weiß. Sie war auf dem Weg zu Brittany Carsons Zimmer, danach wollte sie sich mit Juri Edvin zusammensetzen. Seine Operation war gut verlaufen und er war schon aus dem Aufwachraum in sein Zimmer gebracht worden. Also stand einem Gespräch mit ihm nichts mehr im Wege. Sie würde dieses Krankenhaus erst verlassen, wenn sie ein paar Antworten hatte, egal, wie lange es dauerte.

Im Vanderbilt University Medical Center war immer viel los. Leute aller Altersstufen und von verschiedensten Krankheiten geplagt bevölkerten die Gänge. Sie war schon oft hier gewesen – in der Psychitrie, um Verdächtige zu verhören, die zu gewalttätig oder zu verrückt waren, um ins normale Gefängnis gebracht zu werden; in der Notaufnahme, um sich um schwer verletzte Opfer zu kümmern. Einmal war sie sogar direkt vom Tatort aus mit dem Rettungshubschrauber eingeflogen; ein verzweifelter und hektischer Abend, der trotz aller Bemühungen in einer Katastrophe geendet hatte. Es roch überall gleich – bitter und ätzend, überlagert von dem kränklich süßen Geruch vorzeitiger Verwesung, der von den schlimmsten Fällen ausstrahlte. Sie hasste Krankenhäuser.

Auf der Intensivstation nahm man es mit den Besuchszeiten sehr ernst, aber ihre Marke ermöglichte ihr jederzeitigen Zutritt. Die leitende Krankenschwester schüttelte nur den Kopf und erklärte eilig, dass es dem Mädchen nicht gut gehe, bevor sie sich wieder um die Vielzahl an Patienten kümmerte, denen noch geholfen werden konnte.

Taylor atmete tief durch und trat durch die Tür. Sie wollte wenigstens die Chance, irgendetwas zu tun. Zum Beispiel sich von einem Mädchen zu verabschieden, das sie gar nicht gekannt hatte. Vor Brittany Carsons Zimmer blieb sie stehen. Eine Wache saß keinen Meter entfernt von der Tür. Sie zeigte auf die Marke an ihrem Gürtel; er nickte und wandte sich wieder seiner Sports Illustrated zu.

Sie schaute durch die Glaswand zu dem Mädchen, das zwischen den Maschinen, die es am Leben hielten, winzig klein aussah. Schläuche krochen in ihren Mund, die Beatmungsmaschine zischte mit jedem Hub, nicht ahnend, dass ihre Arbeit völlig umsonst war. Sie pumpte zuverlässig weiter und weiter Sauerstoff in die Lungen und das tote, graue Fleisch des Mädchens.

Eine abgekämpfte Stimme erklang an Taylors Ohr. „Sie ist hirntot.“

Taylor drehte sich um. Brittany Carsons Mutter Elissa trug immer noch ihre rote Bluse. Verdächtige dunkle Streifen zogen sich über ihre Brust und Schultern. Ihr gesträhntes Haar war von der Sorge ganz zerzaust und klebte platt an ihrem Kopf. Ihre Augen waren trocken. Später bliebe noch Zeit genug zum Weinen.

„Es tut mir leid“, sagte Taylor.

„Mir auch. Sie ist ein fröhliches Mädchen, das Licht meines Lebens. Seitdem ihr Vater uns verlassen hat, hieß es: Wir zwei gegen den Rest der Welt. Wir haben uns mal darüber unterhalten. Sie hat eine Geschichte über ein kleines Mädchen gelesen, das ein Spenderherz von einem Unfallopfer erhalten hat. Brittany hat sofort erklärt, dass sie auch Organspenderin sein möchte.“ Sie schaute ins Zimmer, wischte sich mit dem Finger über die Augen und schenkte Taylor ein bittersüßes Lächeln. „Ich habe gerade das Formular für die Organspende unterschrieben. Wenn ich sie schon verlieren muss, können durch ihr Opfer wenigstens ein paar andere weiterleben. Gottes Wege sind unergründlich, wie man so sagt.“

„Ja, Ma’am, das sind sie.“

Taylor sah, wie sie mit ihrer Hand über das Glas strich und das Gesicht ihrer Tochter liebkoste.

„Ich werde sie so sehr vermissen.“

Taylor musste die Tränen zurückdrängen, die ihr unerwartet in die Augen stiegen. Das Grauen dessen, was Elissa Carson durchlitt, die Stärke, die sie dabei zeigte, beschämte Taylor zutiefst. Sie bezweifelte, dass sie so versöhnlich reagieren würde, wenn ihre Tochter an einer Beatmungsmaschine hinge, ihr Herz schwach und langsam schlagend, die Gliedmaßen wie abgebrochene Zweige unter dem weißen Laken und alles nur aus einer Laune des Bösen heraus.

„Wann?“, fragte sie, weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte.

„Ich werde es innerhalb der nächsten Stunde erfahren. Sie informieren gerade die verschiedenen Transplantationsteams. Sie müssen Brittany so lange in diesem Zustand halten, bis sie mit der Organextraktion anfangen können. Dann werden wir die Maschinen abstellen und sie gehen lassen.“

Guter Gott. Taylor ertrug das nicht. Sie musste diesen Mörder finden, musste Brittany Carson Gerechtigkeit widerfahren lassen. Mehr konnte sie nicht tun. Sie drehte sich um und umarmte die Frau, weil sie ihrer eigenen Stimme nicht traute. Elissa Carson drückte sie fest um die Taille, ein stummer Schluchzer schüttelte sie, dann trat sie zurück, die Hand vor den Mund gepresst.

„Finden Sie ihn“, befahl sie und floh den Flur hinunter.

Taylor schaute noch einmal zu dem sterbenden Mädchen, das im gleißenden Krankenhauslicht so wächsern aussah.

„Das werde ich“, versprach sie flüsternd.

Juri Edvin lag auf der chirurgischen Station. Auf dem Weg zu seinem Zimmer bekämpfte Taylor die Wut, die jeden ihrer Schritte antrieb. Sie versuchte, ihren Ärger beiseitezuschieben – immerhin hatte sie keine Beweise. Aber die brauchte sie. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass Edvin bei Brittanys zu frühem Ableben eine Rolle gespielt hat, und sie wollte verdammt sein, wenn sie ihn damit davonkommen lassen würde. Ob er Brittany die Drogen gegeben, das Pentakel in ihren Bauch geritzt oder einfach nur dabei gestanden und von draußen zugeschaut hatte, wie sie um Atem rang, er war bei ihrem Kampf dabei gewesen. Das wusste Taylor einfach. Sie wollte seinen kleinen Arsch festnageln.

Ein junger Arzt, braunhaarig und offensichtlich müde, kam gerade aus Edvins Zimmer. Das Stethoskop hing wie eine Stola um seine Schultern, in einer Hand hielt er eine Krankenakte, in der anderen einen Pieper. Sein Namensschild wies ihn als S. Pearson aus.

Er achtete nicht darauf, wohin er ging, und stieß mit Taylor zusammen. Sie packte seinen Arm, damit der Arzt nicht stolperte. „Doktor, sorry, Lieutenant Jackson von der Metro-Mordkommission.“

Der Arzt warf ihr einen beiläufigen Blick zu. „Er kann nicht mit Ihnen sprechen. Er hat eine sehr ernste Operation hinter sich und steht noch unter Betäubungsmitteln.“ Er wollte weitergehen, aber sie hielt ihn fest.

„Ist er wach, Doktor? Denn das Mädchen, das er vielleicht getötet hat, wird oben gerade von den Transplantationsteams vorbereitet. Ich würde gerne wenigstens einen Versuch wagen, mit ihm zu sprechen. Denn ich möchte Gerechtigkeit für Brittany Carson und für sieben weitere Jugendliche.“

Pearson blieb stehen und schaute ihr in die Augen. „Ich habe gehört, dass es ihr nicht gut geht. Die Entscheidung ist also gefallen?“ „Ja. Ich habe gerade eben mit ihrer Mutter gesprochen.“ „Ah. Nun, ich kann Ihnen, was Mr Edvin angeht, nichts versprechen. Er hatte ein Trauma und die Medikamente beeinträchtigen seine Denkfähigkeit. Aber versuchen Sie es ruhig, wenn Sie möchten. Leider muss ich Sie jetzt allein lassen, ich bin gerade in den Operationssaal gerufen worden. Und gehen Sie nicht zu hart mit ihm um – ich kann nicht gebrauchen, dass er einen Schock erleidet.“

Sie ließ ihn los und er eilte davon. Ein ganz seltsames Gefühl überkam sie – auf diesen hellen Korridoren flohen die Leute vor ihr, als wäre sie der Grund aller Qualen, die sich in diesem Gebäude abspielten. Sie schüttelte den Gedanken ab und gab der Wache vor Edvins Zimmer ein Zeichen.

„Haben Sie die Eltern gesehen?“

Er senkte genervt seine Zeitschrift – ihre Unterbrechung störte seine Entspannung. „Sie holen sich gerade einen Kaffee. Sie haben darum gebeten, dass jeder, der mit ihrem Sohn sprechen will, zuerst mit ihnen spricht. Ich schätze, da zählen Sie auch dazu.“

„Wo sind sie?“

Er zeigte den Flur hinunter. Links hinter dem Zimmer der Stationsschwestern befand sich eine Tür mit der Aufschrift Aufenthaltsraum. Sie dankte ihm, ging den Flur hinunter und betrat das Zimmer. Sie sah einen Fernseher, ein paar Sofas, verschiedene Stühle und Sessel und einen Tisch mit Kaffee und Tee und kleinen Erfrischungsbonbons. Zwei leere Bonbonpapiere lagen zerknüllt daneben.

Ein Mann und eine Frau standen ein paar Schritte voneinander entfernt und starrten auf den Fernseher. Er war auf Channel 50 eingestellt, die Kabelversion des örtlichen CBS-Ablegers. Taylor hörte weg, als ihr Name blechern aus den Lautsprechern kam.

„Mr und Mrs Edvin?“

Das Ehepaar drehte sich zu ihr um. Sie hatten beide kurze blonde Haare und eckige schwarze Brillen – sie sahen sich so ähnlich, dass Taylor sie eher für Bruder und Schwester als für ein Ehepaar hielt.

„Wir haben nichts zu sagen“, sagte der Mann und drehte sich wieder um. Er schlang einen Arm um seine Frau und zog sie an sich.

„Sir, ich bin keine Reporterin. Ich bin Lieutenant Taylor Jackson, Mordkommission. Ich muss mit Ihnen über Ihren Sohn sprechen.“

Die Frau zischte Taylor an. „Worüber? Ihre Leute haben doch dafür gesorgt, dass er jetzt hier ist. Er wäre beinahe gestorben; falls Sie wegen einer Entschuldigung hier sind, wüsste ich nicht, worüber wir reden sollten.“

„Nun, nun, meine Liebste. Juri sagte, er ist weggelaufen, deswegen haben sie ihn verfolgt. Ich entschuldige mich für meine Frau, Lieutenant. Der Vorfall hat sie sehr mitgenommen.“ Sein Englisch hatte einen Akzent; er betonte die Vokale auf breite, skandinavische Art.

„Das tut mir sehr leid. Juri ist weggelaufen und hat sich geweigert, stehen zu bleiben. Wir hatten keine andere Wahl, als ihn durch den Hund stellen zu lassen. Hat er Ihnen erzählt, warum wir ihn verfolgt haben?“

„Er sagt, Sie dachten, er wäre jemand anders“, sagte Mr Edvin.

„Das stimmt nicht ganz. Er hielt sich am Tatort eines Mordes auf. Er behauptet, auf seiner Halloweenrunde gewesen zu sein, aber er war Meilen von seinem Zuhause entfernt und unkostümiert.“ Sie musste vorsichtig sein. Die Edvins sahen aus, als würden sie langsam zutraulich werden. Sie wollte sie nicht verschrecken, indem sie alles preisgab und damit riskierte, dass die beiden wieder dichtmachten und sie nur in Anwesenheit eines Anwalts mit Juri würde sprechen können.

„Ich muss ihm ein paar Fragen stellen. Wenn er sich nichts zuschulden kommen lassen hat, sollte das keine große Sache sein und Sie erhalten eine vollständige Entschuldigung von mir und meinem Department.“

„Und wenn er etwas getan hat?“ Mrs Edvins Akzent war stärker als der ihres Mannes. „Werden Sie ihn dann einsperren?“ „Das kommt ganz drauf an, Ma’am. Warum machen wir uns darum nicht erst Gedanken, wenn es so weit ist? Ist Juri ein guter Junge? Macht er Ihnen irgendwelche Probleme?“

„Oh nein“, erwiderte sie schnell, aber ihre Augen waren überschattet. Das linke Auge war im äußeren Winkel ein wenig gelblich verfärbt – ein verblassender blauer Fleck. Taylor schaute Mr Edvin an. Er hatte die Stirn gerunzelt. Sie sah den Puls an seinem Kiefer pochen. Er sah aus wie ein Hase, der sich zur Flucht bereit machte; das Weiße in seinen Augen wurde sichtbar, als er die Entfernung schätzte, die er überwinden müsste, um in Sicherheit zu sein.

So war das also.

„Ich weiß, wie schwer das sein kann“, sagte Taylor. „Sich vor dem eigenen Sohn zu fürchten ist schrecklich. Würden Sie mir mehr darüber erzählen?“

Die Edvins schauten einander an und schienen ein wenig zu schrumpfen. Sie ließen sich auf die am nächsten stehende Couch fallen und atmeten schwer.

„Wir wissen einfach nicht, was wir noch mit ihm machen sollen“, weinte Mrs Edvin. „So war er noch nie. Er ist immer so ein süßer Junge gewesen. Wir sind in die USA gezogen, als er zehn war, und er veränderte sich. Er schleicht sich raus. Letztes Jahr finde ich Marihuana in seiner Sporttasche. Er kommt nachts nicht mehr nach Hause. Und jetzt trifft er sich mit so einer Göre, die mich finster anschaut, wenn sie zu uns kommt. Sie gehen in sein Zimmer und er versperrt die Tür. Als ich letzte Woche versucht habe, sie aufzuhalten, hat er mich geschlagen. Seitdem ist er nicht mehr zu Hause gewesen.“

„Haben Sie ihn als vermisst gemeldet?“

Sie schüttelten die Köpfe. „Es ist nicht das erste Mal“, sagte Mr Edvin. „Wir glaubten, es wäre eine gute Idee, nach Finnland zurückzuziehen, aber er hat einen solchen Aufstand gemacht, dass wir den Gedanken wieder verworfen haben. Er sagt, eher bringt er uns im Schlaf um, als dass er dorthin zurückkehrt. Wir schließen unsere Tür inzwischen nachts ab, weil wir Angst haben, er könnte uns wirklich töten. Wir wissen nicht, was mit unserem Jungen passiert ist.“

„Wissen Sie den Namen seiner Freundin?“

„Er nennt sie Ember. Wir kennen ihren ganzen Namen nicht. Sie bringt ihm Make-up und dann ziehen sie sich an wie Vogelscheuchen und laufen durch die Innenstadt. Wir haben genauso viel Kontrolle über ihn wie über den Wind.“

Das war die passendste Beschreibung eines verstörten jungen Mannes, die sie je gehört hatte.

„Erlauben Sie mir, ihn zu befragen?“ Technisch gesehen brauchte sie ihre Erlaubnis nicht, aber normalerweise riefen Eltern sofort nach einem Anwalt, sobald sie erkannten, dass ihr Kind in echten Schwierigkeiten steckte. Sie hielt den Atem an – sie dachte, sie wären auf ihrer Seite, aber da konnte man sich nie sicher sein. Die Edvins schauten einander an. Sie sah die stumme Unterhaltung, die sich in ihren Blicken abspielte. Endlich löste Mr Edvin sich von seiner Frau.

„Ja. Sie können mit ihm sprechen. Wir wären nur gerne dabei.“

„Okay. Aber ich muss Sie bitten, den Raum zu verlassen, sollte Juri in Ihrer Anwesenheit nicht mit mir sprechen wollen. Gehen wir.“

Sie führte sie zurück zum Zimmer ihres Sohnes. Die Wache stand auf, als er sie auf sich zukommen sah. Taylor bedeutete ihm, sich ihnen anzuschließen.

„Kommen Sie bitte als Zeuge mit hinein, ja?“

Schweigend wie ein Grab legte der Streifenpolizist sein Magazin beiseite. Taylor hatte schon ein oder zwei Mal mit ihm zu tun gehabt, ein Mann namens Rob, dem seine weiblichen Kollegen etwas suspekt waren, der aber effizient und verlässlich seinen Dienst versah. Er öffnete ihnen die Tür. Taylor ließ die Edvins zuerst eintreten.

Juri Edvin hatte die Augen geöffnet. Sie waren ein wenig glasig, aber er erkannte Taylor sofort. Da er ihr nicht entkommen konnte, zuckte er nur mit den Schultern und drehte seinen Kopf zum Fenster. Sollte er seine Eltern auch gesehen haben, so zeigte er es nicht.

„Juri, wir müssen uns unterhalten.“ Taylor zog einen Stuhl ans Bett. Sie war so verdammt müde, und die Vorstellung, sich hinzusetzen, war mehr als willkommen. Sie hoffte außerdem, dass es den Jungen zugänglicher machte. Über ihm aufzuragen würde ihn nur an ihre autoritäre Stellung erinnern. Wenn sie sich Auge in Auge gegenüber waren, würde er sich vielleicht ein wenig entspannen. Der Stuhl kratzte über den Linoleumboden, das Geräusch schickte Taylor einen Schauer über den Rücken.

„Dann reden Sie“, sagte Edvin, ohne sie anzuschauen. Er klang etwas benommen, aber wach genug.

„Du bist ein kleiner Klugscheißer, nicht? Okay, dann rede ich. Erzähl mir, warum sie dich Thorn nennen.“

Sie hatte ihn. Seine Augen wurden groß, das Weiße blitzte auf. Er fing an zu strampeln, erkannte dann, dass er keine Kraft hatte und auch nirgendwo hinfliehen konnte. Er ließ sich wieder auf das Kissen fallen.

„Also du bist der Dealer, hm? Ich habe alles über dich gehört. Warum hast du sie umgebracht, Juri?“

„Ich habe niemanden umgebracht.“ Heiße Tränen fingen an, ihm übers Gesicht zu laufen. „Ich habe keinen Grund, irgendjemanden zu töten. Mama. Papa. Helft mir.“

Juri hatte offensichtlich nie die Geschichte von dem Jungen gehört, der zu oft „Wolf“ gerufen hatte. Die Reaktion der Edvins beeindruckte Taylor – sie rührten sich nicht, der Vater straffte nur ein wenig seine Schultern.

„Du musst dem Lieutenant sagen, was sie wissen will, Juri. Wenn du etwas angestellt hast, musst du dafür geradestehen. Das haben wir immer versucht, dir beizubringen.“

„Ach, fickt euch, ihr Freaks.“

Mrs Edvin fing an zu weinen. Taylor konnte sich gerade noch zurückhalten, dem Jungen eine Ohrfeige zu verpassen. Sie drehte sich zu den Eltern um.

„Vielleicht wäre es besser, wenn wir jetzt erst einmal ohne Sie weitersprechen.“

Mr Edvin erwiderte ihren Blick leer und hoffnungslos. „Ja, vielleicht.“

„Ihr könnt mich nicht einfach mit der Polizei alleine lassen“, beschwerte Juri sich aufgebracht. „Was für Eltern seid ihr eigentlich? Ihr solltet mich lieben, doch stattdessen werft ihr mich den Wölfen zum Fraß vor? Danke für nichts.“

Taylor sprang vom Stuhl auf und packte Mr Edvins Arm, bevor dieser den Raum durchqueren und seinen Sohn schlagen konnte. Sie drängte ihn und seine Frau in Richtung Tür.

„Gehen Sie“, sagte sie. „Ich komme zu Ihnen, wenn ich hier fertig bin.“

Die beiden verließen das Zimmer, das Quietschen der Sohlen ihrer Schuhe war das einzige Geräusch, das Juris schniefendes Wimmern übertönte.

Taylor atmete tief durch und drehte sich wieder zum Bett um. Sie hörte ein Geräusch hinter sich und wandte den Kopf in die Richtung.

Die Tür zu Juris Zimmer ging auf. Ein kleines, blasses Mädchen mit großen, schwarz umrandeten Augen schlüpfte hinein und schloss die Tür sorgfältig hinter sich. Sie schaute noch einmal nach draußen, dann flüsterte sie: „Thorn, deine Eltern und die Wache sind weg. Wir können jetzt gehen.“

Sie drehte sich um, sah Taylor und stieß einen Schrei aus. Die Wache packte sie am Arm. Sie spuckte und knurrte und biss dem Polizisten in die Hand. Er schrie auf und ließ sie los. Das Mädchen nutzte die Gelegenheit zu fliehen. Sie riss die Tür auf und rannte den Flur hinunter in Richtung Treppenhaus.

Taylor rief dem Polizisten zu, er solle dort bleiben, und nahm die Verfolgung auf.

Das Mädchen war schnell, athletisch, etwas untersetzt, aber trainiert. Sie war eine gute Läuferin. Sie schaffte es bis zur Treppe und riss die Tür auf. Dann jedoch verrechnete sie sich. Anstatt weiterzulaufen, versuchte sie, die Tür hinter sich zuzuziehen. Taylor stürmte durch die Tür und warf das Mädchen zu Boden. Sie rappelte sich wieder auf und rannte die Treppe hinunter. Sie schaffte eine ganze Etage, bevor Taylor mit ihren längeren Beinen aufholen konnte. Taylor packte das Mädchen an den Haaren und zog es daran zu sich wie ein wildes Pferd. Sie atmete schwer und wehrte sich heftig. Taylor umfasste ihre Schulter, drehte das Mädchen herum und legte ihm Handschellen an.

„Schlampe“, schrie die Kleine.

„Ich freue mich auch, dich kennenzulernen. Wie heißt du?“ „Fick dich.“

Taylor war es langsam wirklich leid, sich von Kindern beleidigen zu lassen. Sie war so viel größer, dass es nicht viel Kraft bedurfte, um das Mädchen gegen die Wand zu drücken.

„Hör mal gut zu, du kleine Göre. Du zeigst mir etwas Respekt, oder ich werde deinen kleinen Arsch in den Knast verfrachten. Hast du das verstanden?“

„Sie können mich nicht verhaften. Ich bin noch minderjährig.“

Taylor lachte. „Das werden wir ja sehen.“

Sie zog das Mädchen am Arm mit sich die Treppen hinauf und auf die Station zurück. Während sie mit dem sich wehrenden Mädchen den Flur hinunterging, holte sie ihr Funkgerät heraus. „Zentrale, ich brauche Verstärkung. Vanderbilt, chirurgische Station. Ich muss eine Gefangene abtransportieren.“

„Das können Sie nicht machen. Ich habe gar nichts getan“, kreischte das Mädchen. „Ich will meine Eltern.“

„Oh, wir werden deine Eltern schon holen, Kleine. Obwohl du besser dran wärst, wenn du jetzt erst einmal mit mir sprichst. Nach allem, was ich bisher weiß, hast du nichts falsch gemacht, außer, dass du versucht hast, deinen Freund zu besuchen. Ich nehme doch an, dass Juri dein Freund ist?“

Sie waren jetzt beim Aufenthaltsraum angekommen und Taylor öffnete die Tür und schob das Mädchen hinein. Die Edvins waren nicht da. Gut. Sie führte das Mädchen zur Couch, wo es dank der auf dem Rücken gefesselten Arme ungelenk Platz nahm und sie wütend anstarrte. Die Kleine war nicht dumm – sie wusste, dass sie verloren hatte. Um zu fliehen, müsste sie erst an Taylor vorbei, aber mit den Handschellen … Sie ließ sich tiefer in die Couch sinken und schürzte die Lippen.

Taylor verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen die Tür.

„Ist Juri dein Freund?“ Schweigen.

„Antworte mir, verdammt noch mal. Ich bin nicht in der Stimmung für Spielchen.“

Das Mädchen war auf eine mürrische, verstörte Art hübsch. Sie hatte sehr volle Lippen und ihre Wangen und die Stirn waren von Sommersprossen gesprenkelt. Sie kämpfte gegen die Tränen an.

„Er heißt Thorn“, sagte sie schließlich etwas besänftigt. „Und ja, er ist mein Partner.“

„Siehst du, war doch gar nicht so schlimm, oder? Wo wolltet ihr beide hingehen?“

Ihre Stimme war jetzt stärker. „Irgendwohin. Nur weg von hier. Wir müssen fort. Hier ist es nicht sicher.“

„Nicht sicher?“

Die Augen des Mädchens blitzten auf, doch ihre Lippen blieben fest zusammengepresst. Okay. Taylor versuchte es noch einmal. „Was hat Juri mit den gestrigen Morden in Green Hills zu tun? Und welche Rolle spielst du in all dem? Wenn du irgendwie daran beteiligt warst, wirst du dafür genauso bezahlen, als hättest du selber die Drogen verabreicht oder das Messer geführt.“

„Ich hatte nichts damit zu tun. Gar nichts. Genau wie Thorn. Er war die ganze Nacht bei mir.“

„Ach, wirklich? Als ich ihn durch den Wald gejagt habe, war er aber nicht bei dir. Also probieren wir es noch einmal. Wo warst du gestern Abend?“

Ein spöttischer Blick. „Ich habe gepackt. Thorn war einkaufen.“

„Dann halten wir also fest, Juri ist Thorn. Gut. Du weißt, dass er gegen mehrere Gesetze verstoßen hat und wir ihn des Mordes an sieben Menschen verdächtigen?“

„Er. Hat. Nichts. Getan“, zischte sie. Taylor spürte eine leichte Wärme in ihrer Brust, als sie sah, dass die Lippen des Mädchens sich bewegten. Sie trat beiseite und unterbrach den Blickkontakt. Die Wärme ebbte ab. Einen kurzen Moment lang dachte Taylor an Ariadne und fragte sich, was die wohl davon halten würde. Obwohl die Frau nicht zurechnungsfähig war, fühlte Taylor sich in Ariadnes Nähe gut. Jetzt hingegen fühlte sie sich verärgert und ausgelaugt. Sie schob es auf die Erschöpfung und kehrte zu dem Mädchen zurück.

„Die Beweise sagen etwas anderes. Und was ist mit deinen Eltern? Würden die sich keine Sorgen machen, wenn du wegliefest?“

Sie warf den Kopf in den Nacken und keuchte auf, als ihre Schultern sich schmerzhaft zusammenzogen. Sie hatte die Handschellen vergessen. Mit Verachtung im Blick leckte sie sich über die Lippen. „Denen bin ich vollkommen egal.“

„Ich bin mir sicher, dass das nicht stimmt. Wie heißt du?“

Sie sagte nichts, also riet Taylor einfach drauf los. „Du bist Ember, richtig?“

Das Mädchen versteifte sich.

„Ember, wie heißt du wirklich?“

Sie setzte sich kerzengerade hin. „Der einzige Name, den ich habe, ist Ember. Und ich will jetzt nicht mehr mit Ihnen reden. Besorgen Sie mir einen Anwalt oder lassen Sie mich gehen.“

Seit wann kannten die Kids sich mit dem Gesetz so gut aus? Taylor seufzte, löste ihren Pferdeschwanz und massierte sich die Schläfen. Das Funkgerät erwachte knackend zum Leben – ihre Verstärkung war da. Eine Minute später kamen sie auch schon durch die Tür, Paula Simari und Bob Parks.

Parks nickte Taylor zu. „Was haben wir?“

„Hey. Das Mädchen hier sagt, sie heißt Ember, aber das ist nicht ihr richtiger Name. Sie hat gerade von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Lest ihr ihre Rechte vor, bringt sie aufs Revier, findet ihren echten Namen heraus und ruft ihre Eltern an. Tut, was immer nötig ist“, fügte sie mit hochgezogenen Augenbrauen hinzu. Kinder einzuschüchtern war zwar nicht ihr favorisierter Zeitvertreib, aber sie brauchte Antworten, und zwar sofort.

Simari ließ ihre Knöchel knacken, und Ember zuckte zusammen. Taylor fragte sich, warum das Mädchen so angespannt war. Sie halfen ihr auf die Füße. Im Rausgehen drehte sich das Mädchen noch einmal zu Taylor um. Ein wissendes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.

„Rufen Sie Miles Rose an. Er ist der Anwalt meines Vaters.“

Sie sah Taylor direkt in die Augen, aufsässig bis zum Schluss.

Taylor trat näher. „Miles Rose ist ein Strafverteidiger, noch dazu ein ziemlich schmieriger. Wozu braucht dein Vater einen Verteidiger?“ „Er hat ihn nach dem Mord an meinem Bruder angeheuert. Wir wissen, wie die Justiz in diesem Land funktioniert. Die Unschuldigen werden angeklagt und die Schuldigen freigelassen.“

„Dein Bruder?“, fragte Taylor verwirrt.

Ember schüttelte den Kopf. „Mein Gott, Sie sind echt dumm, oder? Sie haben bereits mit meinen Eltern gesprochen. Mein Bruder heißt Xander.“

„Xander Norwood?“ Endlich dämmerte ihr, wer Ember wirklich war. „Dann bist du Susan Norwood?“

Die Miene des Mädchens verschloss sich. „Mein Name ist Ember. Das ist alles, was Sie wissen müssen.“

Taylor kehrte zu Juri zurück. Vielleicht könnte sie diese neue Information irgendwie zu ihrem Vorteil nutzen.

Die Eltern waren wieder bei ihrem Sohn und versuchten, ihn zu überreden, der gute Junge zu sein, zu dem er hätte heranwachsen sollen. Er ging jedoch nicht darauf ein, sondern hielt lieber auch die andere Wange hin und ignorierte sie völlig.

Taylor tippte Mr Edvin auf die Schulter. „Darf ich?“, fragte sie.

Sein Gesicht war verhärmt, tiefe Furchen hatten sich in seine Stirn gegraben. „Nur zu gerne, Lieutenant. Ich denke, Helga und ich werden irgendwo eine Kleinigkeit zu Abend essen. Nehmen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen. Ich gehe davon aus, dass unser Sohn heute nicht mit uns nach Hause kommt?“

„Vermutlich nicht, Mr Edvin. Er wird bestimmt noch ein paar Tage im Krankenhaus bleiben müssen. So lange wird die Wache vor seiner Tür bleiben. Vielen Dank, dass Sie mit mir zusammenarbeiten. Ich weiß Ihre Hilfe wirklich zu schätzen. Wir kommen später bei Ihnen zu Hause vorbei, um uns weiter zu unterhalten. Hier ist meine Karte. Bitte rufen Sie mich jederzeit an, Tag oder Nacht, wenn Sie irgendwelche Fragen oder Sorgen haben.“

Taylor hielt ihnen die Tür des Krankenzimmers auf und bedeutete Rob, wieder hereinzukommen. Er folgte ihrer Aufforderung und lehnte sich im Zimmer gegen die Wand.

Die Tür fiel hinter den Edvins sanft ins Schloss. Taylor ließ sich Zeit, sich wieder erschöpft auf den Stuhl neben dem Bett sinken zu lassen. Sie legte die Stiefel auf den Rahmen und kreuzte die Beine an den Knöcheln.

„Also, Juri, jetzt sind es nur wir zwei. Wäre es dir lieber, wenn ich dich Thorn nenne?“

Ein kleiner zustimmender Laut erklang vom Bett.

„Thorn, woher bekommst du die Drogen? Wer ist dein Dealer?“

Er drehte sich zu ihr um. Er versuchte so sehr, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten, dass die Haut sich straff über seine Wangenknochen spannte und diese weiß hervorzutreten schienen. Sie sah die Tränenspuren, die sich bis zu seinem Kinn zogen. „Geht es Ember gut? Kann ich sie sehen?“

„Sie wird gerade ins Criminal Justice Center gebracht, wo wir sie befragen werden. Danach werden wir sehen. Wo wolltet ihr beide hin?“ „Weg.“

„Okay. Ich verstehe. Ihr wart zu Hause nicht glücklich und wolltet weglaufen. Aber ich muss wirklich wissen, woher du die Drogen hast.“

Er schwieg einen Moment und sagte dann: „Von einem Freund.“ „Der Name des Freundes, Thorn. Komm schon, Mann, lass mich dir helfen.“

Er schüttelte den Kopf. „Er würde mich umbringen. Er wird mich aufspüren und umbringen. Das weiß ich.“

„Okay, dann lass uns über Brittany Carson sprechen. Was hast du an ihrem Haus gemacht?“ Er setzte an zu sprechen, doch sie brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. „Nein, versuch es gar nicht erst. Im Moment wird deine DNA analysiert, und ich wette, sie passt zu den Samenflecken, die wir unterhalb des Erkerfensters an der Außenwand gefunden haben. Hast du da gestanden und masturbiert, während du Brittany beobachtet hast?“

Er nickte langsam mit feuerrotem Gesicht.

„Danke, dass du mir die Wahrheit sagst. Das ist schon mal ein Anfang. Hast du ihr welche von den Drogen gegeben?“

Er nickte erneut. Taylor spürte, wie der Atem ihren Körper verließ. Sie schaute zu Rob, der den Jungen interessiert musterte.

„Thorn, ich weiß, dass man dir bereits deine Rechte vorgelesen hat, aber ich werde es noch einmal tun, okay? Denn ich muss dich wegen Mordes verhaften.“

„Ich habe sie nicht umgebracht! Es war Embers Idee – sie hat sie gehasst. Wirklich gehasst. Ich habe nur mitgemacht, weil sie es so wollte.“ Er fing an, sich im Bett hin und her zu werfen und schaffte es dieses Mal, den Tropf loszureißen und seinen Herzüberwachungsmonitor abzustreifen. Die Maschine fing an zu piepen und Taylor wusste, dass sie hier fertig war. Zwei Krankenschwestern eilten ins Zimmer und schoben Taylor beiseite. Sie trat zurück und sah zu, wie die Sensoren wieder angebracht und die Infusion neu gelegt wurde.

Als sie endlich fertig waren, las sie ihm seine Rechte vor, ließ den kleinen Scheißkerl von Rob mit Handschellen ans Bett fesseln und ging langsam den Flur hinunter zu den Fahrstühlen. Sie schaute auf ihre Uhr – 19:00 Uhr. Die Organextraktion an Brittany Carson hatte bereits begonnen. Sie erstickte beinahe an der Trauer und drückte den Knopf fürs Erdgeschoss.

Einen hatte sie gefasst. Wieso nur hatte sie das Gefühl, dass das erst der Anfang war?