25. KAPITEL

Sie ließ McKenzie mit der Hexe zurück und ging zu ihrem Auto. Er würde aus ihr herauskriegen, was auch immer es war, das Ariadne zurückhielt.

Um ehrlich zu sein, in der Gegenwart dieser Frau fühlte sie sich unbehaglich. Gedankenleserin hin oder her, sie war definitiv zu scharfsinnig. Taylor hatte den Blick bemerkt, mit dem sie den Strauß weißer Rosen von Memphis angeschaut hatte, und sich gefragt, ob sie wohl die Dreistigkeit besäße, die Karte zu lesen, während Taylor sich im Flur mit ihrem Team beriet. Vermutlich. Alles Betrüger, diese Leute, die behaupteten, sich vom Übernatürlichen leiten zu lassen. Sie glaubte nicht, dass diese Frau eine Hexe war, aber sie glaubte, dass sie irgendwie mit der Sache zu tun hatte. Und da es öfter vorkam, dass Verdächtige sich in laufende Ermittlungen einschalteten, war Ariadnes Auftauchen hier definitiv suspekt.

Und was hatte es mit diesem gruseligen Barent auf sich? Er behauptete, ein Vampir zu sein und dass Taylor ihn wieder und wieder getötet hätte. Marcus hatte die entsprechenden Anträge für einen Durchsuchungsbefehl eingereicht, nun hieß es erst einmal abwarten und Tee trinken. Sie war im Moment nur von Verrückten umgeben.

Und von einem cleveren Mörder, der sie ihre eigenen Schwänze jagen und in den dunklen Schatten nach Antworten suchen ließ.

Beim Gedanken, noch einmal zum Haus der Kings zu fahren, überlief Taylor eine Gänsehaut, aber sie musste mit Letha sprechen, bevor sie weitermachen konnte. In der Auffahrt standen einige Autos – Kondolenzbesucher und Nachbarn mit warmem Essen in den Händen und unbändiger Neugierde in den Herzen. Die in den Südstaaten übliche Tradition der Totenwache hatte Taylor schon immer leichtes Unbehagen eingeflößt. Zu viele Leute schienen nur für Tragödien zu leben, waren von Tod und Krankheit umgeben. Sie waren die Ersten, die Fremde trösteten und Hilfe anboten, wenn die Familien der Opfer eigentlich nur die Schotten dicht machen und in aller Ruhe genesen wollten. Diese Szenerie spielte sich an diesem Nachmittag überall in Nashville ab.

Sie klopfte an die Tür und war überrascht, dass Letha öffnete. Ihr Gesicht war geschrubbt, das Haar sauber, der schwarze Lack von den Fingernägeln verschwunden. Ihre Augen waren klar.

„Letha, ich bin Lieutenant Jackson. Wir haben uns gestern kennengelernt. Das mit deinem Bruder tut mir sehr leid. Kann ich reinkommen?“

Letha warf einen Blick über ihre Schulter. „Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir uns hier draußen unterhalten? Drinnen ist es ziemlich voll.“

„Sicher, kein Problem.“

Das Mädchen kam heraus und zog die Tür leise hinter sich ins Schloss, so als wollte sie nicht, dass irgendjemand auf sie aufmerksam würde. Taylor lehnte sich gegen die Brüstung der Veranda.

„Ich war heute Morgen in der Schule, und da ist dein Name gefallen. Du hängst mit den Goth-Kids ab?“

Letha beugte sich vor und hob einen Zweig auf, der auf die Treppe gefallen war. „Ich hänge nicht wirklich mit ihnen ab. Ich habe nur … ein wenig experimentiert.“

„Wer sind denn dann deine Freunde?“

„Ich bin mal hier, mal da. Ich habe keine feste Clique.“

„Theo Howell hat uns erzählt, dass du Jerry gestern gefunden und dann Theo und seine Schwester angerufen hast, damit sie dir helfen. Du musst doch mit den beiden befreundet sein, wenn du dich als Erstes an sie gewandt hast?“

„Theo und Jerry sind Freunde. Waren Freunde. Ich wusste nicht, wen ich sonst hätte anrufen sollen.“

„Vielleicht die Polizei?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich wollte nicht, dass Jerry Probleme bekommt.“

Taylor unterdrückte ein lautes Stöhnen. Teenagerlogik.

„Du hättest sofort den Notruf wählen müssen, als du ihn gefunden hast. Das weißt du doch, oder?“

„Ja, Ma’am. Tut mir leid.“

„Du musst dich nicht entschuldigen. Also gehörst du nicht zu der Clique der Beliebten.“

„Ich sagte es doch bereits. Ich gehöre zu keiner bestimmten Gruppe.“ Sie warf den Zweig auf den Rasen. Taylor sah die unterdrückte Wut in der angespannten Haltung des Mädchens.

„Was weißt du über Drogen an eurer Schule?“

Ihr Blick huschte zur Seite und sie murmelte: „Nichts.“

„Vi-Fri? Bist du sicher, dass du darüber auch nichts weißt?“

Jetzt war sie merklich erschüttert. „Woher wissen Sie davon?“, fragte sie.

Taylor schob ein gefallenes Blatt mit dem Stiefel beiseite. „Theo hat mir davon erzählt. Hat Jerry Drogen genommen?“

Sie nickte kaum merklich.

„Du auch?“

„Vielleicht ein wenig X hier und da, aber nichts Härteres. Nur an den Wochenenden. So wie Jerry. Wenn er guter Stimmung war, hat er mir immer was abgegeben. Bitte erzählen Sie es nicht meinen Eltern, die wären wirklich böse auf mich.“

„Nur wenn du mir sagst, von wem Jerry die Drogen gekauft hat.“

Das Mädchen ließ den Kopf sinken. „Er heißt Thorn. Er ist ein Freshman.“

„Wie heißt er wirklich?“

„Ich weiß es nicht. Irgendetwas Ausländisches. Ich erinnere mich nicht. Kann ich jetzt wieder reingehen? Meine Mom wird sich Sorgen machen, wo ich so lange bleibe.“

„Juri Edvin?“

Sie wirkte überrascht – sie kannte den Namen. „Vielleicht. Ich weiß es wirklich nicht.“

„Wie sieht Thorn aus?“

„Ich weiß nicht. Klein, so wie ich. Ein wenig kräftiger. Er gehört wirklich zur Goth-Clique.“

Taylor beobachtete das Mädchen. Sie kaute auf dem Daumennagel und war offensichtlich aufgebracht. Log sie? Oder sagte sie nur nicht die ganze Wahrheit? Taylor glaubte es nicht, aber es schadete nie zu fragen.

„Letha, dein Bruder und Brandon hatten letzte Woche einen heftigen Streit. Weißt du, worum es dabei ging?“

„Nein.“ Die Antwort kam zu schnell. Sie presste die Lippen aufei nander, was Taylor vermuten ließ, dass die Antwort eigentlich ja lautete. „Letha. Ging es um Drogen? Haben sie sich wegen Juri Edvin gestritten? Wegen Thorn?“

„Ich weiß es wirklich nicht“, sagte sie.

„Fällt dir noch etwas ein, das uns helfen könnte, den Mörder deines Bruders zu fassen?“

Sie schüttelte nur stumm den Kopf.

„Das habe ich mir gedacht.“ Taylor gab dem Mädchen ihre Karte.

„Wenn dir noch irgendetwas einfällt, ruf mich bitte an.“ Sie wandte sich zum Gehen.

„Ma’am?“

Sie schaute sich zu dem Mädchen um. „Ja?“

„Stimmt es, das mit Brandon? Also, dass er … verstümmelt wurde?“ „Wo hast du das gehört?“

„Äh … ich habe das Video im Internet gesehen. War das echt?“

Taylor rang mit sich. Brandon war ein gut aussehender Junge gewesen. Sie bemerkte, dass Letha wirklich besorgt war. Das war die Verbindung.

„Es könnte sein. Letha, kennst du Brandon?“

Die Augen des Mädchens füllten sich mit Tränen, die mühsam errichtete Mauer bröckelte. „Wir sind … waren zusammen, haben aber vor einer Weile Schluss gemacht. Er hatte … hatte eine andere. Jerry war so wütend auf ihn, weil er mir so wehgetan hat. Ich bin mir sicher, dass es in ihrem Streit darum ging. Sie haben sich in letzter Zeit oft gestritten.“ Sie klang viel zu verbittert für ihre vierzehn Jahre.

„Das tut mir leid“, sagte Taylor.

Letha nickte nur und schlüpfte dann leise durch die Tür ins Haus und zog sie fest hinter sich ins Schloss.

Das war’s. Das Mädchen wusste nicht mehr. Taylor spürte, dass sie zumindest im Großen und Ganzen die Wahrheit gesagt hatte. Es war an der Zeit, die schweren Geschütze aufzufahren.