Nashville
3. November
7:10 Uhr
Der Verkehr war vollkommen zum Erliegen gekommen. Taylor klemmte das Blaulicht aufs Dach des Lumina – sie hatte ihn über Nacht behalten, weil sie wusste, wenn sich am Morgen irgendetwas ergeben würde, hätte sie nicht die Zeit, erst zum Hauptquartier zurückzufahren, um ihren Privatwagen gegen einen offiziellen auszutauschen. Und da sie nun wieder den Rang eines Lieutenants einnahm, durfte sie das auch. Es gab nicht genügend Fahrzeuge für alle Zivilbeamten, also wurden sie geteilt. In ihrer Vorstellung gehörte es zu einem guten Chef, seine eigene Bequemlichkeit niemals über die ihres Teams zu stellen. Ihre Mitarbeiter wussten das zu schätzen, und so fühlte sie sich auch nicht schuldig, wenn sie es doch einmal tat, so wie heute.
Die Hillsboro High School lag vor ihr auf der rechten Seite. Sie fuhr vorsichtig auf den Straßenrand an einem schwarzen BMW 6er Coupé vorbei, ohne sich die Zeit zu nehmen, das Auto mit einem neidischen Blick zu würdigen, und bog auf den Parkplatz der Schule ein.
Es sah aus wie im Kriegsgebiet.
Alle diensthabenden Streifenbeamten waren anwesend, dazu die schnelle Eingreiftruppe. Mist. Das SWAT-Team war nie ein gutes Zeichen. Der Verhandlungsführer bei Geiselnahmen, Joe Keller, stand neben dem mobilen Kommandostand. Er trug Anzug und Krawatte, die grauen Haare waren militärisch kurz geschnitten und zeugten von einer gewissen Autorität. Er sah angemessen betroffen, aber auch aufgeregt aus. Niemand war besonders scharf auf Geiselnahmen, aber sie trieben einem definitiv den Blutdruck in die Höhe.
Taylor ging direkt zu Keller. Zum Glück war er es. Sie waren zusammen auf der Academy gewesen und kamen gut miteinander zurecht.
„Keller.“ Sie stellte sich rechts neben ihn. Er starrte die Schule an, als würde jeden Moment eine Bombe hochgehen. „Da hast du ja ein ordentliches Team zusammengerufen.“
„Jackson.“ Er umarmte sie. „Verdammt gut, dich zu sehen. Ist schon eine Weile her. Ja, irgendein Dummkopf hat sich mit dreißig Kids, einem Lehrer und einem Assistenzlehrer in einem Klassenzimmer eingeschlossen. Sieht so aus, als wäre er letzte Nacht eingebrochen. Der Hausmeister hat ihn gefunden, ist dann aber überwältigt worden. Genau wie der Sicherheitsbeamte.“
„Was für Waffen hat er? Übrigens, ich glaube, ich weiß, wer er ist. Sein Name ist Schuyler Merritt, auch bekannt als Raven. Er steckt hinter den Morden von Freitagabend.“
„Er ist mit einer kleinkalibrigen Pistole bewaffnet. Vor einiger Zeit haben wir ein paar Schüsse gehört, wir wissen allerdings nicht, wie viel Munition er dabei hat.“
„Was waren das für Schüsse?“
„Keine Ahnung. Wir haben noch keine Berichte über Tote. Vielleicht waren es nur Warnschüsse. Dieser Junge, du sagst, sein Name ist Merritt? Er scheint nicht darauf aus zu sein, zu reden. Er ist allerdings verdammt clever. Hat alle Handys eingesammelt und aus dem Fenster geworfen, was er danach verschlossen hat. Wir glauben, dass er sich immer noch in dem Raum aufhält, können es aber nicht mit Sicherheit sagen.“
„Wollen wir stürmen?“
„Das musst du entscheiden. Dein Fall, dein Verdächtiger. Ich würde natürlich lieber erst einmal mit ihm sprechen, aber ich habe auch einen Alternativplan – die Jungens und Mädels wissen, was zu tun ist. Wir können nicht zulassen, dass er jemanden erschießt, also müssen wir uns schnell entscheiden.“
„Einverstanden. Ist irgendeiner meiner Jungs hier?“
„Ja. Vor ein paar Minuten habe ich Ross und Wade gesehen. Keine Ahnung, was mit McKenzie ist.“
„Super, Keller. Vielen Dank. Ich bin gleich wieder bei dir.“
Sie nahm ihr Handy zur Hand und rief Lincoln an – er leitete sie zu einem ungefähr zehn Meter entfernt stehenden Fahrzeug. „Sorry, LT, ich hab dich nicht kommen sehen. Wir haben gerade die registrierten Waffen von Merritt senior überprüft. Er hatte ein Gewehr registriert, eine Browning X-Bolt und ein paar .22er Handfeuerwaffen, eine Smith & Wesson und eine Bersa Thunder Concealed Carry sowie eine Smith & Wesson M&P 9 Millimeter.“
„Das reicht, um das hier zu Ende zu bringen.“
„Genau. Die Waffen scheinen allein dem Selbstschutz gedient zu haben. Er war kein Jäger, sonst hätten wir Flinten oder Halbautomatische auf der Liste stehen.“
„Wirkt er wie ein Mann, der alles sorgfältig registriert hat?“
„Auf jeden Fall. Die Papiere waren alle in Ordnung, er hat die Waffen alle legal gekauft. Die vier Pistolen von der Liste, das Gewehr, die beiden .22er und eine 9 Millimeter. Er hat auch Kaufbelege für die Munition – drei Schachteln .22er Patronen und eine Schachtel 9er.“
„Also verfügt er über ein sehr begrenztes Schusspotenzial. Sagen wir, einhundert Schüsse verteilt auf alle vier Waffen?“
Sie schauten sich düster an. „Das reicht, um jeden, der sich noch im Gebäude befindet, zu töten.“
„Okay. Ich informiere Keller. Macht ihr hier weiter. Wir wissen nicht, was noch relevant wird. Wo ist McKenzie?“
Marcus rieb sich die Augen. „Juri Edvin ist heute Morgen verlegt worden und McKenzie hat mich abgelöst. Ich war die ganze Nacht über da, ist aber nichts passiert.“
„Danke, das weiß ich sehr zu schätzen. Lincoln, gibt es was Neues von dem Video?“
„Die Videosharing-Seiten haben die Signatur des Videos blockiert, sodass es automatisch blockiert wird, sollte jemand versuchen, es hochzuladen. Da sind wir also ein Stück weiter. Aber der Brief, den The Tennessean bekommen hat, ist heute Morgen veröffentlicht worden.“
„Heilige Scheiße, machst du Witze? Ich hatte Dave Greenleaf gebeten, genau das nicht zu tun.“
„Er hat uns mehr als einen Tag Vorlauf geschenkt – das ist für einen Reporter ziemlich viel.“
„Zu diesem Zeitpunkt wird es noch als Manifest des Jungen enden.“ Sie deutete in Richtung der Schule, wo es nur so vor Polizisten und Waffen wimmelte. „Wir haben hier die Schlacht am Little Bighorn. Gute Arbeit, Jungs.“
Sie kehrte zu Keller zurück und informierte ihn darüber, was der Junge an Waffen und Munition bei sich hatte. Er berichtete, dass der Verdächtige sich immer noch nicht gemeldet hätte und sie somit reingehen würden. In dreißig Minuten wären sie bereit. Sie ging zu ihrem Auto und holte ihre Weste – die Gelegenheit würde sie sich auf keinen Fall entgehen lassen. Sie würde mit dem SWAT-Team zusammen reingehen. Besser gesagt, direkt hinter ihm, aber trotzdem. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, den Jungen zur Aufgabe zu überreden.
Während sie die Weste anlegte, wusste sie allerdings schon, dass dies ein utopischer Wunsch war. Sie band sich die Haare mit einem schwarzen Haargummi zu einem hohen Pferdeschwanz. Überprüfte ihre Waffen, nahm sich ein paar Extramagazine für ihre Glock und einen Schnelllader für den Revolver, den sie am Knöchel trug. Er passte perfekt in den Stiefel und war für Augenblicke purer Not gedacht. Sie hatte ihn noch nie benutzen müssen und hoffte, dass heute nicht das erste Mal sein würde.
Keller hatte kein Glück, zu dem Jungen durchzudringen. Er antwortete nicht. Aber zumindest waren keine weiteren Schüsse gefallen.
Kampfbereit kehrte sie zu Keller zurück. Er schaute sie an und sagte: „Wow, was hast du denn vor?“
„Ich werde mit euch zusammen reingehen.“
„Lieutenant, du weißt, dass ich das nicht zulassen kann. Wir haben unsere zugeteilten Rollen, unsere festgelegten Schussfelder. Unsere Pläne sind wieder und wieder geprobt worden, und du kommst darin nicht vor.“
„Ich habe eine SWAT-Ausbildung, Keller, das weißt du. Und ich weiß, was ich tue. Ich bleibe im Hintergrund, aber ich gehe mit rein.“
Zum Glück stand sie im Rang über ihm, sodass sie ihren Willen kriegen würde, egal, ob er damit einverstanden war oder nicht.
„Wie du meinst“, lenkte er schließlich ein. Sie lächelte und ging zu der wartenden Gruppe schwer bewaffneter Männer und Frauen, die sich bereit machten, das Gebäude zu stürmen.
Es war an der Zeit. Sie spürte, wie ihre Konzentration stieg, und nahm ihren Platz hinter der Eingreiftruppe ein. Ihr Ohrstöpsel juckte; sie richtete ihn. Die Sonne kam heraus, strahlte hell vom Betonboden ab, aber das war in Ordnung, sie setzten sich jetzt in Bewegung. „Los, los, los!“, hörte sie in ihrem Ohr. Sie lief hinter ihnen her, die gezogene Waffe fest in beiden Händen.
Die erste Leiche war die des Sicherheitsbeamten. Sein Blut glitzerte auf dem Linoleumboden. Er war in den Hals getroffen worden. Eine klaffende Wunde. Der menschliche Körper hatte über fünfeinhalb Liter Blut in seinen Adern und Venen. Taylor hatte das Gefühl, dass mindestens siebzig Prozent davon sich unter ihm auf dem Boden verteilt hatten.
Sie spürte den Druck, der sich in ihrer Brust aufbaute.
Über den Ohrstöpsel hörte sie Stimmen. Ein Scharfschütze war in Stellung gegangen, bereit, den finalen Rettungsschuss abzugeben, wenn nötig. Sie näherten sich dem Klassenzimmer, lauschten auf Geräusche. Nichts. Taylor hörte das Bersten einer Fensterscheibe, die Blendgranaten waren geworfen worden. Die Tür zur Klasse stand jetzt offen, es gab Schreie und Rufe, die drängelnden Körper verströmten den kalten, strengen Geruch der Angst.
Es gab keine Schüsse, keine Rufe. Sie beobachtete, wie das Team den Raum räumte, sah aber niemanden, der drohend eine Waffe auf sie gerichtet hielt.
Merritt war nicht hier.
Ein paar Augenblicke des kontrollierten Chaos folgten, als das SWAT-Team die Situation unter Kontrolle brachte, die Geiseln aus dem Raum führte, sie in der Halle versammelte und als Gruppe gemeinsam nach draußen in die helle Morgensonne brachte. Taylor erkannte in dem Durcheinander ein paar Gesichter. Theo Howell, Panik im Blick, und ein paar andere von seiner Party, die sich Schutz und Trost suchend aneinander drängten. Gott sei Dank war niemand verletzt worden.
Das Klassenzimmer war jetzt geräumt. Taylor lehnte sich ein wenig abseits gegen die Wand. Er war hier irgendwo. Das hier war seine Schule. Er kannte die besten Verstecke. Sie packte sich die beiden am nächsten stehenden SWAT-Jungs und sagte: „Folgen Sie mir.“
Vorsichtig und in perfektem Einklang schlichen sie über die Flure. Jede dunkle Ecke barg das Versprechen des baldigen Todes, und Taylor war nicht in der Stimmung, sich oder einen der Männer töten zu lassen. Sie durchsuchten die gesamte Schule, fanden jedoch nichts. Taylor fing an, sich zu entspannen. Aber wie war der Junge entkommen? Die Schule war umstellt.
Vom Parkplatz ertönten Rufe, panische Schreie, und dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Das Grauen drohte, ihr die Kehle zuzuschnüren.
„Er ist draußen!“, rief sie und rannte den Flur hinunter, das SWATTeam ihr dicht auf den Fersen. Sie stürmten aus der Tür und zu der Gruppe evakuierter Geiseln. Alle hatten ihr den Rücken zugewandt und bewegten sich so schnell sie nur konnten.
Da. Da war er.
Sie hatte ihn drinnen nicht gesehen, weil er eine schlecht sitzende Baseballkappe trug. Er musste direkt an ihr vorbeigelaufen sein. Verdammter Mist.
Das schwarz gefärbte Haar lugte unter der Kappe hervor. Sie wusste, dass er es war. Sie näherte sich ganz vorsichtig, um ihn nicht zu alarmieren. Vor dem Jungen kauerten mehrere Menschen. Er hatte seine Arme ausgestreckt, in jeder Hand eine Waffe, und zielte auf die Menge.
Sie rief: „Hör sofort auf, Schuyler.“
Die Menschen rannten panisch davon, weinten, aber sie blieb ungerührt stehen, genau wie der Junge. Als spürten sie, dass das ihre Gelegenheit war, verschwanden die Menschen um ihn herum, sodass er ganz allein dort stand.
„Dreh dich um! Auf den Boden. Hände auf den Kopf. Auf den Boden, sofort, verdammt noch mal!“
Er hob seine Hände und drehte sich langsam auf seinem rechten Fuß um. Jetzt, wo sie ihn das erste Mal von Angesicht zu Angesicht sah, war Taylor erschrocken, wie jung er wirklich noch war. Sie hörte Geräusche in der Ferne, Waffen, die gezogen wurden, wusste, dass ihr Team bei ihr war, doch sie fühlte sich gefangen, von dem Blick des Jungen angezogen wie ein Mungo von einer Kobra.
„Es ist vorbei, Schuyler“, sagte sie. „Lass die Waffen fallen und leg dich auf den Boden.“
Er fuhr fort, sie einfach anzuschauen. Seine kohlschwarzen Augen blitzten. Ihre Blicke trafen sich, ein Messen der Willenskraft. Er blinzelte schließlich zuerst.
„Ich heiße Raven!“, schrie er.
Sie spürte die Bewegung, bevor sie sie sah. Seine Hand kam hoch, das Glitzern von Stahl, das Sonnenlicht, das sich im Lauf der Waffe brach. Sie dachte nicht nach, zögerte nicht, sondern drückte drei Mal in Folge den Abzug durch. Blut strömte aus Brust und Stirn des Jungen – drei tödliche Schüsse, sauber, perfekt. Die Zeit blieb stehen.
Er sah einen Moment überrascht aus, dann sackte er in einem blutigen Haufen zu Boden.
„Sanitäter, schnell!“, rief sie und lief zu ihm. Sie kickte die Waffen beiseite und tastete seinen Körper ab. Er war sauber. Er schaute ihr direkt in die Augen, und ein eiskalter Schauer durchfuhr sie. Blut sprudelte über seine Lippen, als er starb.
Hände zogen sie von ihm fort. Ihre Waffe wurde ihr abgenommen – das gehörte zum Standardvorgehen. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie hatte das Gefühl, ohnmächtig zu werden. Kaltes Wasser wurde an ihre Lippen gedrückt. Lincoln rieb ihr den Rücken. Sie kam wieder zu sich, erkannte, dass das ohrenbetäubende Dröhnen der Schüsse alle anderen Geräusche blechern klingen ließ. Keine Ohrenschützer, dachte sie und unterdrückte ein hysterisches Lachen.
Der Junge lag auf dem harten Boden, die Augen leer, und wartete darauf, vom Rechtsmediziner für tot erklärt zu werden. Schießereien mit Beteiligung eines Officers waren für alle ein Albtraum.
Taylor wurde zur Seite genommen, erstattete Bericht, hörte aber die Worte nicht, die ihren Mund verließen. Das Krachen der Waffe, der verwunderte Blick des Jungen, das Blut, das aus der Stirn des Jungen spritzte – all das wiederholte sich in einer Endlosschleife in ihrem Kopf.
Ihr Tag fing gerade erst an. Sie würde befragt und von jedem Fehlverhalten freigesprochen werden. Aber trotzdem hätte sie einen weiteren Fleck in ihrer Akte.
Guter Gott, was habe ich getan? Er war doch nur ein Junge. Nur ein Junge. Was habe ich getan?
Sie schaffte es, sich loszureißen, ihr Handy aufzuklappen, Baldwins Nummer zu wählen. Er würde es verstehen. Er würde ihr vergeben.
Baldwin ging nach dem ersten Klingeln ran. Ihre Stimme klang fremd, als gehöre sie ihr nicht. Ein Echo in ihrem Geist, das ihm erzählte, was gerade geschehen war.
„Taylor, geht es dir gut?“
Nein, es ging ihr nicht gut. Es würde ihr nie wieder gut gehen. Sie hatte gerade einen Jungen getötet. Nicht einen Mann, nicht einen finsteren Kriminellen, sondern einen Jungen.
Es war gerechtfertigt, das wusste sie. Vielmehr verstörte sie, was in dem kurzen Augenblick der Klarheit geschehen war, den sie erlebt hatte, bevor sie ihn erschoss.
Sie hatte die Seele des Jungen gesehen. Eine dunkle Masse aus Hass und Feuer, die sich ihr genau in dem Moment zeigte, als ihr Finger den Abzug drückte. Sie hatte schon einmal einen Mann gesehen, in ihren Träumen, der die gleiche Form selbstgerechten Hasses auf sie gerichtet hatte. Ansonsten hätte ihr Finger sich vielleicht nicht bewegt.
Als sie Raven erschoss, hatte sie den Geist des Pretenders gesehen, der sie aus den schwarzen Augen des Jungen anstarrte.