Nashville
20:00 Uhr
Taylor schloss die Tür hinter den Norwoods und lehnte sich gegen den Rahmen. Sie musste die letzten beiden Tatorte sehen – vor allem den des zweiten Doppelmordes –, aber sie brauchte eine Pause. Sie fragte sich, wo Baldwin hingegangen war.
Sie hatte gerade ihr Handy aufgeklappt, um ihn anzurufen, als er um die Hausecke bog, die Hände im Haar vergraben, sodass es am Hinterkopf abstand. Sie ging die Stufen der Veranda hinunter und empfing ihn im Vorgarten. Er war sehr bleich im Gesicht und offensichtlich sehr wütend.
„Was ist los?“, fragte sie.
Einen Moment wirkte er überrascht, dann schüttelte er den Kopf. „Nichts. Ich muss nur zurück nach Quantico. Garrett braucht mich bei einem Fall.“
Irgendetwas in seiner Stimme, ein leichtes Zweifeln, ließ sie sofort wachsam werden. Er erzählte ihr nicht die ganze Wahrheit. Sie streckte die Hand aus, umfasste sein Kinn und drehte seinen Kopf so, dass er sie anschauen musste.
„Ein Fall?“
Er schenkte ihr ein halbherziges Grinsen. „Ein alter Fall. Sie brauchen meine Aussage. Es tut mir leid, dass ich dich hiermit allein lassen muss.“
„Wir kommen schon klar. Fährst du morgen früh?“
„Nein, Garrett schickt mir den Jet. Ich muss noch mal meine Notizen durchgehen und die Anhörung beginnt morgen früh um sieben.“
Sie spürte, dass er abgelenkt war, entschied sich aber, ihn nicht zu bedrängen. Wenn sie eines über Baldwin gelernt hatte, dann, dass er ihr irgendwann erzählen würde, was los war. Ihn zu drängen, wenn er noch nicht bereit war, brachte gar nichts. Und außerdem hatte sie selber genug um die Ohren.
„Soll ich einen Streifenwagen bitten, dich zum Flughafen zu bringen?“
Er nickte. „Das wäre toll. Danke.“
Er küsste sie, ließ seine Hand einen Moment in ihrem Nacken ruhen. Er fühlte sich so … traurig an. Die Traurigkeit strahlte in Wellen von ihm aus. Sie wünschte, sie könnte ihm helfen, aber sie wusste, sobald er bereit war, sich mit ihr zu beraten, würde er zu ihr kommen.
„Honey, kann ich irgendwie helfen?“, fragte sie leise.
Seine Antwort bestand aus einem düsteren Lächeln. „Ich wünschte, du könntest, Taylor. Aber das muss ich alleine durchstehen.“
Taylor schaute dem Streifenwagen hinterher und fragte sich, was um alles in der Welt Baldwin um diese Uhrzeit nach Quantico zurücklocken konnte. Sie hatte jedoch keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen; hier wartete zu viel Arbeit auf sie. Es wurde langsam kühl, die Luft war klar und kalt. Sie zitterte und wollte gerade ins Haus der Vanderwoods zurückkehren, als ihr Handy klingelte.
Es war Marcus. Er war kurz angebunden und wirkte verstört.
„Wir haben noch eine Leiche“, sagte er. „Weiblicher Teenager, vier Straßen von der Estes entfernt an der Warfield Lane. Vollkommen abseits des ursprünglichen Weges.“
Mein Gott! Sie dachte, sie hätten alle gefunden. Seit über einer Stunde hatte es keine neuen Berichte mehr gegeben. Die Wanderungen von Haus zu Haus hatten aufgehört, die Leute waren von der Straße und hatten sich in ihren Häusern verschanzt. Die Presse war frustriert, weil sie keinen Zugang zu den Tatorten bekam. Pech gehabt. Mit diesem Abend würden sie noch wochenlang ihre Nachrichten füttern können.
„Ich bin gleich da“, sagte sie.
Sie machte kehrt und stieß direkt mit Sam zusammen. Sie packte Sams Arm, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und die Treppe hinunterzufallen.
„Guter Gott, Mädchen, wer hat dir denn Feuer unterm Hintern gemacht?“
„Tut mir leid, Sam. Gerade ist noch eine gefunden worden. Willst du mit mir kommen?“
„Noch eine? Oh nein. Wie viele sind es jetzt?“
„Acht. Können wir gehen? Marcus hat mich gerade angerufen, er ist völlig fertig.“
„Ja. Ich komme danach wieder her und kümmere mich um den hier. Wo ist Baldwin?“
„Er ist nach Quantico zurückgerufen worden. Irgendein Notfall.“
„Als wenn das hier keiner wäre.“ „Wem sagst du das.“
Sie schlüpften unter der Polizeiabsperrung durch, die quer über die Straße gespannt war, und fuhren die wenigen Straßen zur Warfield Lane. Das Haus war nicht so schick wie die auf der Estes – nur ein einstöckiges, großzügiges Häuschen mit einem liebevoll angelegten und gepflegten Garten. Ein noch nicht geschnitzter Kürbis lag auf der Eingangstreppe.
Marcus erwartete sie mit bleichem Gesicht an der Tür.
„Sie ist im Hinterzimmer. Und nur damit ihr es wisst, das ist nicht das einzige Muster, das durchbrochen wurde. Sie ist keine Schülerin der Hillsboro, sie geht auf die St. Cecilia’s.“
Taylor dachte darüber nach. „Hm. Sie war auch nicht in ihrem Zimmer?“
„Nein. Im Arbeitszimmer. Sieht aus, als wäre sie gerade dabei gewesen, ihre Hausaufgaben zu machen. Sie liegt hinter dem Schreibtisch auf dem Boden. Ihre Mom sagt, sie arbeitet gerne in der Fensternische. Der Hund liegt neben ihr. Er weicht nicht von ihrer Seite.“
Seine Stimme war belegt. Taylor fühlte mit ihm. Wenn das hier vorbei war, würden sie sich alle beim Polizeipsychologen die Klinke in die Hand geben. Jetzt waren es also acht. Acht Teenager an einem einzigen Tag. Noch schlimmer wäre nur gewesen, wenn es an einer Schule passiert wäre und andere Kinder den Tod ihrer Mitschüler hätten mit ansehen müssen.
Ein schmaler Flur, Stimmen aus der Küche. Sie erhaschte einen Blick auf einen Farbklecks – eine rote Bluse, die Mutter, die schluchzend am Küchentisch saß. Dann standen sie an der Tür zum Arbeitszimmer. Der Raum war mit Walnussholz getäfelt, klein und gemütlich mit Bücherregalen an den Wänden und einem großen Erkerfenster. Taylor und Sam traten hinter den Schreibtisch.
Ein brauner Labrador knurrte sie an. Er ließ seinen Kopf wieder auf seine Pfoten sinken und winselte; sein Nackenfell war gesträubt. „Platz, Junge. Ist alles gut.“ Taylor wandte sich an Marcus. „Wie heißt er?“
„Ranger.“
„Okay, Ranger, alles in Ordnung.“ Sie näherte sich vorsichtig. Der Hund schien das Unausweichliche zu spüren. Er fletschte die Zähne und schnappte nach ihr, dann erhob er sich ganz langsam, als schmerzten seine Knochen. Er hinkte etwas mit den Hinterbeinen. Hüftdysplasie, dachte Taylor abwesend. Der arme Kerl war schon alt.
„Du hast deinen Job gut gemacht, Ranger. Aber bei uns ist sie jetzt in Sicherheit.“ Während Taylor sprach, legte sie vorsichtig ihre Hand an den Hals des Hundes und packte sein Halsband. Sie spürte ihn zittern. „Er ist erschöpft. Okay, guter Junge. Es ist an der Zeit zu gehen.“
Der Hund seufzte und ließ dann zu, von ihr weggeführt zu werden. Taylor kraulte ihn hinter den Ohren und reichte ihn dann an Marcus weiter, bevor sie sich wieder der Leiche zuwandte.
Das Mädchen war zierlich, die blonden Haare steckten in einem unordentlichen Pferdeschwanz, aus dem sich einige Strähnen gelöst hatten und ihr ums Gesicht fielen. Ihre Lippen waren blau. Sie war von der Hüfte aufwärts nackt, ihre knospenden Brüste blutverschmiert, der oberste Knopf ihrer Jeans geöffnet. Aus dem Pentakel, das in ihren flachen Bauch geritzt worden war, sickerte Blut. Ihr kleiner Körper fing an zu zittern.
„Warte mal“, sagte Sam. „Heilige Scheiße. Sie krampft.“ Taylor sah, wie sich eine kleine Blutblase zwischen den Lippen des Mädchens bildete. Stumm vor Entsetzen starrte sie eine Weile darauf, dann eilten beide Frauen an die Seite des Mädchens. Taylor drückte ihre Finger gegen den Hals und spürte einen zarten, flatternden Puls.
„Ruft einen Notarzt! Das Mädchen lebt noch!“
Der Krankenwagen fuhr mit heulenden Sirenen in die Nacht, die Rettungssanitäter versuchten mit aller Kraft, das Mädchen am Leben zu halten, die Mutter weinte, hielt die freie Hand ihrer Tochter. Taylor stand in der Tür zu Brittany Carsons Haus. Ranger drückte sich gegen ihre Beine.
Sam stand hinter ihr. Sie zog die Handschuhe aus. „Es ist innerhalb der letzten Stunde passiert. Und es sind definitiv Drogen im Spiel – ihre Pupillen waren stecknadelkopfgroß und starr. Was auch immer sie genommen haben, es ist eine Art Betäubungsmittel.“
Taylor drehte sich zu ihrer besten Freundin um. „Glaubst du, dass der Hund deshalb nicht von ihrer Seite gewichen ist? Weil er wusste, dass sie noch lebt?“
Sam strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und rieb sich dann mit dem Handrücken über die Augen. Mit einem Mal sah sie älter aus, abgespannt. Sie seufzte und sagte: „Ich weiß es nicht. Vielleicht. Das werden wir wohl nie erfahren. Sie hat sehr viel Blut verloren und war schon blau angelaufen. Alle anderen Leichen sind post mortem verstümmelt worden. Ihre Herzen haben kein Blut mehr gepumpt. Bei ihr ging der Blutverlust langsam und stetig vonstatten. Je nachdem, was sie eingenommen hatte … auf jeden Fall ist es nicht so lange her wie bei den anderen.“
Taylor musterte sie eindringlich. „Ist bei dir alles in Ordnung?“
„Ja. Ich bin nur sehr müde. Irgendwie scheine ich dieser Tage nie genug Schlaf zu bekommen.“ Sam trat beiseite und fing an, ihre Sachen in ihren Koffer zurückzuräumen.
„Sam?“
„Was?“
„Weißt du, wann du das letzte Mal so müde ausgesehen hast?“ „Nein, wann?“
Taylor verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich weiß nicht. Lass mich überlegen. Vielleicht … vor zwanzig, einundzwanzig Monaten?“
Sam hielt in ihren Bewegungen inne und blickte Taylor in die Augen. „Nein.“
„Ich denke, das ist die falsche Antwort, Mommy.“
Sam ließ sich stöhnend in einen Stuhl sinken. „Nein, nein, nein! Das kann nicht sein. Nicht jetzt, nicht hier. Ich weigere mich. Die Zwillinge haben gerade erst ihren ersten Geburtstag gefeiert. Oh verdammt. Simon wird mich umbringen.“
Taylor lachte. „Ich glaube eher, er wird begeistert sein. Was glaubst du, wie weit bist du?“
„Warte, ich versuche zu rechnen.“ Einen Moment lang wurde sie ganz still. „Ich kann nicht … ach ja.“ Sie lachte auf und errötete. Dann schaute sie Taylor an. „Kann nicht mehr als sechs Wochen sein. Ich habe Simon auf diese forensische Konferenz in Dallas begleitet. Wir hatten eine Suite und einen Babysitter und haben uns einen schönen Abend gemacht. Ich war so beschäftigt, dass mir das Ausbleiben meiner Periode überhaupt nicht aufgefallen ist.“
Taylor kniete sich neben den Stuhl und zog ihre Freundin in die Arme. „Honey, das sind wundervolle Neuigkeiten. Ich freue mich so für dich.“
Sam erwiderte die Umarmung kurz. „Erzähl um Himmels willen niemandem davon. Ich muss erst mal Simon warnen und dann zum Frauenarzt. Mist, Mist, Mist.“ Aber sie lächelte und die dunklen Ringe unter ihren Augen wirkten schon gleich weniger bedrohlich.
Taylor zeigte zur Tür. „Wenn du ihn warnst, sag ihm, dass ich eventuell seine Dienste benötige. Ich bezweifle, dass ihr die toxikologischen Untersuchungen und die Auswertung der Beweise für all diese Fälle auf einmal schafft, und das TBI ist auf Monate hinaus ausgebucht. Wir könnten vielleicht Baldwin bitten, einige der Proben zu seinem Labor in Quantico zu schicken, aber ich würde das lieber schnell und diskret erledigen. Ich kümmere mich um ein zusätzliches Budget, damit Simons Labor euch aushelfen kann.“
Sams Ehemann Dr. Simon Loughley leitete eine Firma namens Private Match, eines der führenden Labors im Bereich der Forensik. Ihr Auskommen hatten sie hauptsächlich durch Vaterschaftstests, was es Simon ermöglichte, auch andere Aufträge anzunehmen, die ihn interessierten. Er war immer da, wenn die Metro schnelle Ergebnisse brauchte. Das Labor des Tennessee Bureau of Investigation war mit den Proben aus Vergewaltigungs- und Mordfällen so weit hinterher, dass es manchmal nötig war, private, unabhängige Labors zu beschäftigen. Das würde Geld kosten, aber Taylor glaubte nicht, dass das in diesem Fall ein Problem darstellen würde. Mein Gott, sechs Tatorte an einem Tag? Selbst ihr als äußerst geizig bekannter Chief würde die Notwendigkeit einsehen.
Sie konnte nicht warten, bis das neue Kriminallabor eröffnet war. Die Finanzierung war gesichert, der Standort ausgewählt. Alles bewegte sich in die richtige Richtung. Bald würden sie nicht mehr auf die Gunst anderer angewiesen sein, um ihre dringendsten forensischen Beweise bearbeiten zu können.
Der Hund winselte an der Tür und riss Taylor damit aus ihren Tagträumen.
„Okay. In diesem Sinne sollten wir uns wieder an die Arbeit machen.“ Sie betrachtete das Blut, das an der Stelle in den Teppich gesickert war, an der Brittany Carson beinahe verblutet wäre. „Ich wünschte, wir wären früher gekommen. Dann hätte sie vielleicht eine größere Chance gehabt.“
„Woher hätten wir es wissen sollen? Hast du inzwischen telepathische Fähigkeiten?“
„Nein, aber …“
Sam schüttelte den Kopf. „Kein Aber. Du bist keine Gedankenleserin. Wir haben es hier mit einem Mörder zu tun, der das alles offensichtlich sehr, sehr gut durchdacht hat. Ich bete, dass das der letzte Anruf für heute war.“
Taylor schoss ein grauenhafter Gedanke durch den Kopf. „Glaubst du, er hat uns beobachtet, womöglich auf uns gewartet, bevor er hergekommen ist, um sich Brittany zu widmen?“
„Beobachtet? Sicher. Du weißt, wie sehr diese Irren es lieben, zuzuschauen. Er hätte an einem der Häuser am anderen Ende der Straße gewesen sein können, während wir uns an den Tatorten aufhielten.“
„Meine Güte. Die Presse wird mir den Kopf abreißen.“
Sam hatte schon wieder in den Arbeitsmodus geschaltet. Taylor und sie hatten sich ein paar Wochen lang nicht gesehen und Taylor vermisste ihre Freundin. „Taylor, du hast alles getan, was du konntest. Lass uns zurückgehen. Ich habe noch zwei Leichen für tot zu erklären.“
„Okay. Ich sage nur eben Marcus Bescheid, dass ich nachher noch einmal vorbeikomme.“
Sie fand ihn in der Küche, wo er aus dem Fenster ins Nichts starrte. Er stand gebeugt da, wie geschlagen. Sie wusste genau, was ihm durch den Kopf ging. Vorwürfe, Schuldgefühle. Taylor beschloss, ihm die gleiche aufmunternde Ansprache zu halten, die sie eben von Sam gehört hatte.
„Hey“, sagte sie leise. „Es ist okay. Es war nicht dein Fehler.“
Er schaute sie an, seine Augen leer und verzweifelt. „Sie hatte vorhin keinen Puls, Taylor. Das schwöre ich. Der Rettungssanitäter konnte auch keinen finden. Mein Gott, sie hat die ganze Zeit dort im Sterben gelegen, während ich mit ihrer Mom geplaudert habe und versuchte, den Hund von ihrer Seite zu locken.“
Ranger setzte sich auf Marcus’ Füße. Er beugte sich vor und tätschelte den Hund abwesend.
„Hatte die Mutter irgendeine Idee, was hier heute Nachmittag los war?“
„Nein. Sie ist alleinerziehend. Krankenschwester. Sie heißt Elissa. Sie hat lange gearbeitet, kam dann nach Hause und fand Brittany im Arbeitszimmer. Ich habe herausgefunden, dass Brittany ein Stipendium hat. Sie ist sehr prüde und schüchtern. Ihre Mom sagt, dass sie auf gar keinen Fall freiwillig Drogen genommen hätte.“
„Es gibt keinerlei Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen. Wer auch immer versucht hat, sie umzubringen – sie hat ihn hereingelassen.“
„Sie ist jünger als die anderen. Ich habe eine Streife losgeschickt, aber das Haus liegt so zurückgezogen, dass bisher niemand etwas Ungewöhnliches bemerkt hat.“
„Dann müssen wir nach dem Gewöhnlichen suchen. Nach einem Mörder, der in dieser Gegend stundenlang untertauchen kann, ohne aufzufallen.“
„Dann ist er definitiv weiß. Entweder trägt er einen Anzug oder ein Halloweenkostüm. Es könnte also jeder sein.“
„Auch ein Jugendlicher.“
„Du glaubst, das ist das Werk eines Teenagers?“
„Ich weiß es nicht. Aber wir sollten den Gedanken im Hinterkopf behalten.“
„Wenn ich doch nur früher hier gewesen wäre“, sagte er mit hohler Stimme.
Taylor stellte sich direkt vor ihn und zwang ihn, ihr in die Augen zu schauen.
„Marcus, konzentrieren wir uns auf das Jetzt und Hier. Besorge mir den Bericht aus dem Krankenhaus und von da aus sehen wir weiter. Wenn das Mädchen überlebt, postier eine Wache an ihrem Zimmer. Sie ist die einzige Zeugin, die wir für die Ereignisse des heutigen Nachmittags haben. Ich muss zurück zur Estes – da warten immer noch zwei Leichen, die Sam noch nicht für tot erklärt hat. Mach dir keine Vorwürfe. Sorge dafür, dass ein paar Streifenbeamte dieses Haus hier sichern, bis wir zurückkommen. Dieser Fall gehört noch auf die positive Seite, okay?“
„Okay“, murmelte er, der Kummer sichtbar in seinem hübschen Gesicht. Er konnte ihr nichts vormachen. Sie würde noch mal mit ihm reden, aber im Moment musste sie sich erst einmal um die restlichen Toten kümmern.
„Hier, ich habe etwas, das dich ablenken wird. Ich denke, unser Mörder beobachtet uns vielleicht, will unsere Reaktionen sehen. Wir müssen mit jedem im Umkreis von hundert Metern um die Tatorte sprechen, der eine Überwachungskamera an seinem Haus hat. Sprich als Erstes mit der Presse. Die machen immer auch Aufnahmen von den versammelten Menschen. Mir ist außerdem aufgefallen, dass einige der Häuser private Sicherheitsvorkehrungen getroffen haben – vielleicht gibt es da unsichtbare Kameras, deren Aufnahmen uns weiterhelfen können. Geh die Sicherheitsfirmen in der Gegend durch, frag nach, ob sich eines der von ihnen betreuten Häuser in der Nähe der Tatorte befindet. Kannst du das für mich tun?“
„Natürlich.“ Nickend schob er seine Trauer beiseite und war mit einem Mal wieder ganz professionell. Er schloss kurz die Augen und klappte dann sein Handy auf und fing sofort an, Anweisungen zu erteilen. Taylor drückte seine Schulter und kehrte zu Sam zurück.
Sie schloss die Haustür und trat auf die kleine Veranda hinaus. Dort blieb sie einen Moment lang stehen, atmete tief ein und wieder aus. Was für ein Abend. Acht Kinder. Acht.
Sie ging die Treppe hinunter und nahm aus dem Augenwinkel etwas wahr. Sie wirbelte herum, drückte sich eng gegen die Brüstung, die Hand an der Glock. Sie hörte ein Schnappen, dann das Rascheln von Schritten in trockenem Laub. Im Garten ging ein Scheinwerfer an.
„Sam, runter“, flüsterte sie und rannte dann um die Ecke. „Stehen bleiben, Polizei!“, rief sie. Die Gartenbeleuchtung wurde durch Bewegungsmelder gesteuert und das bewaldete Grundstück war mit einem Mal hell erleuchtet wie ein Weihnachtsbaum. Taylor blieb einen Augenblick stehen, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen und auf die Schritte zu lauschen, die von ihr weg in die Dunkelheit stolperten.
„Marcus“, rief sie, aber er stand bereits mit gezogener Waffe neben ihr.
„Ich habe die Lichter angehen sehen. Was ist los?“
„Da war jemand seitlich am Haus und ist weggelaufen, als ich rauskam. Er entfernt sich Richtung Westen, tiefer in den Wald hinein. Was liegt auf der anderen Seite?“
„Die Hobbs Road. Dazwischen gibt es nichts mehr.“
„Okay. Ganz langsam. Pass auf dich auf. Du nimmst die linke Seite, ich die rechte. Mal sehen, ob wir ihn einkreisen und fassen können, bevor er die Straße erreicht.“
„Hast du ihn sehen können?“
„Nein. Aber es waren schwere Schritte.“ Taylor war nicht dumm – sie würde nicht ohne Verstärkung loslaufen. Sie nahm ihr Funkgerät. „An alle Einheiten, hier spricht Lieutenant Jackson. Ich verfolge einen unbekannten Verdächtigen in westlicher Richtung auf die Hobbs Road zu. Wir befinden uns 2135 Warfield Lane. Ich brauche einen Hundeführer hier, wiederhole, bringt Simari und Max sofort hierher.“
Sie wartete die Bestätigungen ab und steckte ihr Funkgerät dann wieder ein. In einem leicht auseinanderdriftenden Winkel liefen sie in den Wald hinein. Der Nebel war hier dichter, die Blätter an den Bäumen zeigten ihre Unterseiten, die im schwachen Mondlicht schimmerten. Der Nebel hüllte sie ein – Taylor konnte Marcus kaum noch sehen, obwohl er keine fünf Meter entfernt relativ parallel zu ihr lief.
Je weiter sie sich vom Haus der Carsons entfernten, desto dunkler wurde es. Das war nicht gut. Das war überhaupt nicht gut. Ein leichter Nieselregen setzte ein, benetzte ihr Gesicht. Der lehmige Geruch verrottenden Laubes wurde stärker. Sie hörte den Verdächtigen immer noch durch die Dunkelheit laufen. Er war vielleicht vierzig bis fünfzig Meter vor ihnen. Der dichte Nebel und das fehlende Licht bedeuteten, dass auch er langsamer werden musste. Das war gut. Sie machte sich wieder auf den Weg, ging mit großen Schritten weiter, die Waffe gezückt.
Ein lauter Knall ließ sie innehalten und hinter dem nächsten Baum Deckung suchen. Ihre Glock lag fest in ihrer Hand, ihr Zeigefinger auf dem Abzug. Ihr Herz pochte in ihrem Hals – was war das? Sie lauschte, spürte, wie ihre Brust sich hektisch hob und senkte, atmete tief durch die Nase ein, um wieder Luft zu kriegen. Ein weiterer, heller Knall, dann noch einer und noch einer. Feuerwerkskörper, definitiv keine Schüsse. Verdammt.
Irgendetwas an der Tatsache, dass der Kalender einen Feiertag verzeichnete, veranlasste die Menschen von Nashville, ihn mit Feuerwerk zu feiern, obwohl das in Davidson County eigentlich verboten war.
Ihr Herz fand zu seinem normalen Rhythmus zurück, und sie pfiff leise nach Marcus. Er antwortete mit einer beeindruckenden Imitation einer Nachtschwalbe inklusive Triller am Ende, und gemeinsam setzten sie ihren Weg vorsichtig fort.
Taylor konnte ungefähr zwei bis drei Meter weit sehen. Sie blieb erneut stehen und hörte das Rauschen von Reifen auf nassem Asphalt. Sie kamen der Straße näher. Aus dem Süden erklang ein kehliges, stakkatoartiges Bellen. Simari war angekommen und Max hatte bereits die Spur aufgenommen. Nun würde es nicht mehr lange dauern. Max war äußerst flink und konnte einen Verdächtigen im Bruchteil der Zeit stellen, die ein menschlicher Officer dafür brauchte. Es war immer wieder faszinierend zu beobachten, und Taylor bedauerte die schlechten Lichtverhältnisse.
Es dauerte ungefähr eine Minute, bis sie einen Schrei zu ihrer Rechten hörte. Sie drehte sich um und sah einen dünnen Pfad, der zu einer kleinen Lichtung führte. Max hatte seinen Job erledigt und den Verdächtigen gestellt. Sein starker Kiefer hatte sich in den Unterschenkel des Mannes verbissen. Von allen Seiten strömten Officers mit gezogenen Waffen herbei, die Taschenlampen auf den Verdächtigen gerichtet. Simari rief Max mit einem Befehl zurück. Er winselte kurz, ließ aber die Jeans des Verdächtigen los und trottete mit einer gewissen Zufriedenheit zu seinem Frauchen zurück. Simari gab Max immer vor Ort ein blutiges, rohes Steak, wenn er jemanden erfolgreich gestellt hatte; heute Abend würde der Deutsche Schäferhund dann seine ausgiebige Belohnung erhalten.
Der Verdächtige stöhnte und hielt sich das Bein, als wenn es unterhalb des Knies amputiert worden wäre. Taylor näherte sich ihm vorsichtig, erkannte aber schnell, dass der Mann wirklich außer Gefecht gesetzt war. Unter seiner zerrissenen Jeans sammelte sich eine kleine Blutlache. Max hatte ein gutes Stück Fleisch aus dem Unterschenkel gerissen.
Nein, es war gar kein Mann. Im Licht der Taschenlampen zeigte sich ein glattes, rundes Gesicht. Ein Junge, weiß, nicht älter als dreizehn oder vierzehn Jahre und für sein Alter sehr klein, wie es aussah.
Das Adrenalin baute sich langsam ab, die Anspannung löste sich bei allen, es wurde gelacht und gescherzt. Die Beamten kehrten in die Nacht, zu ihren Autos, zu den diversen Tatorten zurück, von denen sie abgezogen worden waren.
„Ich hoffe, das war es wert“, hörte Taylor einen Polizisten murmeln.
Er hatte nicht ganz unrecht. Sie stieß den Atem aus, den sie unbewusst angehalten hatte, und sah zu, wie Marcus dem Jungen Handschellen anlegte.
Taylor las dem Verdächtigen seine Rechte vor und verfluchte innerlich die neuen Gesetze, die sie dazu verpflichteten, das sofort zu tun, weil sonst keinerlei Befragung zulässig wäre. Dann fragte sie: „Wie heißt du?“
Er schüttelte nur den Kopf und schaute auf sein Bein.
„Ich brauche einen Arzt“, sagte er mit erstaunlich tiefer Stimme.
„Sag mir erst, wie du heißt.“
Er schüttelte erneut den Kopf.
„Okay, Anonymus, wir rufen einen Krankenwagen, aber kein Krankenhaus der Stadt wird dich ohne einen Namen behandeln. Sie verschenken ihre Dienste nicht, weißt du? Sie müssen deine Eltern anrufen, damit die ihnen die Zahlung zusichern. Es wäre doch eine Schande, ein Bein zu verlieren, nur weil du mir gegenüber den Harten markieren willst.“
Der Junge wurde weißer als der Strahl der Taschenlampe. Er dachte einen Moment lang darüber nach, dann zuckte er mit den Schultern. „Mein Nachname ist Edvin. Mein Vorname Juri.“
„Wie schreibt man das?“
„J-U-R-I. Das ist Finnisch.“ „Wo wohnst du?“
Er blinzelte sie an, und sie wusste nicht, ob das an den Schmerzen oder dem hellen Licht lag, das auf ihn gerichtet war. „Am Granny White Pike, direkt neben der Lipscomb University“, sagte er schließlich.
„Wir müssen deine Eltern informieren.“
Das Weiß in seinen Augen blitzte auf und er fing wieder an, sich zu wehren. Taylor legte einen Arm quer über seine Brust und übte genügend Druck aus, um ihn am Boden zu halten.
„Hör auf damit. Sag mir ihre Telefonnummer, damit ich sie anrufen kann.“
Er verengte seine Augen und murmelte dann sieben Ziffern. Taylor merkte sie sich und nahm ihren Arm weg. Sie bedeutete den Sanitätern, sich um den Jungen zu kümmern. Sie arbeiteten schweigend, schnitten die zerrissene Jeans auf und legten eine beeindruckende Reihe von tiefen Löchern frei. Sie drückten eine Kompresse auf die sickernde Wunde und banden den Jungen dann mit geübten Handgriffen auf der Trage fest.
„Hast du dich gewehrt, als der Hund dich gepackt hat?“, wollte einer der Sanitäter wissen.
„Ja“, murmelte Edvin. „Ich habe versucht, mich zu befreien. Habe ich dem Hund wehgetan? Ich habe ihm auf die Schnauze gehauen, als er mich gebissen hat.“
Taylor unterdrückte ein Lächeln. Max war zäh und hatte im Jagdfieber vermutlich gar nicht mitbekommen, dass ein kleiner Junge ihn geschlagen hatte.
„Ihm geht es gut“, sagte sie. „Warum bist du vor uns davongelaufen?“
Nachdem seine Angst erst einmal verebbt war, wurde der Junge richtig gesprächig.
„Sie sind Cops. Was sollte ich sonst tun?“
„Zum Beispiel stehen bleiben, wenn ich es sage? Was hattest du beim Haus der Carsons zu suchen?“
„Wessen Haus?“ Sein Blick glitt nach links unten und Taylor wusste, dass er log.
„Versuchen wir das noch einmal. Du warst am Haus der Carsons. Was kannst du uns über die dortigen Vorfälle des heutigen Nachmittags erzählen?“
„Ich kenne niemanden namens Carson. Ich war auf dem Heimweg von meiner Halloweentour.“
„Ohne Kostüm? Und ganz zum Granny White Pike hinauf? Das ist ein ganz schön langer Weg.“
„Ich bin zu alt, um mich zu verkleiden. Und ich gehe gerne zu Fuß. Sie haben mir Angst gemacht, also bin ich weggelaufen. So einfach ist das.“
Im Bruchteil einer Sekunde hatte Juri sich von einem ängstlichen, verletzten Jungen in einen defensiven Teenager verwandelt, der meinte, es mit ihr aufnehmen zu können. Ohne Frage hatte sie einen Nerv getroffen.
Einer der Sanitäter machte eine kreisende Bewegung mit seinem Finger. Sie schaute ihn an und ging ein paar Schritte zur Seite. Er kam zu ihr und flüsterte: „Wir müssen ihn sofort wegbringen. Er blutet stark. Kann sein, dass der Hund eine Arterie verletzt hat.“
Sie warf einen Blick zu dem Jungen, der aussah, als würde er ohnmächtig werden. „Okay. Ich schicke euch Marcus mit. Der Junge lügt sich hier was zurecht und ich will sichergehen, dass alle spontanen Äußerungen genau mitgeschrieben werden.“
„In Ordnung, Boss.“
Sie winkte Marcus zu sich und wiederholte ihre Anweisungen. Dann bat sie ihn, Juri Edvins Eltern anzurufen. Sie sagte die Nummer aus dem Gedächtnis auf und wartete, während er sie in sein Notizbuch schrieb. Er versprach ihr, sich nach Brittany Carson zu erkundigen. Sie sah ihm nach, wie er der Trage zum Krankenwagen folgte, deren dünne Metallbeine über den unebenen Untergrund wackelten. Einmal wäre der Junge beinahe kopfüber heruntergefallen.
Kopfschüttelnd rief sie Lincoln an und übergab ihm die Aufgabe mit der Überprüfung der Videobänder an den Tatorten. Dann meldete sie sich bei McKenzie. Er war auf der Party und hatte das Haus absperren lassen. Guter Gott, das Ganze war ein logistischer Albtraum. Ihre Officers und Detectives waren über halb Davidson County verstreut.
In weniger als fünf Minuten hatte sie sich ihren Weg aus dem Wald zurückgebahnt und war wieder an ihrem Auto. Sam hatte ihr eine Nachricht hinter den Scheibenwischer geklemmt. Musste los. Ruf mich an, wenn du fertig bist.
Taylor klappte ihr Handy auf. Sam nahm beim ersten Klingeln ab. „Habt ihr ihn?“, fragte sie.
„Ja. War nur ein Kind, aber er hat mich angelogen, was seine Anwesenheit am Haus anging. Ich werde die Spurensicherung herschicken, sie sollen das Grundstück durchkämmen. Irgendetwas stimmt da nicht.“
„Ich bin am fünften Tatort und habe was Interessantes gefunden. Du solltest herkommen.“
„Welcher ist das?“
Sam gab ihr die Adresse und Taylor legte auf. Sie stieg in ihren Wagen und fuhr die paar Straßen zur 5567 Foxhall Close, dem Haus von Opfer Nummer fünf, Brandon Scott.
Langsam wurde das alles ermattend vertraut – das wunderschöne Haus, die unpassende gelbe Polizeiabsperrung, die Menschen, die einem wohl koordinierten Plan folgend in das Haus hinein und wieder aus ihm herausgingen. Es sah aus wie ein Umzug, nur mit Forensikern und Experten für Blutspritzer statt Möbelpackern.
Sie ging hinein. Wieder war es der erste Stock, auf den sich die gesamte Aufmerksamkeit konzentrierte. Sie nahm zwei Stufen auf einmal und trat in den Bienenstock.
Sam stand an einer Wand und machte sich Notizen. Die Leiche war von der Tür aus sichtbar und Taylor hielt kurz die Luft an, bevor sie näher trat.
Der Junge lag wie die anderen auf dem Rücken, die Arme dieses Mal eng an den Seiten, aber die Schnitte in seiner Brust waren wesentlich tiefer als bei den anderen. Sie zeugten von purer Raserei und gingen so tief, dass teilweise Knochen zu sehen waren. Die Laken waren blutbefleckt, der Duft von Jasmin vermischte sich mit den Ausdünstungen der Organe zu einem Übelkeit erregenden Pesthauch.
Die Leiche war noch teilweise bekleidet mit einer grauen Jogginghose, deren Kordel an der Taille geöffnet war – die Hose hing seitlich herunter und legte seine linke Pobacke frei. Das Bündchen der Hose war schwarz vor Blut.
Taylor schluckte. „Er ist gehäutet worden“, sagte sie. „Scheint, als wenn der Mörder Mr Scott hier überhaupt nicht leiden konnte.“
Sam stemmte sich von der Wand ab, verstaute ihr Notizbuch in der Tasche und gesellte sich zu Taylor.
„Das ist noch untertrieben. Dreh ihn mal auf die Seite“, bat sie den Todesermittler, der sich mit ihnen im Zimmer befand.
Die Haut des Jungen war mit blutigen Striemen übersät, die sich lang und ungleichmäßig über den ganzen Rücken zogen.
„Was hat das verursacht?“, fragte Taylor.
„Ehrlich?“ Sam schürzte die Lippen und eine Strähne ihres zu langen Ponys blieb an ihrem Lipgloss hängen. „Ich glaube, es war eine Peitsche.“
„Er ist ausgepeitscht worden?“
„Ja. Erinnerst du dich an den Keller von Todd Wolff? Die ganzen Sexspielzeuge, die er da hatte?“
Ob sie sich erinnerte? Das war ein Fall, den sie nicht so schnell vergessen würde. Sie nickte.
„Es gibt ein SM-Spielzeug, das sich Neunschwänzige Katze nennt. Es wird meistens aus Leder gefertigt und soll nur Schmerzen verursachen, aber keine Verletzungen. Einige haben jedoch scharfe Metallspitzen an den Peitschenenden. Ich habe so etwas schon mal gesehen, bei einem Fall vor vielen Jahren. Ein Typ in East Nashville, der sich an seinem Freund ausgetobt hat. Es ist irgendwie mit ihm durchgegangen und sein Lover landete schließlich auf meinem Tisch. Er war von Kopf bis Fuß mit solchen Striemen übersät.“
„Mein Gott.“
Der Todesermittler legte Scott vorsichtig wieder zurück. Taylor ließ den Zorn, die Wut, die schiere Raserei auf sich wirken. Sie konnte den Hass förmlich spüren.
„Er hat einige Abwehrverletzungen, Sam. Sieh dir seine Hände an. Die sind ganz zerkratzt. Das unterscheidet ihn auch von unseren anderen Opfern, oder?“
„Ja. Die anderen Leichen sehen aus, als wenn das Pentakel post mortem zugefügt worden wäre. Außerdem sind sie komplett unbekleidet. Bei zwei von ihnen nehme ich an, dass sie schon nackt waren – das Pärchen. Aber der Rest ist vermutlich nach dem Tod ausgezogen worden, bevor ihnen die Verstümmelungen zugefügt wurden.“
„Gab es bei irgendeinem der Opfer Anzeichen sexueller Gewalt?“
Sam schüttelte den Kopf. „Nichts, das mir ins Auge gesprungen wäre. Aber genau kann ich dir das erst sagen, wenn ich Abstriche gemacht habe.“
„Es ist nicht ganz einfach, einer Leiche die Kleider auszuziehen. Wenn es sich nicht um sexuelle Übergriffe gehandelt hat, warum hat der Mörder dann deiner Meinung nach die Kleidung entfernt? Vielleicht waren sie alle schon vorher nackt.“
„Da liegt ein Fehler in deiner Denkweise. Denk mal darüber nach, Taylor. Wie viele Kids kennst du, die nackt in ihrem Zimmer herumsitzen? Abgesehen von dem Pärchen, das offensichtlich unterbrochen wurde. Außerdem, wenn du unter Zeitdruck stehst und deine Opfer zwingen musst, etwas einzunehmen, würdest du sie dann erst die Kleidung ausziehen lassen?“
„Wenn ich sie erniedrigen wollte, ja. Ich denke einfach nur, wir können es zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausschließen.“
„Aber hatte er denn die Zeit, sie zu demütigen? Diese Morde fanden innerhalb eines sehr begrenzten Zeitfensters statt. Ich wette, der Mörder hat ihnen die Kleidung nach dem Tod ausgezogen. Außer bei dem hier.“ Sie zeigte auf das Opfer. „Diese Wunden sind ihm zugefügt worden, als er noch lebte und angezogen war. Und er hat sich entschieden gewehrt. Siehst du die Prellung auf seiner rechten Schulter?“
Taylor sah genauer hin. Eine leichte Verfärbung an der Stelle, wo das Schlüsselbein in die Schulter überging, ein längliches Oval.
„Ein Knie?“
„Würde ich sagen. Er ist niedergedrückt worden.“
„Müsste man sehr groß sein, um so eine Stelle zu hinterlassen? Er macht auf mich einen Eindruck, als wäre er in ziemlich guter körperlicher Verfassung.“
„Nicht unbedingt. Es hat einen heftigen Kampf gegeben, aber unter den richtigen Umständen kann jeder überwältigt werden. Es gibt außerdem Flecken an seinem Hals – vielleicht eine versuchte Strangulation.“
„Hoffentlich hat der Mörder irgendetwas von sich hinterlassen. Der neue Todesermittler, Barclay Iles, hat auf der Leiche von Xander Norwood ein paar schwarze Haare gefunden. Vielleicht gibt es hier noch mehr davon.“
„Ja, vielleicht. Du weißt, dass ich immer sehr sorgfältig arbeite.“
„Danke, Sam, das weiß ich. Was ich gerne wissen würde ist, warum der hier nicht unter Drogen gesetzt wurde wie alle anderen. Vor allem, wenn er überwältigt werden musste.“
„Das werde ich dir erst nach der Obduktion sagen können. Er ist ein kräftiger Bursche, größer als die anderen. Vielleicht zeigt uns die toxikologische Untersuchung irgendwelche interessanten Ergebnisse. Ich weiß es einfach noch nicht. Wo wir gerade davon sprechen, ich muss in die Gass Street zurück und das Eintreffen der Leichen überwachen.“ Sam zog sich in ihre Rolle als Rechtsmedizinerin zurück und setzte wieder die kühle, professionelle Fassade auf.
Taylor ließ es zu. Sie musste sich ebenfalls ein wenig von all dem distanzieren.