21. KAPITEL

Quantico
15. Juni 2004
Baldwin

Baldwins Konferenzraum sah aus wie nach einem Zugunglück. Er hatte die Unterlagen vor sich ausgebreitet, fünf Sätze Tatortfotos, Whiteboards voller Hypothesen. Jeder Stuhl war besetzt; der Geruch von angebranntem Kaffee hing in der Luft. Das Team wurde langsam müde, war ausgelaugt von zu viel Kaffee und zu wenig Schlaf, wartete nur auf den einen Anruf, von dem sie wussten, dass er bald kommen würde. Der Anruf, dass ein weiteres Mädchen entführt worden war.

Es war egal, dass die Eltern im Dreistaateneck ihre Kinder hinter Schloss und Riegel hielten – der Uhrwerk-Mörder würde einen Weg finden. Es gab immer jemanden, der sich im Supermarkt oder auf dem Spielplatz den Tick zu lange wegdrehte und ihm damit Gelegenheit gab, sich anzuschleichen und das Kind zu schnappen.

Er war unsichtbar, ein Chamäleon. Er verschmolz so gut mit seiner Umgebung, dass niemand ihn für fehl am Platz hielt. Seine Normalität war seine Gabe. Sie ermöglichte es ihm, zu beobachten, zu entführen, zu töten und die Leichen zu entsorgen, ohne dabei aufzufallen.

Baldwin hatte schon oft die Erfahrung gemacht, je normaler ein Täter äußerlich wirkte, desto schlimmer war seine Krankheit. Der Uhrwerk-Mörder schien genau so ein Mann zu sein.

Und sie waren überzeugt, dass es sich um das Werk eines Mannes handelte. Der Schlüssel war die Gewalt, die den Leichen angetan worden war. Es gab keine körperliche Vergewaltigung, aber der Stich des Messers durch die Brust war ein klarer Ersatz für eine echte Penet ration.

Das Team hatte den ganzen Tag in den Straßen verbracht, die unzähligen Möglichkeiten untersucht, die ihre Kollegen von der Mordkommission in Fairfax County aufgetan hatten. Sie hatten mit den üblichen Verdächtigen gesprochen, deren Liste von den örtlichen Sexualstraftätern angeführt wurde. Es wurden Alibis überprüft, Bewährungshelfer interviewt, Nachbarn informiert und befragt. Es war im Laufe des Tages immer wärmer und die Stimmung immer schlechter geworden. Sie hatte in dem Moment ihren Tiefpunkt erreicht, als Baldwin und Charlotte am Haus des unheimlichsten Mannes ankamen, den Baldwin je getroffen hatte.

Der Mann hieß Harold Arlen.

Sogar jetzt noch, vier Stunden später und in einem perfekt eingerichteten und klimatisierten Raum, brach Baldwin beim Gedanken an Arlen der Schweiß aus.

Der Uhrwerk-Mörder mochte die Fähigkeit besitzen, sich nahtlos seiner Umgebung anzupassen, aber Baldwin besaß das einzigartige Talent, die Wahrheit aufzuspüren. Er war kein Hellseher – ganz im Gegenteil. Er konnte nur hinter die Worte, die gesprochen wurden, in die Seele der Person schauen, die er befragte. Er sah, wenn etwas nicht zusammenpasste. Sein Boss nannte ihn den menschlichen Lügendetektor. Baldwin wusste nicht, ob das stimmte, aber als er nun die Akte noch einmal durchging, konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, dass mit Harold Arlen irgendetwas nicht stimmte. Er war ein Serientäter, ja, aber da war noch mehr. Irgendetwas an ihm passte nicht.

Baldwin hatte die Befragung selber durchgeführt. Sie war … glatt verlaufen. Arlen hatte sich vollkommen unter Kontrolle gehabt. Höfliches Desinteresse. Er lieferte die richtigen Antworten, wusste, was er zu den fraglichen Zeiten gemacht hatte. Seine Alibis waren perfekt. Aber Arlens Blick hatte sich ein wenig verengt, als er einen Blick auf die Fotos der Mädchen warf. Die Augen zogen sich zusammen, die Lippen wurden dünne Striche, die Mundwinkel hoben sich kaum merklich. Baldwin hatte diesen kalten Schauder verspürt, das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, das einem Anruf vorausging, der schlechte Neuigkeiten brachte.

Baldwin blätterte die Akte des Mannes noch einmal durch, machte sich mit den Einzelheiten vertraut.

Während der vergangenen zehn Jahre war Harold Arlen immer wieder der exhibitionistischen Handlungen gegenüber Minderjährigen beschuldigt worden. Er war, wenn nicht noch mehr, auf jeden Fall ein Exhibitionist. Es machte ihn an, sich vor kleinen Mädchen zu entblößen. Er hielt mit dem Auto an Schulbushaltestellen, ließ das Fenster herunter und fragte die Mädchen, ob sie seinen kleinen Hund sehen wollten. Wenn sie sich dem Fenster näherten, zog er blank.

Das letzte Mal war er 1998 festgenommen worden, nachdem man ihn mit einem kleinen Mädchen erwischt hatte, das auf dem Beifahrersitz saß und seinen Penis in der Hand hielt. Der Richter war gnadenlos; da Arlen zum fünften Mal wegen unzüchtigen Verhaltens angeklagt war und dieses Mal sexueller Missbrauch dazukam, wurde er zu drei Jahren Gefängnis und einer chemischen Kastration verurteilt. Er war ein Vorzeigegefangener und war als neuer Mann aus dem Gefängnis entlassen worden. Er hatte sich in der Datenbank für Sexualstraftäter registrieren lassen, war immer rechtzeitig zu den Auffrischungsterminen für seine Depo-Provera-Injektionen erschienen und hatte ohne sich zu beschweren akzeptiert, dass seine Nachbarn sein Haus manchmal mit Eiern bewarfen. An Halloween schaltete er alle Lichter aus und reagierte nicht auf das Klingeln an der Tür. Kurz, er tat alles, was von ihm erwartet wurde.

Harold Arlen. Er passte perfekt ins Profil – ein Verdächtiger, der so sehr darauf stand, sich kleinen Mädchen zu zeigen, hörte damit normalerweise nicht einfach auf, selbst, wenn er dank der Spritzen nicht mehr vollständig funktionierte.

Es gab noch andere Verdächtige, die zu Teilen des Profils passten, und sie würden auch nicht aufhören, in diese Richtungen zu ermitteln, aber für den Moment …

Er klopfte mit den Fingerknöcheln drei Mal aufs Holz des Tisches, um Glück zu haben, und reichte die Akte dann mit einem Seitenblick an Charlotte weiter. „Schau dir das mal genauer an“, sagte er.

Sie schlug die Akte auf und fing, ohne ihm vorher in die Augen zu schauen, an zu lesen.

Er schob seinen Stuhl zurück, streckte sich und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Alle verstanden das Signal. Geroux fing an, die Papiere zu ordentlichen Stapeln zusammenzuräumen. Sparrow gähnte, ohne die Hand vor den Mund zu halten. Butler klappte seinen Laptop zu. Nur Charlotte rührte sich nicht. Sie war den ganzen Nachmittag über sehr zurückhaltend gewesen, hatte nur etwas gesagt, wenn man sie direkt ansprach. Sie war sehr auf ihre Arbeit konzentriert, was Baldwin als gutes Zeichen deutete. Vielleicht hatte sie auch noch einmal über das Geschehene nachgedacht und erkannt, dass es keine sonderlich gute Idee war, mit ihrem Boss ins Bett zu gehen.

Ohne den Blick von der Akte zu nehmen, setzte sie schließlich zum Sprechen an. „Hast du seinen derzeitigen Beruf gesehen? Er ist Fotograf bei Sears. Es ist ihm zwar nicht gestattet, Kontakt mit Kindern zu haben, aber ich wette, er hat ihn trotzdem. Wenn er es ist, besteht die Möglichkeit, dass er durch seinen Job seine Opfer stalkt. Wir sollten die Mordkommission noch einmal die Liste der Opfer durchgehen lassen, um zu sehen, ob irgendeines davon in den letzten sechs Monaten fotografiert worden ist.“

„Das ist ein guter Gedanke. Also stimmst du mir zu?“

„Alle seine vorherigen Arbeitsstellen hatten immer etwas mit Kindern zu tun. Er ist ein gut aussehender Kerl – er würde nicht auffallen.“ Sie kaute einen Moment auf ihrer Unterlippe, und Baldwin verspürte ein Ziehen tief in seinem Magen. „Ja, ich stimme dir zu. Ich denke, wir sollten uns einmal intensiver mit Mr Arlen unterhalten.“

„Auch die chemische Kastration passt. Das würde nämlich erklären, wieso keines der Mädchen vergewaltigt worden ist. Wir haben immer gewusst, dass das Messer für ihn ein Ersatz ist.“

„Wir müssen ihn noch einmal genauer unter die Lupe nehmen.“ Sie reichte Baldwin die Akte mit einem höflichen Nicken zurück. „Dann sollten wir uns gleich mit Goldman und der Mordkommission aus Fairfax County treffen. Sie sollen wissen, dass wir mehr über ihn wissen wollen. Das Mindeste, das sie tun können, ist Arlen zu beschatten, um zu sehen, ob er irgendetwas Verdächtiges unternimmt.“

In diesem Moment klingelte das Telefon und sein Herz setzte einen Schlag aus. Zu spät. Sie waren zu spät.

Charlotte nahm den Anruf noch vor dem zweiten Klingeln an. Sie hörte aufmerksam zu.

„Was ist los?“, wollte Baldwin wissen, doch sie schüttelte nur den Kopf und bedeutete ihm, sie in Ruhe zu lassen. Alle vier standen stocksteif da und warteten darauf, dass sie auflegte.

Nach einer schier endlos wirkenden Zeit beendete sie das Gespräch. Ihr Gesicht war blass, ihre bernsteinfarbenen Augen funkelten wütend. „Die Polizei von Great Falls hat gerade einen Anruf erhalten. Ein weiteres Mädchen wird vermisst. Ihr Name ist Kaylie Fields.“

Sie stießen kollektiv den angehaltenen Atem aus. Geroux zog eine Grimasse und setzte sich wieder an den Tisch. Der Rest des Teams blieb erwartungsvoll stehen.

„Wo ist sie entführt worden?“, fragte Baldwin.

„Ihre Eltern sind mit ihr und ihrem Bruder zu einer Baumschule gefahren, um ein paar Pflanzen für den Garten zu kaufen. Der Laden liegt mitten in Downtown Great Falls. Sie ist um eine Ecke gebogen und war weg. Natürlich gibt es in der Baumschule keine Kameraüberwachung. Er hat die Stelle mit Bedacht gewählt.“

„Sind wir sicher, dass er es war?“

„Die Beschreibung des Mädchens passt. Zehn Jahre alt, zierlich, blondes Haar. Der Zeitpunkt ist auch perfekt. Ich bin mir sicher, dass er es ist.“

Baldwins Herzschlag beschleunigte sich leicht.

„Wir müssen uns schnell diesen Arlen schnappen“, sagte Geroux. „Schau dich auch weiter bei den anderen um, Geroux. Wir können nicht alles auf eine Karte setzen. Aber, Sparrow?“

„Ja, Boss?“

„Während Geroux diese Akten zu Ende durchgeht, suchst du alles raus, was du über Arlen finden kannst. Ich will alles über ihn wissen – seine Vergangenheit, seine Kreditkartenabrechnungen, mit wem er spricht, welche Seife er benutzt. Er könnte einen Internetzugang haben – kümmere dich bitte auch darum. Er hat vor fünf Wochen mit dem Morden angefangen. Was war der Auslöser? Wenn Arlen unser Mann ist, gibt es etwas in seiner näheren Vergangenheit, das als Stressfaktor gedient haben kann? Sprich mit den Leuten bei Sears, forsche nach, ob er in letzter Zeit abgemahnt wurde. Schau dir seine näheren Verwandten an, seine Exfrauen, alle und alles, das du finden kannst.“

Sparrow lächelte ihn an, wobei sie darauf achtete, ihm nicht ihre Zähne zu zeigen. Die vorderen standen ein wenig schief, was sie wahnsinnig machte. Er fand, das verlieh ihr einen geheimnisvollen Touch, aber sie hasste diesen, in ihren Augen entstellenden Makel.

„Butler, ich denke, du solltest dich daran machen, die Datenbanken abzugleichen. Schau, was du ausgraben kannst. Zwischen Arlens Entlassung aus dem Knast und dem Beginn der Mordserie liegen drei Jahre. Geh ViCAP durch und schau nach, welche anderen Verbrechen in dieser Zeit in dieser Gegend verübt wurden und wirf, nur um sicherzugehen, auch Maryland und West Virginia mit in den Topf.“

„Suchst du nach einem Eskalationsmuster, Doc?“

„Ganz genau. Wir müssen sicherstellen, dass wir nichts übersehen haben.“ Er lächelte Butler an und klopfte ihm auf die Schulter. „Charlotte und ich werden mit den Jungs von der Mordkommission sprechen und sie darüber informieren, was wir vorhaben. Wir haben noch ein paar Stunden Tageslicht, die sollten wir nutzen.“

Als sie das Gebäude verließen, verspürte er einen Funken Hoffnung. Vielleicht würden sie den Fall doch noch lösen können.