Nashville
22:00 Uhr
Ariadne hatte es sich zur Aufgabe gemacht, zu wissen, wo die verschiedenen Coven sich versammelten. Als sie noch Teil des Rats gewesen war, hatte das zu ihren Rechten und Pflichten gehört. So wundervoll Wicca auch war, es gab immer welche, die es missbrauchten. Die versuchten, Macht über ihre Covenmitglieder zu gewinnen. Es gab ein besonderes Regelwerk, das die Arbeit in Hexenzirkeln regelte – Geld zu nehmen war verboten, genau wie darauf zu beharren, dass der Große Akt auf körperliche Weise ausgeführt werden musste, um im Coven aufgenommen zu werden. In den Zeremonien wurde der Große Akt nur symbolisch ausgeführt – ein Athame, der in einen Kelch getaucht wurde; ein Kelch, der sich dem Athame öffnete. Es gab viele Regeln, um sicherzustellen, dass auch bei diesen Zeremonien der freie Wille und die Freiheit des Einzelnen geachtet wurden.
Aber zu den Menschen gehört nun mal auch die Sünde des Machtstrebens. Ariadne war eine höhere Autorität, an die sich diejenigen wandten, die von der Macht in ihrem Coven missbraucht worden waren. Sie hatte solide Kenntnisse darüber, wo die meisten Coven aus der Gegend praktizierten, und eine noch bessere Antenne für die spirituellen Portale – Orte in der Natur, die der Göttin besonders nahestanden.
Sie erkannte den Ort aus ihrem Traum als heiligen Boden – sowohl für die Kirche als auch für Wicca. Ein Stück Land, das das Gute und das Böse gesehen hatte und somit von mächtigen Geistern durchdrungen war. Es handelte sich um einen privaten Friedhof am westlichen Rand des Davidson Countys. Am Ende eines kleinen Weges, der von einer zweispurigen Landstraße namens McCrory Lane abging.
Ihr Haus lag Downtown in der Sixteenth Avenue South, nur ein Stück entfernt von dem Teil der Stadt, der als Music Row bekannt war. Sie hatte die ganzen schweren Renovierungsarbeiten selber ausgeführt – die avocadogrüne Küche aus den 1960er-Jahren und ein schlecht mit Holz verkleidetes Büro herausgerissen und stattdessen weißen Marmor und halbhohe Wandvertäfelungen eingesetzt. Die Wände waren in satten Ostereierfarben gestrichen, der Stuck weiß angemalt worden. Die Kassettentüren hatten kristallene Türknäufe erhalten. Den Salon zierte ein originaler Fries von einem Wagenrennen im alten Rom, den sie restauriert hatte. Sie fuhr mit der Hand über die Wandleiste im Flur, froh, dass ihre Gemeinschaft Stolz nicht als Sünde ansah.
Die Fahrt zum Friedhof dauerte zwanzig Minuten. Durch das Village, an dem immer noch zu Halloween geschmückten Green Hills vorbei zum Old Hickory. Zu ihrer Rechten glühte die offene Fläche des unbeleuchteten Leichtathletikstadions schwarz in der Nacht. Sie bog links auf den Highway 100 ab. Die im Dunkeln liegende Straße wand sich durch die Landschaft, über die rollenden Hügel und die geschützten Wälder, an Pferderanches vorbei, bis sie schließlich an der Ensworth High School wieder in die Zivilisation mündete. Sie überquerte die Kreuzung Highway 100 und Old Harding und sah mit Entsetzen, dass mitten in der Natur eine neue Ladenzeile entstanden war. Dann verschwand die Straße wieder in der Dunkelheit.
Die Abzweigung war genau hier, direkt hinter dem Loveless Café und der Shell-Tankstelle. Sie bog ab und die freundlichen Lichter verschwanden. Die Straße schien direkt ins Verderben zu führen.
Da, auf der rechten Seite.
Sie fuhr langsamer und parkte auf dem grasbewachsenen Randstreifen. Das Land war hier flach, ging aber in hundert Metern in den Wald über. Der Pfad führte tief in den Wald hinein und endete in einer kleinen Lichtung. Die Grabsteine schauten wie Pilze aus dem Boden.
Sie legte sich den Umhang um die Schultern und zog ihn gegen die kühle Nachtluft dicht um ihren Körper. Der Sichelmond schickte nur spärliches Licht auf die Erde. Sie konnte gerade weit genug sehen, um nicht zu stolpern. Es war sehr still. Die Vögel und Eichhörnchen waren still wie ein Grab. Irgendjemand war in der Nähe.
Ihr Herz klopfte in ihrer Kehle, während sie immer schneller vorwärtsging, dann wenige Meter vom Auto entfernt über ein Loch stolperte und sich schmerzhaft den Knöchel vertrat. Sie biss sich auf die Lippe, um den Schrei zu unterdrücken. Unterdrückt fluchend kehrte sie zu ihrem Auto zurück, um die Taschenlampe zu holen.
Das künstliche gelbliche Licht würde ihr helfen, weiteren Stolperfallen aus dem Weg zu gehen. Sie setzte ihren Weg dieses Mal etwas langsamer fort und hielt den Strahl der Lampe so auf den Boden gerichtet, dass der Junge, wenn er denn hier war, sie nicht kommen sah. Die Bäume erhoben sich drohend über ihr, schwarze Stämme reckten sich gen Himmel, Äste waren wie zum Gebet erhoben.
Die Leere der Nacht war ihr nicht fremd. Sie spürte, wie die im Dunkeln liegende Erde um sie herum atmete, summte, fragte. Lebendig war. All die kleinen Gräser und Gebüsche traten im Zwielicht deutlicher hervor. Eine kleine Nebelbank hatte sich zwischen ihnen gebildet. Sie roch den Regen am Horizont, sah den Schatten einer Wolke unter der Spitze des Mondes hindurchsegeln.
Die Nacht war ihre Welt und sie ihre Geliebte.
Schritt für Schritt kam sie näher. Vierzig Meter. Zwanzig. Zehn. Sie roch ein Feuer. Eiche und Pappel und Blätter und Zweige, an denen die Flammen leckten. Sie wurde langsamer, schlich sich weiter heran. Das flackernde Feuer knackte, übertönte ihre leisen Geräusche. Sie schaltete die Taschenlampe aus. Der Nebel umfing ihn wie einen Liebhaber, verbarg ihn in seiner dichten Umarmung.
Er schlief. Sie konnte ihn nicht lesen. Tiefe Atemzüge mischten sich mit dem Rauschen des Windes.
Sie überlegte einen Moment, dann entfernte sie sich von der Lichtung und kehrte zu ihrem Auto zurück. Sie sollte keine Angst vor diesem Jungen haben, doch die hatte sie. Ihre Hände zitterten. Sie würde den Lieutenant anrufen, damit sie kam und ihn abholte.
Sie trat auf einen Zweig. Das Knacken des Holzes hallte durch die Stille. Sie erstarrte.
Am Feuer öffnete Raven seine Augen.