Northern
Virginia
19. Juni 2004
Baldwin
Baldwin saß in Goldmans Büro. Seine persönlichen Probleme konnten warten. Endlich war er so auf den Fall fokussiert, wie er es verdient hatte. Er schickte ein stummes Gebet gen Himmel, dass die Familien der ermordeten Mädchen es verstehen würden. Es wäre nett, ihre Absolution zu erhalten, auch wenn er sich selber niemals würde vergeben können.
Gretchen Rice war seit weniger als vierundzwanzig Stunden verschwunden. Es bestand Hoffnung, dass sie noch am Leben war. Das war es also. Ihr letzter Versuch, Arlen an die Wand zu nageln. Trotz der Rundumbewachung hatte er es geschafft, sich noch ein Mädchen zu schnappen.
Baldwin hatte die Akten wieder und wieder durchgeblättert und war immer nur zu dem gleichen Schluss gekommen. Alle Wege führten zu Harold Arlen. Er wusste, da draußen musste es Beweise geben, richtige Beweise. Bei dem Gedanken brannte es heiß in seiner Brust – er war immer noch wütend auf Charlotte. Was hatte sie sich nur gedacht? Sie könnten, nein, sie würden diesen Fall auch ohne die Regeln zu brechen lösen können. Und dazu mussten sie noch einmal Arlens Haus durchsuchen. Langsam, sorgfältig, methodisch. Dieses Mal würde er sich an der Suche beteiligen. Ihnen war bisher etwas entgangen, und bei Gott, er würde ihnen helfen, es zu finden.
Goldman kam endlich ins Büro und reichte Baldwin einen Stapel Papiere.
„Der neue Durchsuchungsbefehl ist gerade hereingekommen. Glauben Sie, dass wir dieses Mal endlich etwas finden?“
„Ich kann es nur hoffen. Es ist mehr eine Formalität, aber ich muss einfach sichergehen. Ich will jeden Zentimeter des Hauses auf den Kopf gestellt haben und meinen Leuten die Chance geben, sich alles einmal live anzuschauen. Wir haben etwas übersehen. Und aufgrund unserer Unachtsamkeit ist ein weiteres Mädchen verschwunden.“
Goldman sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an.
„Dr. Baldwin, Sie wissen, dass das nicht stimmt. Sie machen diese Arbeit schon eine ganze Weile. Sie wissen, dass Sie für die Taten nicht verantwortlich sind. Das ist Arlen, wenn er denn unser Mann ist. Es ist seine Schuld, nicht Ihre. Sie haben die Mädchen nicht entführt und umgebracht.“
„Wie auch immer, ich will Gretchen finden, und ich will sie ihren Eltern heil und gesund zurückbringen.“
„Das wollen wir alle.“
„Dann lassen Sie uns loslegen.“
Baldwin fuhr mit Goldman zusammen nach Great Falls. Geroux, Sparrow und Butler erwarteten sie bereits vor Arlens Haus. Charlotte war nirgendwo zu sehen, und das war auch gut so. Sie hatte sich nicht bei ihm gemeldet, aber auch das war ihm egal. Er wollte sich im Moment nicht mit ihr und der Bombe befassen müssen, die sie in seinen Schoß hatte fallen lassen. Er musste sich darauf konzentrieren, Gretchen lebend zu finden.
Er hatte für später am Abend einen Termin mit Garrett Woods vereinbart. Er würde Garrett zum Dinner einladen, ihm bei Steak und Whiskey sein Geheimnis beichten und auf das Beste hoffen. Garrett hatte wissen wollen, worum es bei dem Treffen ginge – instinktiv hatte er gespürt, dass etwas nicht stimmte, doch Baldwin war absichtlich vage geblieben. Er wollte warten, bis die Durchsuchung heute vorüber war. Was die anging, hatte er ein gutes Gefühl. Er wollte zu seinem Boss gehen und ihm einen Sieg zu Füßen legen können, bevor er seine Verfehlungen eingestand.
Die Affäre mit Charlotte war ein großer Fehler gewesen, und Garrett würde ihm helfen, zu entscheiden, was als Nächstes zu tun war. Von da aus könnte er alle notwendigen Schritte unternehmen, um das Vertrauen seines Teams wiederaufzubauen. Denn seine Leute waren nicht dumm. Er hatte das Gefühl, alle wussten, was zwischen ihm und Charlotte gewesen war – es hatte genügend schräge Blicke und geflüsterte Unterhaltungen gegeben. Sparrow war die letzten Tage besonders distanziert gewesen. Ja, das war der richtige Weg. Er würde Asche auf sein Haupt streuen und dann könnten sie sich alle wieder an die Arbeit machen, ohne dass Charlottes Schatten wie ein gut angezogener, hartnäckiger Geist um sie herumschwebte.
Und er könnte endlich eine Entscheidung treffen, welchen Weg er für seine eigene Zukunft einschlagen wollte.
Goldman und Baldwin stiegen aus dem Wagen. Goldman überprüfte aus Gewohnheit seine Waffe. Die Sonne strahlte auf sie nieder. Zwanzig Grad und ein wolkenloser Himmel waren eine willkommene Abwechslung nach dem Regen der letzten Tage. Dieser Juni war für Washingtoner Verhältnisse extrem feucht gewesen, was ihre Suchaktionen erheblich erschwert hatte. Der heftige Regen hatte jedoch die Schwere aus der Luft hinfort gespült.
Geroux winkte sie zu sich. „Wir sind gerade erst angekommen. Wir haben keine Ahnung, wo er ist.“
„Was meinen Sie mit ‚wo er ist‘?“, fragte Goldman.
„Arlen. Er macht nicht auf. Wir haben ungefähr fünf Mal geklopft – keine Reaktion.“
„Das gibt es nicht. Meine Leute haben ihn die ganze Nacht überwacht. Der Strom war bis zum frühen Morgen aus – auf gar keinen Fall hat er sein Auto aus der Garage holen können. Und wir haben sowohl die Vorder- als auch die Hintertür unter Beobachtung.“
„Na ja, ich weiß nur, dass er nicht aufmacht.“
Baldwin eilte die Stufen zur Haustür hinauf. „Wir müssen uns sofort Zugang verschaffen. Ich wette, der Mistkerl hat sich umgebracht.“ „Das fürchten wir auch.“
Baldwin hämmerte einmal gegen die Tür und versuchte dann den Knauf zu drehen. Verschlossen. Er zog seine Waffe, hob ein Bein und trat zu. Zum Glück war kein Sicherheitsriegel vorgeschoben. Die Tür schwang krachend auf, das Holz splitterte aus dem Rahmen. Vorsichtig verteilten sie sich im Haus. Baldwins Herz klopfte so laut, dass er kaum hörte, was die anderen im Untergeschoss sagten.
„Gesichert.“
„Gesichert.“
„Garage ist gesichert.“
Baldwin stand jetzt in Arlens Schlafzimmer. Nichts fehlte, nichts stand am falschen Platz. Im Schrank befand sich nur Kleidung. Er rief: „Gesichert“ und kehrte nach unten zurück.
„Wir haben nichts“, sagte Geroux. „Es ist, als ob er sich in Luft aufgelöst hätte.“
Baldwin hörte, dass Goldman in der Küche einem seiner Detectives einen gehörigen Anschiss verpasste. Offensichtlich war Arlen während des Stromausfalls unerkannt aus dem Haus geschlüpft. Allerdings gab es keine offenen Fenster und die Hintertür war genauso verschlossen, wie es die Vordertür gewesen war. Trotzdem lag es im Bereich des Möglichen, dass Arlen einfach auf den perfekten Moment gewartet und unbemerkt zur Tür hinausgeschlüpft war.
Der Detective beharrte darauf, dass es sich so auf keinen Fall abgespielt haben konnte. Er und sein Partner waren die ganze Zeit am Haus gewesen. Der einzige Mensch, der gestern während des Sturms hinein- und herausgegangen war, war die FBI-Agentin gewesen. Goldman wollte davon nichts hören.
Baldwin schloss einen Augenblick seine Augen, blendete die Unterhaltung aus und zwang seine Adrenalinausschüttung auf ein normales Maß zurück. Er atmete tief ein und aus. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Oh Gott. Warum war ihm das nicht eher eingefallen?
„Der Keller. Wir müssen uns den Keller noch einmal ansehen.“
Goldman unterbrach seine Tirade. „Warum? Da waren wir doch schon.“
„Weil es einen Tunnel gibt“, erwiderte Baldwin.
Im Keller war es so still wie in einem Grab. Baldwin ging als Erster. Vorsichtig schlich er die Treppe hinunter. Arlen konnte sonst wo sein. Er konnte nicht glauben, dass er da nicht früher drauf gekommen war.
Er spürte den Luftzug, bevor er die Öffnung sah. Roch die feuchte, muffige Luft. Alte Luft.
In der Tasche hatte er eine kleine Maglite. Er schaltete sie ein und ließ den Lichtstrahl über die Wand gleiten. Da. Das Licht verschwand in einem Loch in der Mauer, ein dunkler Durchgang irgendwohin. Das Regal war nach vorne gezogen worden und mit ihm die Trockenbauwand dahinter. Im Licht sah es aus wie Risse im Putz, wie man sie in einem unfertigen Keller erwarten würde. Baldwin schluckte seinen Ärger auf die Spurensicherung des Fairfax County und auf sein eigenes Team darüber herunter. Mein Gott, sie hätten Kaylie vielleicht retten können, wenn sie das hier eher entdeckt hätten.
Er hatte sich gerade umgedreht, um Geroux ein Zeichen zu geben, als die Schüsse fielen.
Er wirbelte herum und sah Sparrow zu Boden gehen. Er zielte in die Richtung, aus der die Schüsse gekommen waren, und sah aus dem Augenwinkel auch Butler zusammensacken. Während er schnell auf den Tunneleingang zuging, drückte er den Abzug immer wieder durch. Er presste sich gegen die eine Wand, Geroux nahm die andere. Goldman und sein Detective waren in Deckung gegangen.
Baldwin wollte Geroux gerade ein Zeichen geben, da drehte der sich in den Tunneleingang, gerade als ein weiterer frischer Kugelhagel durch die Luft sauste. Immer noch schießend wurde Geroux am Hals getroffen und sackte zusammen.
Baldwin drückte den Abzug durch. Das Feuer auf der anderen Seite verstummte. Aus ungefähr fünf Metern Entfernung ertönte ein gurgelndes Geräusch. Er hatte den Schützen getroffen. Wie in seiner jahrelangen Ausbildung gelernt, tat er jetzt automatisch alles, was nötig war, um die Bedrohung zu neutralisieren. Ein weiterer Schuss, dann verstummte das Gurgeln mit einem erstickten Seufzen.
Stille. Waren das Schritte? Nein, vermutlich bildete er sich das ein – nach den Schüssen klingelte es in seinen Ohren. Mithilfe der Taschenlampe erkundete er das andere Ende des Tunnels. Arlen saß mit dem Rücken zu ihm auf dem Boden. Er musste dabei gewesen sein, wegzulaufen, als Baldwins und Geroux’ Schüsse ihn getroffen hatten. Baldwin stieß ihm mit der Schuhspitze die Waffe aus der Hand und kniete sich hin, um seinen Puls zu fühlen. Er war tot.
Rufe und Schreie nach einem Krankenwagen ertönten. Die Jungs von Fairfax County machten sich nützlich. Baldwin war wie betäubt und spürte seine Hand nicht. Er musste beide Hände benutzen, um seine Waffe wieder ins Holster zu stecken. Nur langsam gelang es ihm, seine Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Schließlich hielt er einfach den Atem an und wartete, bis sein Herz sich ein wenig beruhigt hatte, bevor er weiteratmete.
In dem Augenblick hörte er das Weinen. Leise und ganz schwach.
Er stolperte über Arlens Leiche hinweg in die Dunkelheit, nur der schmale Schein der Taschenlampe wies ihm den Weg tief und tiefer in den Tunnel hinein. Er bog um eine Ecke und sah Gretchen auf dem Boden. Sie trug ein Nachthemd. Ihre Beine waren gebrochen, aber ansonsten war sie sehr lebendig.
Er nahm das Mädchen in seine Arme, spürte, wie ihre Stirn sich gegen seinen Hals drückte. Sie schluchzte. Er konnte nicht sagen, wessen Tränen auf seinem Hemd landeten – ihre oder seine.