Quantico
2. November
Baldwin hasste es, sich mit Taylor zu streiten.
Ihr am Telefon von Fitz zu erzählen war eine Katastrophe. Er hätte Sam zuerst anrufen sollen, hätte sie bitten sollen, bei Taylor zu sein. Er hörte, wie sich Risse in Taylors sonst so harter Schale bildeten, und das brach ihm das Herz. Sie war die stärkste Frau, die er kannte, und die mutigste. Und die törichteste, wenn sie in Rage geriet. Er hoffte von ganzem Herzen, dass er zu ihr durchgedrungen war, dass sie auf ihn hören und in Nashville bleiben würde. Sie hatte es zwar versprochen, aber er war nicht vollkommen überzeugt. Zu wissen, dass ihr Freund irgendwo da draußen in Gefahr war, konnte mehr sein, als sie ertrug.
Er musste diese Anhörung hinter sich bringen und zu Taylor zurückkehren, bevor sie etwas Dummes anstellte.
Er schaute auf die Uhr. In zwanzig Minuten würden sie weitermachen. Er musste die Sache irgendwie beschleunigen.
Als er vor dem Sitzungssaal ankam, wartete Reever bereits auf ihn.
„Was hat dich so lange aufgehalten? Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr auftauchen.“
„Dann weißt du ja, wie ich mich gestern gefühlt habe, Reever.“ „Touché.“
„Hör mal, was glaubst du, wie lange das noch dauern wird?“
„Das kommt ganz drauf an, Doc. Wie viel hast du ihnen noch zu erzählen?“
Baldwin schaute seinen Freund an. Ja, wie viel mehr war da noch? Er könnte sich einfach selber opfern, sich in sein Schwert stürzen, ihnen jetzt gleich alles geben und weggehen. Es wäre nicht das erste Mal, dass er darüber nachdächte, das Bureau zu verlassen.
Aber mit dem Pretender irgendwo da draußen brauchte er die gesamte Stärke des FBI hinter sich. Nein, er musste weiter vorsichtig vorgehen, nichts zugeben, das nicht absolut notwendig war. Er wusste immer noch nicht, was genau sie gegen ihn in der Hand hatten, obwohl er langsam eine Ahnung bekam. Und wenn er recht hatte, steckte er in größeren Schwierigkeiten, als selbst der Disziplinarausschuss ahnte.
„Baldwin, wir müssen jetzt rein. Bist du so weit?“ „Ja.“
Sie setzten sich an ihren Tisch. Tucker betrat den Raum wie ein Richter; Baldwin wartete auf die Aufforderung „Alle erheben sich“. Stattdessen schenkte Tucker ihm ein Lächeln, was Baldwin vollkommen verstörte. Es war nicht freundlich gemeint, so viel war sicher.
Tucker stellte sicher, dass seine Speichellecker bereit waren, und schaute dann Baldwin über seine lange Nase hinweg an. „Sie können dort fortfahren, wo Sie gestern aufgehört haben, Dr. Baldwin.“
„Gut. Bei Tagesanbruch haben wir die Durchsuchung durchgeführt. Wir hatten so sehr gehofft, Kaylie Fields lebendig zu finden.“
Northern
Virginia
17. Juni 2004
Baldwin
In einem abgewetzten Bademantel über einem kurzen, blau gestreiften Pyjama kam Harold Arlen an die Tür. Er trug Hausschuhe aus Elchfell und hielt ein Glas Orangensaft in der Hand. Alles in allem sah er aus wie jeder andere Bewohner dieses Viertels, der in seiner morgendlichen Routine unterbrochen worden war.
„Was zum Teufel soll das?“, verlangte er zu wissen.
Der Detective vom Fairfax County hielt ihm die Papiere vor die Nase. „Wir haben einen Durchsuchungsbefehl für diese Räumlichkeiten. Bitte treten Sie zur Seite, Mr Arlen.“
„Durchsuchungsbefehl? Warum? Ich habe nichts getan. Worum geht es hier, verdammt noch mal?“
„In den letzten paar Wochen sind mehrere kleine Mädchen verschwunden und …“
Arlen klappte der Unterkiefer herunter. „Sie glauben, ich bin der Uhrwerk-Mörder? Sind Sie bescheuert, Mann? Das ist das Lächerlichste, was ich je gehört habe.“
Die Luft knisterte, die Spannung wuchs. Baldwin und Charlotte hielten sich im Hintergrund. Das hier war Sache der Jungs von der Fairfax-Mordkommission. Goldman war da und überwachte die Ausführung des Durchsuchungsbeschlusses durch seine Männer. Arlens Bewährungshelfer war auch da. Als sie ins Haus drängten und Arlen einfach beiseiteschoben, packte der Bewährungshelfer ihn und hielt ihn fest. Das dämpfte sein Temperament jedoch kein bisschen – er hörte nicht auf, seiner Wut und Entrüstung Luft zu machen. Er sah Baldwin in die Augen, als wüsste er, wer hinter all dem steckte, und Baldwin spürte die unausgesprochene Drohung. Er lächelte einfach nur. Sie würden diesen Fall heute abschließen. Vielleicht, ganz vielleicht, würde die kleine Kaylie gefunden werden, bevor es zu spät war.
Ein tiefes Donnergrollen erklang in der Ferne. Baldwin konnte nicht sehr weit sehen. Sie waren zwischen den Häusern eingeschlossen, doch der Wetterbericht hatte für den heutigen Tag heftige Stürme vorhergesagt. Das fehlte ihnen gerade noch – Regen, der ihre Suche behindern würde.
Baldwin sah, dass die Gardine im Haus der Kilmeades gegenüber sich bewegte. Einige Sekunden später wurde die Haustür geöffnet. Mr Kilmeade trat auf die Terrasse. Trotz der frühen Stunde war er schon komplett angezogen. Selbst aus der Ferne war sein missbilligender Gesichtsausdruck zu erkennen. Entschlossen ging er die Treppe hinunter. Baldwin löste sich von den anderen, um ihm entgegenzugehen. Er traf ihn am Ende der Auffahrt. Kilmeade hatte sich so in Rage gebracht, dass Baldwin einen Arm ausstrecken musste, um ihn aufzuhalten.
„He, Sie können da jetzt nicht rüber.“
„Was ist los? Ist Harry verhaftet worden?“
„Hier findet lediglich eine Hausdurchsuchung statt. Durch den Kontakt mit Ihrer Tochter hat Arlen gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen. Sie müssen in diesem Fall jeder Spur nachgehen, und Arlen passt.“
Kilmeade zitterte vor Wut. „Das sind doch alles nur Vorurteile. Ich habe Ihnen gesagt, Harry würde nie einem Kind was zuleide tun. Das liegt nicht in seiner Natur. Und wie können Sie es wagen, mein totes Kind für Ihren Fall zu missbrauchen? Was ist sie für Sie – nur ein Mittel zum Zweck? Sie lebt nicht mehr, um sich selber zu verteidigen, es zu erklären. Wie können Sie es nur wagen?“
„Es tut mir leid, dass Sie das so aufregt, Mr Kilmeade, aber im Moment muss ich Sie bitten, zurückzutreten und die Polizei ihre Arbeit machen zu lassen. Warum gehen wir nicht in Ihr Haus zurück und trinken einen Kaffee?“
Kilmeade schüttelte den Kopf. „Nein. Sie sind in meinem Haus nicht willkommen. Sie haben mich und meine Familie benutzt, um Ihre schäbigen Ziele zu verfolgen. Ich werde jetzt einen Anwalt anrufen. Sie haben kein Recht, hierher zu kommen und Harry vorschnell zu verurteilen, nur weil er Ihren Vorstellungen eines Mörders entspricht.“
„Mr Kilmeade“, setzte Baldwin an, aber der Mann riss sich von ihm los und stürmte zurück in sein Haus. Großartig. Genau, was sie jetzt brauchten. Noch mehr Anwälte.
Baldwin überquerte die Straße und wurde von Charlotte mit einem breiten Grinsen an der Tür empfangen.
„Was ist los? Habt ihr Kaylie gefunden?“
„Nein, haben wir nicht. Aber er hat Unmengen an Kinderpornos auf seinem Computer. Er war angeschaltet – wir haben ihn wohl in seiner morgendlichen Andacht unterbrochen. Es sieht auch so aus, als wenn er sie sich nicht nur anschaut, sondern damit handelt. Und er hat Fotos von allen unseren Opfern, inklusive Kaylie, und verschiedenen Mädchen, die wir noch nicht identifiziert haben.“
„Dann haben wir ihn!“ Baldwin musste den Drang unterdrücken, Charlotte in die Arme zu ziehen. Stattdessen drückte er ihre Hand. Das waren fantastische Neuigkeiten.
„Aber es gibt keinerlei Hinweise auf Kaylie oder darauf, wo er sie festhält?“
„Nein. Das wird hier noch eine Weile dauern. Sie haben Arlen seine Rechte vorgelesen. Goldman lässt ihn zur Befragung nach Fairfax County bringen.“
„Hat er schon nach einem Anwalt gefragt?“
„Noch nicht, aber sein Bewährungshelfer dreht durch. Er behauptet, Arlen sei unschuldig und hätte mit all dem nichts zu tun.“ „Sind sie das nicht alle? Also unschuldig, meine ich. Kilmeade von gegenüber ist auch total aufgebracht und hat angekündigt, für Arlen einen Anwalt zu besorgen. Bereite dich also schon mal darauf vor. Die Mordkommission kümmert sich um die Familien, richtig? Müssen wir dabei sein?“
„Nein, das schaffen die alleine. Wir können uns ganz darauf konzent rieren, Kaylie zu finden.“
Baldwin nickte. „Okay. Ich will mir das Haus einmal anschauen, ein Gefühl für ihn kriegen, und ich will dabei sein, wenn sie ihn verhören. Irgendetwas übersehen wir noch.“
„Das habe ich mir schon gedacht. Goldman hat gesagt, er fährt dich rüber, wann immer du so weit bist. Es wird sowieso ein Weilchen dauern, bis Arlen erkennungsdienstlich erfasst ist und alles. Ich bleibe hier, wenn das für dich in Ordnung ist. Ich will sehen, was sie noch alles so finden.“
„Das klingt gut. Wir sehen uns dann später in Quantico.“