Nashville,
Tennessee
31. Oktober
15:30 Uhr
Taylor Jackson stand stramm, die Arme hinter dem Rücken, ihre blaue Uniform kratzte an den Handgelenken. Die Situation war ihr mehr als nur ein wenig peinlich. Sie hatte gebeten, dass es ohne große Zeremonie vonstattengehen würde. Ein einfaches „So, hier hast du deinen Job wieder“ hätte ihr genügt. Aber der Chief wollte davon nichts hören. Er hatte darauf bestanden, dass sie nicht nur ihren Rang als Lieutenant wiederbekam, sondern zudem in einer öffentlichen Zeremonie ausgezeichnet wurde. Ihr Gewerkschaftsvertreter war ganz begeistert und hatte auf ihren Wunsch hin die Klage gegen das Department fallen lassen, die Taylor nach ihrer unrechtmäßigen Degradierung hatte einreichen müssen. Sie war ebenfalls zufrieden. Sie hatte darum gekämpft, ihre alte Position zurückzuerhalten und fand es jetzt sehr angenehm, das alles hinter sich lassen zu können. Doch dieses Brimborium war ihr ein wenig zu viel.
Es war ein langer Nachmittag gewesen. Taylor fühlte sich wie ein Zirkuspferd und errötete unter den übertriebenen Lobgesängen auf ihre Karriere, ihre Rolle beim Ergreifen des Dirigenten, eines Serienmörders, der zwei Frauen ermordet und eine dritte entführt hatte, bevor er mit Taylor auf den Fersen aus Nashville geflohen war. Sie hatte ihn in Italien festgenommen und die Geschichte hatte es sofort auf die Titelseiten der internationalen Zeitungen gebracht, weil ihr gleichzeitig mit ihm einer von Italiens berüchtigsten Serienmördern ins Netz gegangen war. Il Macellaio. In einer Welt, in der die neuesten Nachrichten immer nur einen Mausklick entfernt waren, hatte das Ergreifen von zwei Serienmördern so viel Aufmerksamkeit erregt, dass der Chief gezwungen gewesen war, etwas zu unternehmen.
Taylor wurde nicht nur wieder in den Rang des Lieutenants erhoben, sie hatte auch die Leitung der Mordkommission zurück und ihr altes Team wieder um sich versammelt. Detectives Lincoln Ross und Marcus Wade waren aus dem südlichen Sektor zurückbeordert worden, und nach einer längeren Unterhaltung mit dem Chief hatte Taylor ihn davon überzeugen können, auch Renn McKenzie zu einem festen Teil des Teams zu machen. Sie hatte ihre Jungs wieder.
Nun ja, die meisten von ihnen.
Pete Fitzgerald war wie vom Erdboden verschwunden. Das letzte Mal hatte Taylor mit ihm gesprochen, als er mit seinem Schiff im Hafen von Barbados lag und auf Ersatzteile für seinen Motor wartete. Er hatte sie angerufen, um ihr zu sagen, dass er ihren alten Erzfeind gesehen hätte. Seitdem hatte sie nichts mehr von Fitz gehört. Sie machte sich furchtbare Sorgen und war überzeugt, dass der Pretender ihn sich geschnappt hatte – ein obszöner, grausamer Mörder, der es schaffte, in ihre Träume einzudringen und an den sie selbst in wachen Augenblicken immer wieder denken musste. Ein Mörder, den Taylor bisher nicht gefasst hatte; der eine, der davongekommen war.
Mittlerweile machte sie sich noch größere Sorgen, da die Küstenwache letzte Woche einen Notruf vor der Küste North Carolinas auffing. Das GPS-Signal passte zu der registrierten Nummer von Fitz’ Boot. Doch trotz tagelanger Suche war nichts gefunden worden. Die Küstenwache hatte die Suche abbrechen müssen, und da kein Verbrechen geschehen war, konnte die Polizei von North Carolina sich nicht einschalten. Taylor hatte das North Carolina State Bureau of Investigation angerufen, in der Hoffnung, dass man die Sache dort anders sähe, doch bisher hatte sie noch keine Rückmeldung erhalten.
Taylor versuchte den Gedanken an Fitz zu verdrängen, an seinen geschundenen, geschlagenen Körper, an das, was der Pretender ihm antat oder angetan hatte. Schuldgefühle übermannten sie, ließen ihr das Blut in den Adern gefrieren. Sie hatte den Pretender herausgefordert, hatte ihm gesagt, er solle doch kommen und sie holen. Doch statt ihrer hatte er sich ihren Freund geschnappt, dessen war sie sicher. Den Mann, der ihr abgesehen von Baldwin am nächsten stand. Ihren Vaterersatz. Sie war vermutlich dafür verantwortlich, dass Fitz umgebracht worden war, und dieses Wissen war nur schwer für sie zu ertragen.
Sie schaute sich in der Menge um, ließ ihren Blick über den See aus blauen Anzügen vor sich schweifen. John Baldwin, ihr Verlobter, saß in der ersten Reihe und grinste. Sein Haar war schon wieder zu lang, die schwarzen Wellen fielen ihm in die Stirn und über die Ohren. Sie widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen; das würde sicher in den Abendnachrichten gezeigt, und sie wollte nicht noch mehr Aufmerksamkeit, als sie bereits hatte. Stattdessen berührte sie ihren Verlobungsring und drehte die schlicht gefassten Diamanten um ihren Finger.
Ihr Team saß neben Baldwin: Lincoln Ross, dessen Haare gerade lang genug nachgewachsen waren, um in winzigen Dreadlocks von seinem Kopf abzustehen; Marcus Wade, dessen braune Augen glücklich strahlten. Zwischen ihm und seiner Freundin wurde es langsam ernst, und Taylor hatte ihn noch nie so zufrieden gesehen. Das neue Teammitglied, Renn McKenzie, saß zu Marcus’ Linker. McKenzies Lebensgefährte Hugh Bangor saß ein paar Reihen weiter hinten. Die beiden waren sehr diskret – nur Taylor und Baldwin wussten, dass sie ein Paar waren.
Sogar ihr alter Boss Mitchell Price war da und lächelte ihr wohlwollend zu. Er war der Kollateralschaden in den Vorfällen gewesen, die zu Taylors Degradierung geführt hatten, doch inzwischen war er darüber hinweg. Er leitete jetzt eine Firma für Personenschutz von Country-Music-Stars und hatte Taylor angeboten, sie könne jederzeit bei ihm einsteigen, wenn sie ihren Job bei der Nashville Metro satthabe.
Fitz war der Einzige, der fehlte. Taylor zwang sich, den Kloß he runterzuschlucken, der sich in ihrer Kehle gebildet hatte.
Der Chief steckte ihr jetzt etwas an die Uniform. Er trat mit einem breiten Lächeln zurück und fing an zu klatschen. Das Publikum fiel sofort ein, und Taylor wünschte sich, im Erdboden verschwinden zu können. Ihr gefiel dieser öffentliche Enthusiasmus bezüglich ihrer Person überhaupt nicht.
Der Chief deutete aufs Mikrofon. Taylor atmete tief ein und trat dann ans Rednerpult.
„Ich danke euch allen, dass ihr heute hier seid. Ich weiß das mehr zu schätzen, als ihr ahnt. Aber wir sollten dem gesamten Team danken, das mitgeholfen hat. Ich hätte nichts von all dem ohne die Hilfe von Detective Renn McKenzie, Supervisory Special Agent John Bald- win, Detective James Highsmythe von der London Metropolitan Police und all den anderen Officers der Metro Police geschafft, die im Großen wie im Kleinen an dem Fall mitgearbeitet haben. Die Stadt Nashville ist diesen Männern und Frauen zu tiefstem Dank verpflichtet. Und jetzt genug geredet. Machen wir uns wieder an die Arbeit.“
Lachen erschallte im Raum, und erneut brandete Applaus auf. Lincoln pfiff auf zwei Fingern, und dieses Mal verdrehte Taylor die Augen. Baldwin blinzelte ihr zu, seine klaren grünen Augen strahlten vor Stolz. Mit kerzengeradem Rücken und roten Ohren dankte sie dem Chief und den anderen Würdenträgern, nickte ihrer neuen Chefin Commander Joan Huston zu und verließ das Podium. Die Menschen erhoben sich und fingen an, sich zu unterhalten; die Stimmen der Truppe klangen in ihren Ohren wie ein Wiegenlied. Sie war zurück – und das fühlte sich verdammt gut an.
Baldwin fing sie ab und nahm ihre Hand. „Wie geht es der Ermittlerin des Jahres?“
Sie atmete tief ein und stieß die Luft geräuschvoll durch die Nase wieder aus. „Frag nicht“, sagte sie. „Das ist so schon peinlich genug.“
Er lachte und gab ihr einen Kuss auf die Handfläche. Ein Versprechen für später.
Lincoln und Marcus umarmten sie und McKenzie schüttelte ihre Hand.
„Glückwunsch, LT!“ Lincolns zahnlückiges Grinsen gab ihr das Gefühl, nach Hause gekommen zu sein. Sie klopfte ihm auf den Rücken. Price gesellte sich zu ihrer Gruppe, schüttelte Taylor mit ernster Miene die Hand. Er hatte seinen roten Schnurrbart extra für den Anlass getrimmt und gewachst.
„Was wird deine erste Amtshandlung als neu ernannter Lieutenant sein?“, fragte Marcus.
„Euch allen ein Bier auszugeben. Immerhin ist heute Halloween. Kommt, verschwinden wir von hier. Wir wäre es, wenn wir auf ein Guinness ins Mulligan’s gehen?“
„Klingt gut“, sagte Marcus.
Taylor deutete auf ihre gestärkte Uniform. „Ich muss mich nur eben noch umziehen.“
„Wir auch. Wer als Erster in der Umkleidekabine ist.“
Zehn Minuten später fühlte Taylor sich in ihrer Zivilkleidung – Jeans, Cowboystiefel, ein schwarzer Kaschmirrollkragenpullover und ein offener grauer Cordblazer – wesentlich wohler. Sie klippte das Holster an den Gürtel und riskierte dann einen Blick auf ihre Marke. Ihren Phantompanzer. Als Taylor sie verloren hatte, hatte sie damit beinahe alles verloren. Zärtlich strich sie kurz über das goldfarbene Relief und steckte sie dann vor dem Holster an den Gürtel. Endlich war sie wieder komplett. Energisch schloss sie die Spindtür und gesellte sich zu den Jungs in den Flur. Sie bemerkte, dass Baldwins Blick zu ihrer Hüfte glitt und tat so, als sähe sie sein zufriedenes Lächeln nicht.
Nachdem sie das Criminal Justice Center verlassen hatten, hob sich Taylors Laune augenblicklich. Die laute, Witze machende Gruppe von Männern hinter ihr und Baldwin an ihrer Seite erinnerten sie daran, wie viel Glück sie hatte. Wenn sie jetzt nur noch Fitz finden und den Pretender unschädlich machen könnte, wäre ihr Leben perfekt.
Sie waren gerade auf Höhe des Hooters, als Taylors Handy klingelte. Sie warf einen Blick auf das Display und sah, dass es die Zentrale war. Sie hob eine Hand, um den anderen zu signalisieren, dass sie den Anruf entgegennehmen musste, und blieb am Straßenrand stehen.
„Jackson“, sagte sie.
„Lieutenant, Sie werden bei einem 10-64J gebraucht; möglicherweise Mord. 3800 Estes Road. Ich wiederhole, ein 10-64J.“
Das J jagte ihr einen Schauer über den Rücken. J stand für juvenile, das Opfer war also ein Jugendlicher. Sie hasste es, Verbrechen zu bearbeiten, in die Kinder verwickelt waren.
„Roger, habe verstanden. Bin auf dem Weg.“ Sie klappte das Handy zu. „Hey, Jungs. Tut mir leid. Ich muss an einen Tatort.“ Sie zog ihr Portemonnaie aus der Innentasche ihres Blazers und reichte Lincoln zwei Zwanziger. Er schüttelte den Kopf.
„Kommt nicht infrage, LT. Wenn du wieder im Dienst bist, sind wir es auch.“
„Aber ihr habt heute frei. Also geht was trinken, wie geplant.“
„Auf gar keinen Fall“, widersprach Marcus. Sie stellten sich Schulter an Schulter auf, eine Wand aus Testosteron und Beharrlichkeit. Taylor wusste, wann es keinen Sinn hatte zu streiten. Die Männer waren genauso froh, wieder mit ihr vereint zu sein wie sie.
„Ich fahre“, bot McKenzie an.
Taylor lächelte die Männer an und drehte sich dann zu Baldwin um. „Kommst du auch mit?“
„Was? Die Nashville Police braucht die Hilfe von einem Profiler?“, zog er sie auf; in seinen grünen Augen tanzte der Schalk.
„Natürlich brauchen wir die. Kommt, lasst uns gehen. Wir müssen mit zwei Autos fahren.“
Sie fuhren ins West End. McKenzie im ersten Wagen, Taylor und Baldwin folgten. Zu dieser Tageszeit nach Green Hills zu kommen war gelinde gesagt schwierig. Es herrschte ein ständiges Stop-and-go, aber McKenzie führte sie über diverse Nebenstraßen. Erst die West End hinauf, dann links auf die Bowling, durch die wunderschön bewaldeten Viertel mit den riesigen grünen Rasenflächen und den großen Häusern, die weit zurückgesetzt auf den weitläufigen Grundstücken standen.
Viele der Häuser waren für Halloween geschmückt. Einige sehr professionell mit gruseligen Horrorbildern im Vorgarten: schwarzorange blinkende Lichter, Grabsteine und lebensgroße Mumien – einige offensichtlich von Kinderhand erschaffen –, falsche Spinnennetze und freundliche Geister. An der Ecke Bowling und Woodmont gab es einen großen, aufblasbaren kopflosen Reiter. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und früher am Tag hatte es geregnet. Der Nebel erhob sich in dünnen Schleiern aus dem Rasen. Ein paar Kürbislaternen waren schon angezündet, ihr orangefarbenes Leuchten vermittelte einen düsteren Trost.
Nachdem sie links auf die Estes abgebogen waren, brauchten sie nur noch wenige Minuten, um die angegebene Adresse zu erreichen. Die Erstmelder – Feuerwehrleute und Rettungssanitäter – waren bereits wieder abgerückt. Streifenwagen säumten die Straße, die mit Flatterband abgesperrt war. Blaue und weiße Lichter blitzten unterm Abendhimmel auf und wurden an die Wände der Backsteinhäuser geworfen. Ein Stück die Straße hinunter war eine kleine Gruppe auf dem Weg von Tür zu Tür. Die jüngsten Halloweenfans, begleitet von ihren Eltern, bevor die Dunkelheit ganz hereinbrechen würde. Doch auch ohne Halloween hätte die Szene gruseliger kaum sein können.
Paula Simari stand an ihrem Streifenwagen. Ihr Diensthund Max saß auf der Rückbank und schien sich die Aktivitäten mit einem breiten Hundegrinsen im Gesicht anzuschauen. Seine Dienste wurden heute Abend anscheinend nicht gebraucht.
Die fünf gingen auf Paula zu, die abwehrend die Hand hob. „Wow. Kein Grund, die großen Geschütze aufzufahren. Es ist nur eine Leiche.“ Sie zeigte über die Schulter auf ein weitläufiges rotes Backsteinhaus. „Wie ist es, wieder im Dienst zu sein, Lieutenant?“
„Sehr schön, Officer.“ Taylor mochte Simari. Sie war ein netter Mensch, immer einen Spruch auf den Lippen, aber auch ernst, wenn es sein musste. „Warum gibst du uns nicht eine kurze Zusammenfassung, und danach schauen wir uns in Ruhe am Tatort um?“ Sie trug sich in die Anwesenheitsliste ein und reichte den Stift an Baldwin weiter. Alles genau nach Vorschrift, so war es ihr am liebsten.
„Gerne. Die Leiche ist ein siebzehnjähriger weißer Junge namens Jerrold King. Seine Schwester Letha hat ihn entdeckt, nachdem sie von einer Einkaufstour mit ihren Freundinnen zurückkam – sie gehen beide auf die Hillsboro, hatten heute aber wegen einer Lehrerfortbildung einen halben Tag frei. Sie sagt, sie wäre in sein Zimmer gegangen, um sich eine CD zu leihen, und habe ihn nackt auf dem Bett vorgefunden. Sie rief 911, doch er war bereits tot, als die Rettungssanitäter eintrafen.“
„Selbstmord?“, fragte Taylor.
„Glaube ich kaum“, erwiderte Simari grimmig. „Außer er stand auf Schmerzen.“
„Schmerzen?“ Baldwin hob fragend die Augenbrauen.
Simari biss sich auf die Unterlippe. „Ich denke, ihr solltet euch das selber anschauen. Deshalb habe ich dich direkt angefordert.“
Taylor musterte sie für einen Moment, dann zuckte sie mit den Schultern. „Okay. Gehen wir. Baldwin, du kommst mit mir. Marcus, Lincoln, könnt ihr euch mal unter den Leuten umhören?“ Sie zeigte auf die Auffahrt des Nachbarhauses, auf der sich eine kleine Gruppe Menschen versammelt hatte, einige in Kostümen, andere offensichtlich gerade von der Arbeit kommend. Die Anzüge waren den Verkleidungen im Verhältnis von drei zu eins überlegen. „Fragt, ob irgendjemand was gesehen hat. McKenzie? Sorg dafür, dass die Rechtsmedizin auf dem Weg ist. Wir brauchen jemanden, der die Todesursache untersucht, und Kriminaltechniker zur Spurensicherung.“
„Wird erledigt.“
Taylor folgte Simari die kunstvollen Stufen zum Haus hinauf und zwischen weißen, dorischen Säulen hindurch auf eine breite Veranda. Ein Hexentrio hockte zwischen zwei mit Spinnweben verzierten Schaukelstühlen; die Tür wurde von Chrysanthemen in schwarzen, schmiedeeisernen Töpfen flankiert, die orangefarbenen Blüten wirkten frisch und neu.
Taylor band sich ihre Haare schnell zum Knoten und zog dann die lilafarbenen Gummihandschuhe über. Baldwin tat es ihr gleich – mit einem Mal waren ihre Hände die Werkzeuge von Profis und nicht mehr die Empfänger von zärtlichen Küssen. Sie konnten weder riskieren, den Tatort mit ihrer eigenen DNA zu verunreinigen, noch die Ermittlung in dem Fall durch ihre persönliche Beziehung zu beeinträchtigen. Anfangs war es Taylor schwergefallen, so zu tun, als wären sie und Baldwin nicht gefühlsmäßig miteinander verbunden. Inzwischen fiel es ihr leichter. Sie hatte sich einige seiner Techniken zur Wahrung emotionaler Distanz abgeschaut.
Simari hatte sich auch schon Handschuhe übergezogen und betrat nun als Erste das Haus.
Ein Teenager mit schlechter Haut und einem tiefschwarzen Bob saß am Fuß der Treppe. Das Mädchen war kreidebleich und zitterte. Sie hatte schwarze Ringe unter den Augen und einen Hauch dunklen Lippenstift im Mundwinkel. Ihre Lippen waren zu einer dünnen Linie zusammengepresst, als fürchtete sie, ihre Welt würde zusammenbrechen, sobald sie den Mund öffnete.
„Lieutenant Jackson, das ist Letha King. Sie hat die Leiche gefunden.“
Taylor beugte sich vor, um mit dem Mädchen auf Augenhöhe zu sein. „Letha. Dein Verlust tut mir sehr leid. Sind deine Eltern auf dem Weg hierher?“
Das Mädchen sah ihr nicht in die Augen, sondern schüttelte nur den Kopf. Simari schaltete sich ein. „Sie sind auf Reisen. Wir versuchen gerade, sie zu erreichen.“
Letha schlang die Arme um ihre Taille, versuchte, sich selber zusammenzuhalten. Ihre Nägel waren schwarz lackiert, der Lack blätterte an einigen Stellen bereits ab. Taylor war versucht, die Hand auszustrecken und das Mädchen zu berühren, ihr ein wenig Wärme und Trost zu spenden, doch sie hielt sich zurück. Erst musste sie den Toten sehen, danach konnte sie sich Gedanken über die Lebenden machen.
Sie trat zurück auf die Veranda und pfiff nach McKenzie. Er war am Handy und hob fragend die Augenbrauen. Sie bedeutete ihm, herzukommen. Er nickte, sagte noch etwas ins Telefon, klappte es dann zu und kam zu ihr. Taylor sprach sehr leise.
„Im Haus sitzt die Schwester des Opfers. Das Mädchen ist total verstört. Sie bräuchte jemanden, der sich ein wenig um sie kümmert. Würde es dir etwas ausmachen?“
„Überhaupt nicht. Alles andere ist organisiert.“ „Super. Danke. Komm mit rein.“
Gemeinsam kehrten sie ins Haus zurück und Taylor führte McKenzie zu Letha.
„Letha, das ist Detective McKenzie. Er wird sich einen Moment um dich kümmern, während wir nach deinem Bruder sehen. Wir gehen jetzt nach oben. Wenn du irgendetwas brauchst, sag Detective McKenzie Bescheid, okay?“
Das Mädchen nickte stumm wie ein Grab. Taylor beschlich ein seltsames Gefühl, eine Vorahnung, dass noch Schlimmeres auf sie wartete, obwohl sie nicht sagen konnte, warum.
„Wie wäre es, wenn wir in die Küche gehen, Letha?“ McKenzie streckte ihr die Hand hin. Das Mädchen nahm sie und erhob sich unsicher auf die Füße. Ihr Blick war völlig ausdruckslos. Sie ließ zu, dass McKenzie sie mit sich zog. Das lag am Schock. Armes, schauriges kleines Ding.
Die Treppe aus Mahagoni schwang sich an den gegenüberliegenden Wänden der Eingangshalle in den ersten Stock hinauf, wo die beiden Seiten mit einer Art Laufsteg verbunden waren. Unbewusst zählte Taylor die Stufen mit, als sie die linke Treppe nahmen. Dreiunddreißig Stufen. Der Blick ins Foyer hinunter wurde nur leicht von einem funkelnden Kronleuchter verdeckt, der mit künstlichen Spinnweben geschmückt war, die wie ein durchsichtiger Vorhang wirkten. Der Fußboden im ersten Stock bestand aus breiten Holzplanken, auf denen teure orientalische Teppiche lagen und kapriziös platzierte Tische mit Kristallvasen und Nippes aus aller Welt standen. An den Wänden hingen Stammesmasken. Entweder reisten die Eltern sehr viel oder sie waren Sammler.
Von dem Flur gingen vier Türen ab. Eine davon stand offen.
Taylor warf Baldwin einen Blick zu. Er wirkte ruhig, gelassen, auf alles vorbereitet. Ganz kurz schaute er sie fragend an. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass sie stehen geblieben war, bis Simari sich räusperte.
„Alles in Ordnung?“
War es das? Taylor hatte ein seltsames Gefühl, als wenn eine starke Hand gegen ihre Brust drückte, sie von der Zimmertür wegschob. Sie konnte keinen der üblichen Gerüche entdecken, die normalerweise mit einem Gewaltverbrechen einhergingen – Blut, Angst, menschliche Exkremente. Es roch nach … Blumen. Nachdem sie erkannte, dass der Geruch aus der offenen Zimmertür kam, konnte sie ihn auch benennen. Jasmin. Der Tatort roch nach Jasmin. Sobald sich ihre Nase an diese Vorstellung gewöhnt hatte, war sie in der Lage, den unterschwelligen Duft nach Kupfer wahrzunehmen, der sich unter der ext remen Süße verbarg.
Das seltsame Gefühl verschwand. Sie lächelte Simari an.
„Tut mir leid. Mir geht es gut. Ich musste nur … riechen.“
„Ich weiß“, sagte Simari. „Es ist komisch. Bei Jungen erwarte ich normalerweise nicht, dass sie Parfüm benutzen. Aber was weiß ich schon. In dieser Welt ist alles möglich. Er ist hier drin.“ Sie zeigte auf die offene Tür und ließ Taylor vorangehen.
„Vermutlich das Parfüm seiner Schwester. Obwohl ich es unten nicht gerochen habe“, merkte Baldwin an.
Manchmal hatte Taylor an einem Tatort das überwältigende Gefühl, auf Film gebannt zu werden; als wenn ein unsichtbarer Videograf jede ihrer Bewegungen mit der Kamera aufnahm. Sie auf der Leinwand, einen dunklen Flur entlanggehend, während die Zuschauer wussten, dass sie etwas Grauenhaftes erwartete. Sieh dich um, geh nicht allein in den dunklen Raum, lauf lieber aus der vermeintlichen Sicherheit des Hauses in den Wald, wenn der Mörder mit einem Messer hinter dir her ist. Sie hatte Gänsehaut auf den Unterarmen. Gott, sie hasste Horrorfilme.
Sie schüttelte den Gedanken ab. Halloween machte sie jedes Jahr nervös. Und an Halloween einen Tatort zu besichtigen spielte ihrer überbordenden Fantasie nur in die Hände.
Gewappnet betrat sie Jerrold Kings Zimmer.
Sie bemühte sich, die ganze Szene in sich aufzunehmen, ohne sich ein Urteil zu bilden. Es war ihr Job als leitende Ermittlerin, sicherzustellen, dass ihre Detectives keine voreiligen Schlüsse zogen und keine unbesonnenen Entscheidungen trafen. Sie legte viel Wert auf fundierte Meinungen, begründete Schlussfolgerungen und die Kraft der Beweise.
Aber Jerrold Kings Leiche weckte in ihr den Wunsch, alles zu vergessen, was sie je gelernt hatte.
Sie ging näher heran. Er lag nackt auf dem Rücken, die Arme seitlich ausgebreitet. Sein Mund stand offen, in den Mundwinkeln hatte sich Spucke gesammelt. Die Lippen waren blau, die Pupillen starrten ins Leere. Es gab keine Anzeichen einer Fesselung, keine Würgemale. Gut, das konnte noch kommen – Quetschungen brauchten eine Weile, um sich zu zeigen. Im Moment war seine nackte Haut frei von sichtbaren Hämatomen. Aber es gab Blutkanäle, die ihm ins Fleisch geritzt worden waren. Der Effekt der roten Linien auf der weißen Haut war erschreckend. Klaffende Wunden in zartem Fleisch. Ohne Zweifel mit einem sehr scharfen Messer verursacht. Doch es waren keine Stichverletzungen. Die Schnitte folgten einem bestimmten Muster.
Taylor stand einen halben Meter vom Bett entfernt und beugte sich vorsichtig vor, um besser sehen zu können. Baldwin stand auf der anderen Seite des Bettes. Sie schaute von den Wunden in seine besorgt blickenden Augen.
„Nein“, sagte sie. „Das kann nicht sein.“
„Doch, das kann es“, erwiderte er.
„ Großstadtsage“, warf Simari ein.
Taylor trat ein paar Schritte zurück, um zu sehen, ob sie in den Wunden irgendeinen Sinn erkennen konnte. Ja, aus der Entfernung sah sie es deutlich.
Fünf Schnitte, an den Punkten verbunden und von einem leicht zackigen Kreis eingefasst.
Ein in die Brust des toten Jungen geritztes Pentakel.