Nashville
16:45 Uhr
Taylor hatte sich noch nie so sehr gewünscht, dass ein Tag endlich enden möge. Selbst gedrehte Horrorfilme, Vampire und nun eine selbst ernannte Hexe. Sie wartete nur noch darauf, dass ein Werwolf sich freiwillig stellen würde, um das Ensemble komplett zu machen.
Ariadne saß ihr gegenüber, den Rücken kerzengerade, ohne die Rückenlehne des Stuhls zu berühren. Die Frau blinzelte sehr wenig, was Taylor etwas irritierend fand. Sie schob mit dem Finger eine Briefklammer über ihren Schreibtisch.
„Okay, noch einmal von vorne. Sie sind eine Hexe.“
Ariadne lachte, ein melodisches, perlendes Geräusch, bei dem Taylor ungewollt lächeln musste. „Ich bin eine allein praktizierende Dianische Hexe, ja. Ich studiere die Lehren der Wicca seit vielen Jahren, aber meine Familie stammt von Hexen ab – meine Mutter war eine und ihre auch. Ich habe meinen Weg Mitte zwanzig gefunden, als ich die Macht, die ich erlangte, nicht länger leugnen konnte. Ich habe Veränderungen verursacht, Probleme, und musste einen Weg finden, mir diese Macht, die sich in mir aufbaute, zunutze zu machen. Durch ausgiebiges Training ist es mir gelungen, mich zu zügeln und meine Energien zu konzentrieren. Normalerweise würde ich im Büro der Mordkommission nicht tot überm Stuhl hängen wollen, aber die Göttin hat mich gebeten, Ihnen zu helfen. Und vertrauen Sie mir, Sie benötigen Hilfe. Sie haben es mit etwas sehr Starkem, Bösem zu tun und brauchen einen Beschützer.“ Sie hielt inne und musterte Taylor mit schief gelegtem Kopf. „Aber wer hätte je gedacht, dass ich einmal Athene beschützen würde?“
„Wie bitte?“
„Sie kennen sich selber nicht sehr gut, Lieutenant Jackson.“
Taylor ließ die Briefklammer los. „Hören Sie, das ist alles ganz toll und ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie mir helfen wollen. Aber ich glaube nicht an Zaubersprüche und Magie, und ich habe eine ganze Menge zu tun.“ Sie wollte sich erheben und diese verrückte Frau, die direkt durch sie hindurchzuschauen schien, hinausbegleiten.
„Wirklich nicht?“, fragte Ariadne ungerührt. „Sie sind nicht das kleinste bisschen abergläubisch? Sie werfen kein Salz über Ihre Schulter oder wünschen sich nicht etwas, wenn Sie eine Sternschnuppe sehen?“
Taylor verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich bin genauso abergläubisch wie jeder Mensch. Aber das bedeutet nicht, dass ich an Hexen glaube.“
„Aber Sie glauben an das Böse, Lieutenant. Sie haben es mit eigenen Augen gesehen. Ich weiß, dass das Böse existiert. Ich denke, Sie werden feststellen, dass wir einander sehr nützlich sein können, wenn Sie mich helfen lassen.“ Sie hielt inne und konzentrierte sich auf ihre Hände, die anmutig und manikürt auf ihrem Schoß lagen. „Ich verspreche, Ihnen keine Warze an die Nase zu hexen.“
Sie schaute grinsend auf und Taylor konnte nicht anders, als das Lächeln zu erwidern. Die Frau hatte eine bezaubernde Lache und kleine, weiße Zähne – sie entsprach definitiv nicht dem Bild, das Taylor sich von einer Hexe gemacht hatte.
Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr. Sie schaute auf und sah die zarte, geflochtene Kette aus Silber um Ariadnes Hals, deren reich verzierter Anhänger in Form eines Pentakels genau in der Kuhle zwischen ihren Brüsten und ihrem Hals lag. Ohne nachzudenken zuckte sie leicht zurück.
„Jungfrau, Mutter und altes Weib“, sagte Ariadne.
„Wie bitte?“
„Sie haben gedacht, dass ich nicht wie eine Hexe aussehe. Wir glauben an Inkarnationen. Jungfrau – die junge Hexe. Mutter – die fruchtbare Hexe. Altes Weib – die weise Frau. Ich befinde mich noch mehr auf der jungfräulichen Seite, wie Sie sehen können.“ Sie lachte wieder, und Taylor fiel in ihr Lachen mit ein. Sie fühlte sich gut, voller Energie. Sie setzte sich wieder und kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe.
„Okay, woher wussten Sie, was ich denke?“
„Ich habe Ihre Gedanken gelesen.“
Taylor zuckte zusammen. Ariadne lehnte sich auf ihrem Stuhl vor. Ihre Augen funkelten.
„Ich mache Witze. Ich habe nicht Ihre Gedanken gelesen, obwohl wir so etwas können. Es ist allerdings nicht das Gedankenlesen, an das Sie denken, es ist mehr ein Halbschlaf, eine Art, in Ihre Gefühle zu schauen. Sein Bauchgefühl, seine Emotionen helfen einem, zu entscheiden, was ein Mensch wirklich denkt. Sie machen das doch auch, Lieutenant. Genau wie ich. Und ich bin ehrlich gesagt ziemlich gut darin. Ich muss immer aufpassen, nicht zu tief zu schauen. Das ist nämlich nicht sonderlich höflich. Aber ich hatte keinen Anlass, in Ihren Kopf zu gucken – Ihr Gesicht ist wie ein Spiegel Ihrer Seele. Durchsichtig. Transparent. Sie haben es mir selber verraten.“
Taylor war erschrocken. Sie hatte ihre Miene immer für undurchschaubar gehalten, das war eine ihrer Stärken. Fitz hatte ihr beigebracht, dass ein guter Cop ein halber Schauspieler sein musste, um das Vertrauen der Verdächtigen zu erlangen – deshalb war sie in Befragungen so gut. Ein leichter Schmerz schoss durch ihren Körper. Sie richtete sich auf und versuchte ihn zu verdrängen.
„Intuition hat nichts mit Gedankenlesen zu tun“, sagte sie.
„Aber sicher hat es das. Sie assimilieren die Gefühle Ihres Gegenübers und stellen sie in einen Kontext.“ Das Lächeln verschwand und Ariadne zog die Stirn ein wenig kraus. „Hören Sie, Sie mögen nicht an Hexen glauben, und das ist in Ordnung. Aber diese Morde, diese Situation, ist sehr, sehr ernst. Das hier hat nichts mit Gläserrücken auf Pyjamapartys zu tun. Das hier ist echt und es ist gefährlich. Es gibt in Nashville eine ganze Gemeinde von Leuten, die verschiedene heidnische Religionen ausüben. Mehr, als Sie sich vorstellen können. Die Zahl geht in die Tausende. Es ist eine friedliche, sanfte Religion, aber es gibt immer jemanden, der die Macht der Göttin zum Schaden anderer nutzen will. Mit so jemandem haben wir es hier zu tun, und Sie brauchen meine Hilfe, um ihn aufzuhalten.“
„Ihn?“, fragte Taylor.
„Ja. Ich weiß seinen Namen nicht, aber er ist mächtig – und jung. Und er ist nicht allein.“
Taylor ließ Ariadne in ihrem Büro zurück. Sie brauchte eine kleine Pause.
Sie fand McKenzie und Marcus in eine Unterhaltung vertieft auf dem Flur.
„Was ist los?“, fragte sie.
McKenzie zog eine Grimasse. „Barent hat nach seinem Anwalt verlangt. Wir mussten seine Befragung abbrechen.“
„Das ist zu schade. Habt ihr vorher irgendetwas Interessantes aus ihm herausbekommen?“
Marcus rieb sich das Kinn. „Nicht wirklich. Ich glaube, wir haben genug, um einen Durchsuchungsbefehl für sein Haus anzufordern – mit seiner Behauptung, die Morde begangen zu haben, und den Videos, die seine Anwesenheit an den Tatorten bestätigen, sollte das kein Problem sein. Ich werde gleich den Antrag stellen und gucken, was ich noch organisiert bekomme. Er weiß definitiv mehr, als er zugibt, aber ich bin immer noch nicht überzeugt, dass er wirklich der Verantwortliche ist. Seine Persönlichkeit ist etwas stark fragmentiert, wenn ich das mal so sagen darf. Ich habe ihn vorsichtshalber erkennungsdienstlich behandeln und in eine Zelle bringen lassen. Ich wollte ihn nicht nach Hause schicken und riskieren, dass hier irgendetwas schiefläuft. Er wirkt, als müsste er etwas beweisen, aber ich glaube einfach nicht, dass er die Kinder ermordet hat.“
McKenzie lehnte sich gegen die Wand. „Er ist ein wahrer Narzisst, so viel steht fest. Und ein wahrer Gläubiger. Er glaubt wirklich, ein psychischer, sich von Energie ernährender Vampir zu sein und einer ganzen Nation von Vampiren vorzustehen. Er erzählte uns, er führte seit zwei Jahren Krieg gegen einen anderen Vampirkönig namens Laurent. Sie haben eine Online-Kampagne gegeneinander laufen und ihre Jünger attackieren einander gegenseitig aufs Heftigste. Die schöne neue Welt der Vampirkriege findet im Cyberspace statt.“
Lincoln gesellte sich zu ihnen. Die kleine Besprechung erregte die Aufmerksamkeit einiger vorbeikommender Officers, die sich keine Mühe gaben, ihre Neugierde zu verbergen.
„Bist du sicher, dass wir es nicht mit irgendeiner Form von LARP zu tun haben?“
„LARP? Was ist das denn?“, fragte Marcus.
McKenzie erklärte: „Live Action Role Play, also eine realistische Form von Rollenspiel. LARPs sind unglaublich intensiv. Für jemanden, der mental labil ist, kann so ein Rollenspiel der entscheidende Wendepunkt sein. Ein sehr guter Hinweis, Lincoln. Das wäre nicht das erste Mal. In Orlando hatten wir einen Fall mit einem Vergewaltigungsrollenspiel namens RapeAid, in dem ausführliche Massenvergewaltigungen vorkamen. Ein paar Männer entschieden, diese Fantasie auch in der realen Welt auszuleben – sie haben vier Frauen vergewaltigt, bevor wir sie fassen konnten.“
„Ist es möglich, dass der Mörder irgendetwas aus diesen LARPs nachgespielt hat? Und es deshalb gefilmt und online gestellt hat?“, wollte Taylor wissen.
„Möglich ist alles“, erwiderte McKenzie.
„Ich kann auch noch was aus der Ecke beisteuern. In meinem Büro sitzt eine Frau, die behauptet, eine Hexe zu sein. Sie heißt Ariadne.“
McKenzie schaute sie kopfschüttelnd an. „Ariadne die Hexe. Das ist echt gut.“
„Warum?“
„Kennst du die Geschichte von Ariadne nicht?“ Drei fragende Augenpaare richteten sich auf ihn. Er schüttelte erneut den Kopf. „Was hab ich mir mit euch nur eingebrockt. Ariadne war die Tochter von König Minos von Kreta. Sie half Theseus, das Labyrinth zu überwinden, ohne vom Minotaurus getötet zu werden, und hat dann später Dionysos geheiratet.“
Taylor hob eine Augenbraue. „Griechische Mythologie. Jetzt ergibt es einen Sinn, dass sie mich Athene genannt hat“, sagte sie. „Das passt.“ McKenzies Augen funkelten amüsiert. „Stellst du sie mir vor?“
„Sicher.“ Sie machten sich zusammen auf den Weg zu den Büros der Mordkommission.
„Mit etwas Glück sind wir dem Mörder am Ende des Tages schon auf der Spur. Wir müssen uns alle ein wenig ausruhen – ihr Jungs seht ganz schön mitgenommen aus. Schlaft euch heute Nacht mal richtig aus, und morgen früh gehen wir dann alles in neuer Frische an, falls nicht bald ein Durchbruch kommt.“
„Das gilt auch für dich, LT“, sagte Lincoln.
„Ich weiß, und ich werde mich dran halten. Aber ich muss erst noch mit Juri Edvin sprechen. Wie geht es mit dem Internetkram voran?“
Lincoln blieb stehen und lehnte sich gegen die Wand. „Es ist der totale Albtraum. Jedes Mal, wenn das Video irgendwo entfernt wird, wird es sofort wieder hochgeladen. Aber langsam kriegen sie es in den Griff – sie arbeiten ja erst seit ein paar Stunden daran. Sie versuchen alles, um alle Aktivitäten nachzuverfolgen. Mein Kontakt bei YouTube soll mich im Laufe des Tages noch anrufen. Da heute Samstag ist, müssen sie einige der erfahrenen Leute reinholen, die am Wochenende nicht arbeiten, und das nimmt etwas mehr Zeit in Anspruch. Als wir das letzte Mal telefoniert haben, glaubten sie, eine mögliche Spur zu der Originalseite zu haben, von der das Video hochgeladen wurde.“
„Gut. Ich bin froh, dass sie uns so bereitwillig helfen. Das ist mal eine nette Abwechslung. Du kümmerst dich weiter darum und hältst mich auf dem Laufenden, was passiert. Marcus, besorg einen Durchsuchungsbefehl. Wollen wir doch mal sehen, was Mr Vampire in seinen Schränken versteckt. Lass dich von nichts aufhalten.“
Ariadne war immer noch da, wo Taylor sie zurückgelassen hatte. Sie saß auf dem Stuhl in Taylors Büro. Taylor schlug vor, in den Konferenzraum zu wechseln, damit sie mehr Platz hatten.
Lincoln starrte Ariadne einen Moment mit offener Neugierde an, dann entschuldigte er sich, aber nicht ohne der Frau einen Moment zu lange die Hand zu schütteln. Ariadne lächelte ihn an und Taylor hätte schwören können, dass Lincoln errötete.
McKenzie schüttelte ihr ebenfalls interessiert die Hand, aber sein Blick war kühl und abschätzend und verriet nichts außer professioneller Neugierde. Marcus hielt sich im Hintergrund, was Taylor interessant fand. Er murmelte etwas wegen des Durchsuchungsbefehls und eilte aus dem Raum.
Taylor und McKenzie setzten sich Ariadne gegenüber an den Tisch. Taylor bedeutete ihr, anzufangen. „Erzählen Sie uns bitte, was Sie wissen. Aber würden Sie mir vorher noch eine andere Frage beantworten? Warum wollen Sie uns helfen?“
„Nun, das ist nicht schwer. Dieser Hexenmeister ist für uns alle eine Bedrohung. Haben Sie je von der Wiccan Rede gehört?“, fragte Ariadne.
„Nein“, sagte Taylor.
„Das ist unser Moralkodex, das, woran alle guten kleinen Hexen und Hexenmeister glaubten. Es ist unsere Version des Hippokratischen Eids. Die Rede selbst ist lang und kompliziert – sie gibt zum Beispiel Anleitungen, welche Feinheiten bei der Arbeit mit Zaubersprüchen an Feiertagen zu beachten sind und so etwas. Aber am wichtigsten sind die letzten beiden Zeilen. ‚Diese acht Worte erfüllen die Wicca-Weisung: Wenn du niemandem schadest, tue, was du willst.‘ Wir glauben, dass jeder Zauber, den man wirkt, dreifach auf einen zurückfällt. Das Gesetz der Wiederkehr nennen wir das. Was bedeutet, wenn man jemanden mit einem negativen Zauberspruch belegt, fällt die Negativität auf einen selber zurück und beißt einen in den Hintern.“
„Warum sollte eine Hexe dann jemals einen negativen Zauberspruch verhängen?“, fragte Taylor.
„Manche glauben, sie könnten es kontrollieren, anderen ist es einfach egal. Manchmal ist es wichtig und notwendig, wie bei einem Fesselungsbann. So wie ich versucht habe, den Mörder mit einem Fesselungsbann zu belegen, um ihn davon abzuhalten, noch weitere Unschuldige zu töten. Aber die große Mehrheit der guten Hexen wagt sich nicht einmal in die Nähe von negativen Zaubersprüchen. Sie sind einfach zu unvorhersehbar.“
„Ihrer Meinung nach waren die Morde von gestern also die Arbeit einer Hexe?“
„Eines Hexers. Ein junger, mächtiger Hexenmeister. Ich glaube sogar, dass ein ganzer Coven daran beteiligt war. Ich habe sie letzte Nacht im Subversion gesehen.“
„Was ist das?“
„Ein Coven? Das ist eine Gruppe gleichgesinnter Hexen, die zusammenarbeiten wollen, um sich gegenseitig mit ihrer Macht zu stärken. Ein Hexenzirkel, sozusagen.“
„Ich meinte das Subversion. Davon habe ich noch nie gehört.“
„Oh, tut mir leid, Lieutenant. Das ist ein Club auf der Second Avenue. Er findet nur einmal im Monat oder so statt und an besonderen Tagen wie Samhain – sorry, Halloween. Als ich von den Morden gehört habe, habe ich sofort angefangen, nach ihnen Ausschau zu halten. Sie haben mich zu dem Club geführt. Es waren zwei, ein Junge und ein Mädchen. Übrigens, nur so nebenbei, nicht, um sie zu verwirren, aber sie praktizieren auch Vampirismus, die Frischlinge. Ein zweites Mädchen hat sich zu ihnen gesellt. Sie hatten einen fürchterlichen Streit, dann ist sie weggelaufen. Die beiden Älteren sind ihr gefolgt. Ich habe sie dann verloren. Es war eine ziemlich heftige Nacht. So viele dieser Gothic-Kids glauben, sie seien Psychovampire und gehen in die Clubs, um ihren Hunger zu stillen. Die Energie ist überwältigend, vor allem an einem Feiertag. Sie entziehen einem jegliche eigene Energie – verdammt, es hat sogar mich nicht unberührt gelassen, und ich habe einen felsenfesten Schutz. Sich ohne ausdrückliche Erlaubnis an anderen zu laben ist eine ganz schlechte, dunkle Angewohnheit, die wir nicht gutheißen.“
„Sie haben sie Frischlinge genannt.“
„Das ist ein Spitzname für junge Goths. Im Wicca nennen wir sie Fluffy Bunnys – Kuschelhäschen. Aber Fluffys sind noch etwas anderes – sie sind mehr Poser, Möchtegerns. Diese Frischlinge wissen, was sie tun – sie sind nur noch zu jung, um von einem traditionellen Coven aufgenommen zu werden. Dafür muss man mindestens achtzehn sein.“
„Frischlinge“, sagte Taylor. „Wie sahen sie aus?“
„Das Mädchen war groß, so groß wie Sie. Schwarzes Haar, bleiche Haut, grüne Augen. Sehr grüne Augen – vielleicht waren es gefärbte Kontaktlinsen. Sie trug die traditionelle Kleidung – ihr Make-up zeichnete sie als RomantiGoth aus.“
„RomantiGoth? Was ist das nun wieder?“, fragte Taylor.
Nun schaltete sich McKenzie ein. „Es gibt Tausende von Untergruppen in der Gothic-Szene – Feen und Industrials und Cybergoths und Gravers. Ich könnte ewig so weitermachen. Jeden Tag tauchen neue Gruppierungen auf.“
Ariadne musterte ihn mit Interesse. „Sie sind also einer von uns?“, fragte sie.
„Nicht mehr“, gab McKenzie gelassen zurück.
„Hm.“ Ariadne legte den Kopf schief und wandte sich dann wieder Taylor zu. „Das ist hauptsächlich ein amerikanisches Phänomen. In Europa ist die Trennung längst nicht so stark. Wir brauchen hier einfach für alles ein eigenes Label.“
„Aha. Fahren Sie bitte fort“, bat Taylor.
„Der Junge war ähnlich gekleidet, trug aber schwarze Hosen statt eines Rocks. Die beiden trugen ein Korsett, Plateaustiefel, die bis zum Knie geschnürt wurden, und Umhänge. Sein Haar ist ganz kurz und schwarz gefärbt. Sie trugen beide Make-up, aber ich würde sie wiedererkennen, wenn ich sie sehe. Sie stachen aus der Menge heraus, haben mich irgendwie beeindruckt. Die Jüngste war auch geschminkt, aber nicht so aufwendig gekleidet.“
„Können wir Ihnen Fotos zeigen?“ „Sicher.“
„Was ist der Unterschied zwischen Goths und Wicca?“
„Oh, da gibt es viele. Wicca ist eine erdverbundene Religion. Goths sind … lassen Sie es mich so sagen, die meisten Leute mögen es nicht, traurig zu sein. Die Welt sagt, man soll glücklich sein. Goths hingegen empfangen die Dunkelheit mit offenen Armen. Sie erkunden ihre eigene Traurigkeit und die Traurigkeit von anderen.“
Sie schaute zu McKenzie, der nickte, obwohl er offensichtlich peinlich berührt war. Der arme Junge wurde vor seiner Chefin bloßgestellt. Taylor hatte Mitleid mit ihm.
„Und das Make-up?“, fragte sie.
„Das ist eine Form, sich auszudrücken. Sie mögen es, zu verschwinden, die Aufmerksamkeit von ihrer körperlichen Form abzulenken und auf ihre spirituelle Seite zu richten. Die Echten sind erfahrene Hexen und Hexenmeister – sie verstehen das Heidentum und all seine Spielarten durch und durch. Wenn Sie diesen Jungen finden, werden sie auch ein Zauberbuch finden, das wir normalerweise unser Buch der Schatten nennen. Es ist unser intimstes Werkzeug, voller Hoffnungen und Träume, Zaubersprüche und Notizen darüber, was funktioniert hat und was nicht. Es ist ein wichtiger Teil unseres Lebens und wird Ihnen viele Hinweise liefern. Genau wie sein Altar.“
„Mir scheint, durch ihre Andersartigkeit lenken sie die Aufmerksamkeit erst recht auf sich, anstatt von sich weg“, merkte Taylor an. „Das ist die Sicht eines Außenseiters. Die meisten suchen, forschen, versuchen, ihren Platz in der Welt zu finden. Sie finden den Gothic-Lifestyle und er passt ihnen, so wie man die Lieblingsjeans anzieht und weiß, dass man in ihr fabelhaft aussieht. Es ist sowohl eine emotionale als auch eine körperliche Reise.“
„Aber die schwarze Kleidung, das Herumhängen auf Friedhöfen. Was hat es damit auf sich?“
Ariadne lächelte. „Das liegt daran, dass sie traurig sind. Aber anders als die meisten heißen sie dieses Gefühl willkommen. Wenn man innehalten und in sich hineinschauen könnte, zugeben, was einen wirklich unglücklich macht, um dann zu versuchen, sich aus den richtigen Gründen zu verändern – nämlich zur Stärkung des eigenen Ichs –, wäre man besser dran. Es ist in Ordnung, traurig zu sein. Man muss nicht immer glücklich sein. Es ist gesund, ab und zu depressive Gedanken in seiner Psyche zuzulassen, über all das Schlimme nachzudenken, das passieren kann, ohne dass man von der Gesellschaft dafür verurteilt wird. Schauen Sie sich die Buddhisten an. Sie sind meist die leitende Kraft hinter den disziplinierten Goths. Buddha lehrt uns, sich nicht mit den Gefühlen zu verbinden, während man sie erlebt. Gefühle sind einfach nur eine Reaktion auf einen Reiz, eine Empfindung, die dich nicht erklärt, nicht definiert. Diese Ebene der Selbsterkenntnis ist der Schlüssel zum Lebensstil der Goths. Kurz gesagt, sie trauern um die Menschheit.“
„Das sind Teenager. Wie viel Selbsterkenntnis können die schon besitzen?“
„Sehr viel. Sie suchen nach einer unglaublich intelligenten Person, Lieutenant, die sehr belesen ist, sich von Mythologie über Naturalismus bis Botanik in allem sehr gut auskennt. Jemanden, der Fähigkeiten besitzt, der ein natürlicher Anführer sein kann. Jemanden, der gelernt hat, dass die Dunkelheit eine Spannung in sich trägt, der glaubt, dass er sich von den Energien der Nacht ernähren kann, und jemand, der uns alle, die wir danach streben, für das Gute zu arbeiten, in Angst und Schrecken versetzen kann. Wenn Sie ihn gefasst haben, möchten Sie vielleicht seinen Athame auf Blutspuren untersuchen. Ich nehme an, dass er die Opfer damit geritzt hat.“
„Was wissen Sie darüber?“
„Über die Schnitte? Die Pentakel? Nun, das war überall in den Nachrichten. Das dient der Anregung, dem Nervenkitzel. Es garantiert, dass darüber gesprochen wird. Der Mörder ist außergewöhnlich egozentrisch – er will seine Signatur hinterlassen.“
Ariadne setzte sich anders hin und ihr Ton wurde jetzt ernster. „Das war nicht irgendein Typ, der vom Glockenturm geschossen hat, Lieutenant. Das war methodisch, geplant, und vielleicht ist es noch nicht vorbei. Sie müssen nach jemandem mit ganz speziellen Fähigkeiten Ausschau halten.“
„Nach jemandem wie Ihnen“, warf McKenzie ein.
Ungerührt erwiderte Ariadne: „Ja, nach jemandem wie mir. Aber ich würde nie töten, um meine Ziele zu erreichen. Das ist streng verboten. Sie sollten das am besten wissen. Außerdem widerspricht es meinem persönlichen Ehrenkodex.“
„Ich wundere mich schon ein wenig, wie gut Sie informiert sind, Ariadne“, sagte Taylor. „Und nicht nur oberflächlich, sondern Sie wissen Einzelheiten und haben aktiv in eine polizeiliche Ermittlung eingegriffen.“
„Das stimmt.“ Ein kleines Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.
„Wir haben einen Mann in Gewahrsam genommen, der behauptet, die Morde begangen zu haben“, sagte McKenzie. „Er behauptet außerdem, der König der Vampire zu sein.“
Ariadne warf die Hände in die Luft, ihre langen Haare wogten wie eine Welle um ihren Körper. „Hah! Die Vampyre Nation ist ein Witz. Sie sind Parasiten, Ungeziefer. Dieser sogenannte Vampirkönig lügt. Der Hexenmeister, der das hier getan hat, ist zu klug, um sich selber zu stellen.“ Sie hielt einen Moment inne, dann fuhr sie fort: „Obwohl er natürlich schon damit angeben will. Hat er Ihnen schon einen Brief geschickt? Ich dachte, ich hätte letzte Nacht so etwas aufgeschnappt.“
McKenzie schaute sie eindringlich an. „Sie würden eine gute Polizistin abgeben, Ariadne.“
Taylor lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Sie kniff die Augen zusammen. Was hatte diese Frau vor? Ja, es war ein sensationeller Fall, der jeden berührte, der mit ihm zu tun hatte. Und es war nicht ungewöhnlich, dass Menschen sich selber stellten oder zugaben, bestimmte Kenntnisse von einem Verbrechen zu haben. Es hatte schon in der Vergangenheit selbst ernannte Hellseher gegeben, die versucht hatten, ihr ihre Dienste anzudienen. Menschen, die behaupteten, sie könnten Vermisste finden, mit ihren Seelen kommunizieren, wenn sie bereits verstorben waren. Alle von ihnen hatten sich schlussendlich als Scharlatane herausgestellt, als Ruhmessüchtige, die versuchten, die Ermittlungen so zu beeinflussen, dass sie ihren verqueren Zielen dienten. Bei einem so großen Fall wie diesem konnte Taylor das Risiko einfach nicht eingehen. Sie erkannte, dass sie bereits eine Entscheidung getroffen hatte.
„Ariadne, ich werde Ihnen jetzt Ihre Rechte vorlesen. Sie verstehen, dass ich Sie als Verdächtige behandeln muss – Sie lassen mir keine andere Wahl. Das dient Ihrem Schutz genauso sehr wie meinem.“
Ariadne nickte zustimmend. „Tun Sie, was Sie für nötig halten, Lieutenant. Ich habe nichts zu verbergen – mein Herz ist rein. Sie müssen tun, was Ihnen Ihr Weg erzählt. Ich bin nicht beleidigt. Ehrlich gesagt, wenn Sie das nicht tun würden, hätte mich das ein wenig misstrauisch gemacht.“
„Wieso das?“
„Weil ich jetzt weiß, dass Sie mir glauben.“