Das Chaos wieder in geordnete Bahnen zu bringen hatte ungefähr eine halbe Stunde gedauert, was in Anbetracht der Umstände ziemlich schnell war. Taylor hatte das vorübergehende Hauptquartier auf der Straße vor dem Haus der Kings aufgeschlagen. Jedem aus ihrem Team war eine Gruppe von Streifenpolizisten zugeteilt worden, die er bei ihrer jeweiligen Aufgabe leiten sollte. Sie hatte Beamte, die von jedem, der die Straße betreten wollte, die Adresse erfragten und ob er oder sie Kinder hatte. Letztere wurden zu einem zweiten Kontrollpunkt weitergeschickt, an dem man sie fragte, ob sie wüssten, wo ihr Kind sei. Wenn das Kind nicht per Telefon erreicht werden konnte, wurde die Adresse notiert und ein Team dorthin geschickt. Eine vierte Gruppe von Streifenbeamten nahm die Notrufe an und leitete die Informationen weiter.
Inzwischen gab es sieben Leichen in fünf verschiedenen Häusern. Taylor konnte nur beten, dass sie alle Opfer gefunden hatten.
Vier weibliche und drei männliche Teenager, alle im Alter zwischen vierzehn und achtzehn, waren tot. Schnell hatte sich herausgestellt, dass sie alle auf die Hillsboro High School gegangen waren – von den verschiedenen Privatschulen oder den Kindern, die zu Hause unterrichtet wurden, hatte es bisher noch keine Meldungen über vermisste oder tote Schüler gegeben.
An zwei Tatorten fanden sich mehrere Opfer – ein Paar beim sexuellen Intermezzo, der Penis des Jungen noch immer von einem Kondom geschützt, und zwei Mädchen, die gemeinsam den Nachmittag verbracht hatten, die Physikbücher zwischen lauter Zeitschriften wie US Magazine, People und Cosmopolitan auf dem Boden verstreut.
Die Anwohner waren nicht sehr erfreut über Taylors Identifikationssystem, aber ihr fiel kein effizienterer Weg ein, um die Situation in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen. Sie musste eine unbewegte Miene zeigen, präsent sein. Sie musste gefasst und vernünftig wirken. Sie war dafür ausgebildet worden, Notfälle dieser Größenordnung zu handhaben und nutzte alles, was sie gelernt hatte. Sie hatte die Situation unter Kontrolle.
Eine kleine Stimme in ihrem Hinterkopf schrie unaufhörlich – vielleicht verpasst du ihn, vielleicht lässt du den Mörder mit noch mehr davonkommen –, aber sich selber infrage zu stellen würde die Sache nicht besser machen. Sobald sie abschließend festgestellt hatten, dass das primäre Ereignis vorbei war, konnten sie anfangen, die Puzzleteile zusammenzufügen.
Das erste gefundene Opfer, Jerrold King, war schon mindestens ein paar Stunden tot. Taylor arbeitete mit der Prämisse, dass die Morde irgendwann zwischen halb eins und drei Uhr am Nachmittag stattgefunden hatten. Schulschluss war um zwölf Uhr gewesen, die erste Leiche war um fünfzehn Uhr gefunden worden. Vorausgesetzt, die Opfer hatten den Vormittag in der Schule verbracht, ergab sich daraus ein vorläufiger Zeitrahmen, mit dem sie arbeiten konnten.
Bei dem Gedanken an die methodische Inszenierung der Leichen überlief Taylor ein Schauer. Sie wünschte, sie könnte einen Tag vorspulen, damit sie eine Vorstellung davon hätte, was die Kinder getötet hatte. Irgendeine Form von Drogen – die Blaufärbung der Haut und die stecknadelkopfgroßen Pupillen deuteten auf eine Überdosis hin –, irgendetwas, das sie alle eingenommen oder gespritzt hatten. Ihr kam der düstere Gedanke, dass es sich um einen Massenselbstmord handeln könnte. Aber das erklärte nicht die Pentakel, oder? Konnten sieben Teenager einen Massenselbstmord koordinieren und sich, während sie starben, Pentakel in die Brust ritzen?
Nein. Diese Verbrechen zeugten von Einwirkung von außen. Sie waren von jemandem begangen worden, der schnell, gnadenlos und effizient zuschlug.
Taylor sah, dass McKenzie der jungen Letha King half, in einen Streifenwagen einzusteigen. Der Wagen fuhr davon, der leere Blick des Mädchens war stur nach vorne gerichtet. McKenzie stellte sich neben Taylor und schaute dem Auto hinterher.
„Was ist los?“, wollte Taylor wissen. „Hast du von ihr irgendetwas in Erfahrung bringen können?“
„Sie hat nicht viel gesagt. Ich dachte, es wäre besser, sie im Auge zu behalten und außer Haus zu bringen, bis ihre Tante kommt und sie holt. Sie hat vor ein paar Minuten angerufen, dass sie auf dem Weg ist.“
„Gut. Wenn sich alles ein wenig beruhigt hat, wollen wir noch mal mit ihr sprechen.“
Sie gingen zum Haus der Kings zurück. Trotz der vielen Leute war es in der Küche ungewöhnlich ruhig.
Baldwin reichte ihr einen Stapel Fotos. „Bist du bereit? Simari hat mir ihre überzähligen Polaroids überlassen, damit wir anfangen können, die Tatorte nachzustellen. Auch wenn mir das noch eine Weile aus dem Gedächtnis gelingen wird, fürchte ich.“
„Ja, mir auch. Konnten alle Opfer identifiziert werden?“
Lincoln nickte. „Prinzipiell schon. Einige müssen noch bestätigt werden, sobald ihre nächsten Angehörigen informiert wurden. Zwei der Familien befinden sich auf Reisen.“
„Wir können die Namen erst dann der Presse mitteilen, wenn alle Opfer offiziell identifiziert sind. Ich denke, wir sollten so lange warten und dann alle Namen gemeinsam bekannt geben.“
„Wir können es versuchen, aber du weißt, dass einige der Namen durchsickern werden. Das liegt in der Natur der Sache.“
„Ich weiß. Versucht es einfach, so gut es geht, okay? Jetzt hätte ich gerne einen kurzen Überblick über die Tatorte und ein paar Namen zu den Gesichtern. Wer wurde nach Jerrold King und Ashley Norton als Nächstes gefunden?“
Sie legte die Bilder auf die Granitarbeitsfläche. Lincoln schob sie hin und her, bis sie in der richtigen Reihenfolge lagen.
„Wir haben Jerrold, dann Ashley Norton. Danach die beiden Doppelmorde, Xander Norwood mit Amanda Vanderwood und Chelsea Mott mit Rachel Welch. Danach haben wir wieder ein einzelnes Opfer gefunden, Brandon Scott.“ Er tippte auf das letzte Foto, auf dem das erstarrte Gesicht eines jungen Mannes zu sehen war, der noch nicht genügend Sonnenaufgänge gesehen hatte. Wunderschöne Gesichtszüge, vom Tod zerstört. Taylor fragte sich, wie er wohl lebend ausgesehen hatte, schob den Gedanken dann aber beiseite. Es hatte keinen Sinn – die toten Gesichter der Teenager würden sie sowieso ihr Leben lang verfolgen.
„Gibt es irgendwelche Hinweise auf besondere Verbindungen zwischen den Opfern? Irgendwelche Feinde?“
„Nein. Hier weiß niemand irgendetwas.“
„Wo wurde das erste Pärchen gefunden?“ „Im Haus der Vanderwoods.“
„Okay, schauen wir uns das mal an.“
Der Weg dorthin dauerte nicht lange – die Villa der Vanderwoods lag nur eine Viertelmeile die Estes Road hinauf. Sie war weniger protzig als die anderen beiden Häuser, in denen Taylor gewesen war. Kleiner, mit weiß getünchten Fensterläden und einer roten Vordertür. Alle Lichter brannten und die Kriminaltechniker gingen ein und aus. Eine kleine Gruppe Nachbarn hatte sich im Vorgarten versammelt und schaute schweigend zu. Die Trauer hatte sich bereits tief in ihre Gesichter eingegraben.
Die Treppe nach oben schien endlos, der inzwischen vertraute Geruch nach Jasmin hing schwer in der Luft. Amandas Zimmer war gleich das erste auf dem Flur. Ein Todesermittler schoss Fotos. Das laute Klicken des Auslösers war ein für Tatorte typisches Geräusch, aber heute kam es Taylor laut und aufdringlich vor.
Xander Norwood lag auf dem Rücken auf dem Boden. Er war nackt. Amanda Vanderwood war ebenfalls nackt, sie lag halb auf dem Bett, die Arme hingen über den Rand. Taylor fiel auf, dass Amandas Zeigefinger Xanders Handfläche berührte. Es wirkte, als hätte sie es geschafft, mit letzter Kraft halb aus dem Bett zu kriechen, und Xander hatte seine Hand nach ihr ausgestreckt, damit sie sich in den letzten Minuten ihres schwindenden jungen Lebens noch einmal berühren konnten. Immerwährende Liebe.
Zum ersten Mal seit vielen Jahren verspürte Taylor an einem Tatort eine leichte Übelkeit.
Wäre Baldwins Berührung nicht auch das, was sie als Letztes in ihrem Leben spüren wollte? Würde sein Gesicht nicht das letzte Bild sein, dass sie sehen wollte, seine Lippen, die sie berührten, seine Worte, die ihre Ohren füllten? Mit dem, den man liebte, gemeinsam zu sterben war die höchste Gnade.
Taylor schob die romantischen Gedanken beiseite und zwang sich, die Szene klinisch und rational zu betrachten. Die Leichenstarre setzte ein. Die Lippen waren blau gefärbt, die Körper wiesen die gleichen Pentakel auf wie bei den anderen. Xander trug ein nicht ganz abgerolltes Kondom, dessen Verpackung neben dem Nachttisch auf dem Boden lag. Hatten sie gerade davor gestanden, Sex zu haben, waren sie mitten dabei gewesen oder gerade fertig, als der Killer zuschlug? Sie nahm an, dass es egal war. Es gab keine Verteidigungswunden, keine sichtbare Unordnung im Zimmer. Es wirkte, als wären sie in diesen unbequemen Haltungen einfach eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht. Abgesehen von dem großen, hervorstechenden Stern, der ihnen in die Haut geritzt worden war.
Baldwin umkreiste die Körper einmal und trat dann an den Schreibtisch des Mädchens.
„Haben Sie das hier alles fotografiert?“, fragte er. Der Ermittler nickte. Baldwin durchsuchte die Sporttasche des Mädchens und widmete sich dann ihrer Handtasche. Aus der Innentasche des Lederbeutels zog er einen Plastikbeutel, in dem sich vier kleine Tabletten befanden.
„Taylor“, sagte er.
„Ja?“
„Sieh dir das mal an.“
Die Pillen waren blau, winzig klein wie Babyaspirin, und hatten auf einer Seite ein eingestempeltes Herz.
„X“, sagte Taylor.
„Jupp.“ Er reichte die Tüte dem Todesermittler, der sich gerade um die Leichen kümmerte.
„Verlieren Sie die nicht“, wies Baldwin ihn an.
„Wird schon nicht passieren“, erwiderte der junge Mann. Er war neu – Taylor kannte ihn nicht. Sie hatte das dumpfe Gefühl, ihn schon einmal irgendwo gesehen zu haben, konnte ihn aber nicht einordnen. Was nicht weiter verwunderlich war – der ständige Strom an neuen Mitarbeitern bei der Metro Police sorgte dafür, dass es viele Gesichter gab, zu denen sie die Namen nicht kannte. Sein Ausweis hing an einem schwarz-gelben Band um seinen Hals. Unter dem Foto stand der Name B. Iles. Er nahm Baldwin den Beutel ab, fotografierte und beschriftete ihn und packte ihn zu den Beweisen.
„Die Leichen sind genauso gefunden worden?“, fragte Taylor.
„Ja, Ma’am. Es ist nichts verändert worden. Wir warten auf den Rechtsmediziner, damit er den Tod feststellt und die Leichen freigibt.“ „Können Sie das nicht machen?“ Sie war überrascht. Todesermittler hatten eigentlich die Befugnis, ohne Anwesenheit eines Rechtsmediziners an einem Tatort Entscheidungen zu treffen.
„Das könnte ich schon, aber ich habe den Befehl erhalten, dass jeder Tatort hier von einem der Rechtsmediziner freigegeben werden muss.“
„Wer hat den Befehl erteilt?“
„Commander Huston.“
Ah. Ihre neue Chefin ging auch genau nach Vorschrift vor. Taylor hatte damit kein Problem, aber sie wusste, dass Sam fürchterlich frustriert sein würde. Sie würden die gesamte Belegschaft der rechtsmedizinischen Abteilung – alle sechs Rechtsmediziner – aufscheuchen müssen, um diesen Fall zu bearbeiten.
„Na, ich hab nichts dagegen. Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen, von dem ich wissen sollte?“
„Nein, Ma’am. Ich habe alles sowohl per Foto als auch per Kamera dokumentiert. Die Spurensicherung sucht nach der Waffe, dem Messer, das benutzt wurde, aber soweit ich weiß, ist bislang an keinem Tatort etwas gefunden worden. Wir haben Unmengen an Fasern eingesammelt, Spuren, Fingerabdrücke. Wenn der Mörder irgendetwas von sich selbst hinterlassen hat, werden wir es finden.“
„Warum sagen Sie der Mörder?“, hakte Taylor nach.
Iles errötete. „Ich weiß, ich sollte keine voreiligen Schlüsse ziehen, aber wir haben ein paar schwarze Haare gefunden, die offensichtlich zu keinem der beiden hier gehören. Eines lag direkt auf der Brust des männlichen Toten. Es war kurz, daher ging ich davon aus, es stamme von einem Mann.“
„Das ist interessant. Hat es noch eine Wurzel?“ Bei vorhandener Wurzel wäre es ein Leichtes, die DNA zu bestimmen.
„Nein, es war abgebrochen.“
„Schade. Halten Sie die Augen auf. Es könnte noch mehr geben. Wenn Sie irgendetwas finden, das zu dem passt, womit er sie aufgeschlitzt hat, lassen Sie es mich sofort wissen. Wir müssen sicherstellen, dass das gesamte Hab und Gut der Kids durchsucht wird, alle Sporttaschen, Rucksäcke und Handtaschen. Suchen Sie außerdem nach Handys und Kalendern oder Tagebüchern. Leiten Sie diese Information an ihre Kollegen und die Kriminaltechniker weiter. Und bitten Sie sie, die Augen offenzuhalten, was weitere Drogenfunde angeht.“
„Ich kümmere mich sofort darum.“
„Danke. Hey, wie heißen Sie eigentlich mit Vornamen?“ „Barclay. Barclay Iles.“
„Okay, Barclay. Ich bin Taylor Jackson. Das hier ist Supervisory Special Agent John Baldwin.“
„Ich weiß.“ In seiner Stimme klang die Art Bewunderung mit, die Taylor innerlich zusammenzucken ließ. Aber was sollte es, besser Bewunderung als Hohn.
„Okay, legen Sie los.“ Der Ermittler eilte aus dem Zimmer. Taylor hörte ihn auf dem Flur tief durchatmen. Dieser Fall war für sie alle sehr hart – die Hälfte des Ermittlungsteams bestand aus Leuten, die selber gerade erst vom College kamen.
Taylor schaute sich noch einmal um. Die einander berührenden Hände, das Pentagramm, die stumme Tortur, die Xander und Amanda durchlitten hatten. Sie wünschte, sie könnte den Tag für die beiden zurückdrehen und das hier verhindern. Aber sie wusste, dass es ein sinnloser Wunsch war.
„Was glaubst du ist hier passiert, Baldwin? Übersehe ich irgendetwas?“
Er ging vorsichtig durch den Raum, nahm alles in sich auf. Sie kannte diesen Blick – er war da, aber vollkommen geistesabwesend, während er über die Ereignisse nachdachte, die zu den Morden geführt haben mussten.
„Das Timing gibt mir Rätsel auf.“
„Du meinst wegen Halloween?“
„Nein. Ich meine die Todeszeitpunkte. Alle Opfer sind ungefähr zur gleichen Zeit gestorben. Wenn der Mörder in jedem Haus war …“
„Wir müssen auf Sam warten, um den genauen Todeszeitpunkt und die Todesursache zu erfahren. Aber ich glaube, du hast recht. Das sind zu viele Tote für nur einen Mörder – wolltest du darauf hinaus?“
Er schenkte ihr ein anerkennendes Lächeln. „Ja, das wollte ich.“ „Was glaubst du, wie viele Mörder waren es?“
„Ich weiß es nicht.“ Er wandte sich von ihr ab und fuhr mit einem behandschuhten Finger über einen Buchrücken. Taylor sah, dass es sich um eines ihrer Lieblingsbücher handelte, Sturmhöhe, und verspürte einen Stich. Amanda Vanderwood würde nie wieder ein Buch lesen.
Von unten drangen laute Stimmen herauf.
„Und nun?“ Sie widerstand dem Drang, ihren Zopf zu lösen und sich mit den Fingern durch die Haare zu fahren, um besser nachdenken zu können. Die Geste war so zwanghaft, war ihr so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie die Hände in die Taschen stecken musste, was mit den Latexhandschuhen gar nicht so leicht war. Baldwin streckte seinen Kopf in Richtung der offenen Tür, hinter der die Stimmen immer lauter wurden.
„Wir sollten besser mal nachsehen, was da los ist.“
„Ich weiß.“ Taylor seufzte. Bitte, gütiger Gott, keine weiteren Leichen.
Als sie die Treppe hinunterkamen, sahen sie Lincoln in eine hitzige Diskussion mit einem älteren Ehepaar verwickelt. Taylor war überrascht, sie hatte gedacht, die Vanderwoods wären auf Reisen. Lincoln stellte ihnen das Pärchen vor, und sofort wurde Taylor alles klar.
„Lieutenant, das sind Laura und Aaron Norwood, die Eltern von Xander.“
Taylor zog ihre Handschuhe aus und schüttelte den beiden die Hand. Die Norwoods waren schon etwas älter, der Mann trug immer noch seinen blauen Anzug mit Krawatte von der Arbeit, seine Frau einen Jogginganzug aus braunem Nickistoff, der sich über ihrem üppigen Busen spannte. Sie hatte geweint, ihre Augen waren rot und geschwollen, aber im Moment trocken.
„Mein herzliches Beileid“, sagte Taylor automatisch, obwohl sie wusste, dass die Worte kaum tröstlich waren.
Mr Norwood nickte kurz. „Wir sind sofort hergekommen, als wir davon erfahren haben. Wir wollen bei ihm sein. Wir wollen unseren Sohn sehen. Wer hat ihm das angetan?“
„Das versuchen wir gerade herauszufinden, Sir. Wenn Sie uns einen Moment entschuldigen mögen?“
Sie trat mit Lincoln und Baldwin in den Flur hinaus und sprach leise zu ihrem Mitarbeiter.
„Wir brauchen Father Victor und weitere Geistliche. Kannst du ihn herholen?“ Der Polizeiseelsorger wurde gebraucht, wenn Familienmitglieder über den Tod eines Angehörigen informiert werden mussten. Taylor war es so gewohnt, dabei einen Geistlichen an ihrer Seite zu haben, dass sie sich unwohl fühlte, allein mit den Norwoods zu sprechen.
Lincoln erwiderte ebenfalls flüsternd: „Er ist an einem anderen Tatort. Wir haben um Unterstützung gebeten und werden sie auch morgen bekommen, aber im Moment sind wir auf uns allein gestellt. Nur zu deiner Information, Mr Norwood ist ziemlich aggressiv. Ich musste ihn körperlich zurückhalten, als er ins Haus kam. Im Moment ist er einigermaßen ruhig, aber ich bin mir nicht sicher, wie lange das anhält.“
In diesem Moment gab Taylor ihrem Impuls schließlich nach, löste ihren Zopf und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, bevor sie sie wieder zusammenfasste. Sie konnte ja schlecht zu den Norwoods zurückkehren und sagen, tut mir leid, ich kann nicht mit Ihnen reden, weil mein Lieblingspriester nicht bei mir ist, um mich vor ihrem Kummer abzuschirmen.
Baldwins Handy klingelte. Er hob entschuldigend die Hand, murmelte: „Da muss ich eben ran“, und verschwand nach draußen.
Taylor schaute ihm hinterher. „Kann ich ihm nicht verdenken. Ich hasse diesen Teil auch. Aber egal. Bringen wir es hinter uns.“
Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück und stellte sich dem Schmerz in den Augen der Norwoods. Beide hatten sich in diesen hilflosen Zustand zurückgezogen. Sie wirkten ungläubig, widerstandslos, die Realität des Todes ihres Sohnes versuchte immer noch, in ihre Seelen einzusickern. Taylor hatte nicht viel Zeit – die beiden würden sich entweder in eine so tiefe Trauer fallen lassen, dass nichts sie mehr erreichte, oder vollkommen aus der Haut fahren, angriffslustig und schwierig werden. Es war besser, sie auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, wenn das überhaupt möglich war.
„Mr und Mrs Norwood, können Sie mir mehr über Xander und Amanda erzählen?“
Mr Norwood schüttelte den Kopf und wiederholte seine Bitte. „Wir wollen Xander sehen. Das ist unser gutes Recht. Sie müssen uns die Gelegenheit geben, uns von unserm Sohn zu verabschieden.“
Nur für den Fall, dass sie beschlossen, sie zu ignorieren, verschränkte Taylor die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen den Türrahmen, womit sie den Zugang zu der Treppe nach oben sehr effektiv versperrte.
„Es tut mir leid, aber das kann ich nicht zulassen. Am Tatort wird noch ermittelt, und um ehrlich zu sein, es ist kein schöner Anblick. Das wollen Sie nicht als letztes Bild von Xander für den Rest Ihres Lebens vor Augen haben. Sie müssen mir vertrauen. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich mich gut um ihn kümmere.“
Mr Norwood schaute ihr sehr lange direkt in die Augen. Sie erwiderte den Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich werde ihn mit Respekt behandeln. Ich werde dafür sorgen, dass sein Mörder bestraft wird. Nach einer Weile senkte er den Blick und nickte. Sie nutzte die Gelegenheit, um es noch einmal zu versuchen.
„Es wäre mir eine große Hilfe, wenn Sie versuchen könnten, mir einige Fragen zu beantworten. Können wir uns ein paar Minuten über Xander unterhalten? Können Sie mir von ihm erzählen? Von Amanda?“
Laura Norwood stieß einen zittrigen Seufzer aus, dann erschien ein kleines Lächeln auf ihren Lippen, als sie nachdachte.
„Was wollen Sie wissen? Die beiden waren unzertrennlich. Sie waren schon seit gut zwei Jahren zusammen und es sah so aus, als wären sie für die Ewigkeit bestimmt. Sie kennen das sicher, es gibt immer ein Pärchen, das sich früh kennenlernt und sofort ist alles klar. So war es mit Xander und Amanda. Sie haben immer Witze darüber gemacht, dass sie ihren gemeinsamen Nachnamen zu Woods ändern, weil unsere Namen sich so ähnlich sind. So wurden sie auch immer von ihren Freunden genannt. Die Woods. Bevor Amanda Xander getroffen hatte, wurde sie Woodie genannt, und danach zogen ihre Freunde sie weiter auf und nannten sie Woodie Woodpecker. Xander und Amanda fanden das toll. Sie war Cheerleaderin und hatte gerade erfahren, dass sie nächstes Jahr zum Captain der Truppe ernannt werden sollte. Mein Gott, ich kann nicht glauben, dass das passiert.“ Ihre Hände fingen an zu zittern, und ihr Ehemann griff nach ihnen und hielt sie zwischen seinen Handflächen fest.
„Aber Laura, das sind nicht die Geschichten, die die Polizei hören will. Sie wollen wissen, ob die beiden Feinde hatten, was sie zuletzt getan haben, ob sie Alkohol tranken oder Drogen nahmen. Sie wollen nur das Schlimme wissen. Das habe ich oft genug im Fernsehen gesehen. Nur das Schlimme …“ Er brach schluchzend ab.
Taylor legte ihm eine Hand auf den Arm und sprach ganz sanft zu ihm.
„Nein, Sir. Wir wollen alles wissen. Alles, was Sie uns erzählen können, ist wichtig. Alles zählt, das Gute wie das Schlechte. Je mehr Informationen wir heute erhalten, desto schneller können wir die Person schnappen, die Ihrem Sohn wehgetan hat. Aber wenn er irgendwelche Feinde oder Probleme hatte, müssen wir das eben auch wissen.“
Während sie das sagte, fiel ihr auf, dass sie diese Unterhaltung mit sieben Familien führen müssen würde. Bei dem Gedanken drohten ihre Knie unter ihr nachzugeben. Wer war zu so etwas in der Lage? Wer konnte sieben Kinder auslöschen? Konzentrier dich, Taylor.
Sie schaute sich im Zimmer um. „Wissen Sie was? Warum setzen wir uns nicht? Dann haben wir es etwas bequemer. Und Sie erzählen mir alles, was Ihnen über Ihren Sohn einfällt. Es klingt so, als hätte er viele Freunde gehabt. Stimmt das?“
Sie setzten sich an die gegenüberliegenden Seiten des Walnussti sches auf rote Sofas, die zu einem perfekten Ensemble im Wohnzimmer zusammengestellt waren. Die Vanderwoods empfingen offensichtlich gerne Gäste – im ganzen Haus waren kleine Nischen und Sitzecken verteilt, in denen man sich zu kleinen Grüppchen zusammenfinden konnte.
Mrs Norwood wischte sich die Augen mit einem zerknüllten Taschentuch. „Natürlich. Xander war sehr beliebt. Er war Captain des Wrestlingteams, Träger des Schulabzeichens, Mitglied der Ehrenverbindung. Unser Junge war sehr klug. Er ist sehr früh an der Vanderbilt angenommen worden, womit er das erste Collegejahr zu Hause bleiben konnte, bis Amanda ihren Abschluss gemacht hatte und sie zusammenziehen könnten. Amanda ist … Oh Gott, sie war so ein süßes Mädchen. Wir waren stolz, sie als Teil unserer Familie zu betrachten. Sogar Xanders Schwester schien Amanda zu mögen, und normalerweise ist sie den Freunden ihres großen Bruders gegenüber nicht sonderlich aufgeschlossen.“ Während sie sprach, fingen ihre Augen an zu glänzen. Die Erinnerungen zogen sie einen Moment lang aus ihrem Kummer. Doch genauso schnell brach sie wieder in Tränen aus. Mit zittriger Stimme versuchte Mr Norwood, den Faden aufzunehmen.
„Xander war ein guter Junge. Manchmal etwas leichtsinnig, wie jeder Junge seines Alters. Er hatte einige Strafzettel wegen zu schnellen Fahrens. Wenn er sich nicht zusammengerissen hätte, wäre er seinen Führerschein vermutlich bald losgeworden und hätte zu einer Nachschulung gemusst. Aber er liebte es, Auto zu fahren.“
„Hat er einen eigenen Wagen?“
„Ja, einen Volvo. Nach einem Blick auf seine Fahrkünste besorgten wir ihm den sichersten Wagen, den wir finden konnten. Amanda hatte einen Jeep, und ich habe mir immer Sorgen gemacht, dass er ihn fahren und damit umkippen könnte.“
Die Norwoods lachten leise. Taylor war erstaunt, wie gefasst die beiden waren. Es war selten, dass Eltern sich so schnell zusammenrissen. Die Schale verhärtete wieder; die kühlen, ruhigen, rationalen Menschen kamen langsam zum Vorschein. Es war seltsam – einige Eltern wurden hysterisch und brachten kein Wort heraus, andere setzten sich hin und erzählten jedes kleinste Detail. Sie wusste nie, was sie erwartete, war aber froh, dass die Norwoods zur letzteren Gruppe gehörten. Sie brauchte diese Informationen, um ein Opferprofil von ihrem Sohn zu erstellen.
„Ist das der Volvo, der in der Auffahrt steht?“
„Ja, genau der.“
Sie nickte Lincoln zu, ein stummer Hinweis, dass die Spurensicherung sich den Wagen genauer anschauen sollte. Er nickte zurück. Oh, es war so gut, das alte Team wieder zusammenzuhaben.
Taylor versuchte, die nächste Frage möglichst schonend zu stellen. „War es … üblich, dass Xander und Amanda Zeit allein verbrachten?“
Mrs Norwood putzte sich die Nase und sagte dann: „Wollen Sie wissen, ob wir wussten, dass die beiden Sex hatten, Lieutenant?“
„Ja, Ma’am.“
Sie seufzte schwer. „Sicherlich erinnern Sie sich daran, wie es war, ein verliebter Teenager zu sein. Wir haben natürlich versucht, sie davon abzuhalten, aber sie waren wild entschlossen. Wir haben ausführlich mit Xander darüber gesprochen – er hat uns versprochen, vorsichtig zu sein. Ich glaube, Amanda hat die Pille genommen, aber dazu müssen Sie ihre Mutter fragen. Wir haben ihre Eltern angerufen, aber sie sind in Übersee. Sie werden einen Tag brauchen, um zurückzukommen. Wie fürchterlich für sie. Wir sind wenigstens hier und können Xanders Schwester in dem Ganzen beistehen.“
„Wo ist Ihre Tochter?“
„Susan? Sie ist mit unserer Haushälterin zusammen bei uns zu Hause. Aaron, wir sollten wirklich langsam zu ihr zurückfahren.“ Ihre kleinen Bewegungen, die den Aufbruch andeuteten, verrieten Taylor, dass ihr Gespräch erst einmal zu Ende war.
„Bevor Sie gehen, können Sie mir noch irgendetwas über Amanda erzählen?“
„Oh, Mandy war … ein Sonnenschein. Wunderschön. Klug. Sie war auch in der Ehrenverbindung, im Debattierklub, der Schülervereinigung. Ihre Eltern stammen aus einer alten Nashviller Familie, die wollte, dass ihr Kind so bodenständig wie möglich aufwächst. Sie sollte später ein Leben im Dienst der Öffentlichkeit führen. Sie hätten sich jede Schule für sie leisten können, aber da die Eltern beide auf eine öffentliche Schule gegangen waren, sollte Amanda das auch tun. So empfinden viele von uns hier in der Gegend. Wirklich, sie und Xander waren das perfekte Paar.“
Ein perfektes Paar, das von einem Verrückten angegriffen worden war. Irgendetwas stimmte daran nicht, dessen war sich Taylor sicher. Kein Kind ist perfekt, und wenn Taylor ihren eigenen Hintergrund als Leitfaden nahm, verbargen oft die, die oberflächlich betrachtet am unschuldigsten aussahen, die tiefsten Geheimnisse.
„Wissen Sie, ob die beiden mit Alkohol oder Drogen zu tun hatten?“
„Wusste ich es doch“, murmelte Mr Norwood.
„Es tut mir leid, Sir, aber ich muss die Frage stellen.“
„Sie nahmen nichts, was ungewöhnlich wäre. Xander war ein achtzehn Jahre alter Junge. Aber grundsätzlich war er vernünftig in Bezug auf solche Sachen – das muss er für sein Wrestling auch sein.“
Mrs Norwood schüttelte den Kopf. „Er ist ein paar Mal mit einem Bier erwischt worden, aber mehr nicht. Wir haben ihm immer Hausarrest gegeben, er hat immer die Konsequenzen seines Handelns zu spüren bekommen. Aber Sie wissen doch, wie das ist. Manchmal ist es leichter, sie das, was sie tun, an einem Ort tun zu lassen, an dem man ein Auge auf sie haben kann.“
Das war der Trick. Man ließ die Kinder zu Hause Alkohol trinken, wo sie unter Beobachtung standen. Taylors Familie hatte zum Essen immer Alkohol erlaubt, aber wenn sie abends mit ihren Freunden ausging und beim Trinken erwischt wurde, hatte sie Hausarrest bekommen. Obwohl die Eltern damit gegen das Gesetz verstießen, war es ein übliches Vorgehen in bessergestellten Familien.
Taylor nickte. Das war im Moment nicht ihr Thema. „Okay. Also Schulschluss war heute gegen Mittag. Haben Sie danach noch mit Xander gesprochen?“
Mrs Norwoods Mundwinkel sackten ab. „Nein, das haben wir nicht. Als er heute Morgen aus der Tür ging, gut gelaunt, weil heute Halloween ist, habe ich ihn das letzte Mal gesehen. Sie wollten heute Abend auf eine Party.“
Das weckte Taylors Interesse. „Wo sollte die stattfinden?“
„Bei seinem Freund Theo Howell. Evelyn und Howard sind Freunde von uns. Sie sind derzeit mit Amandas Eltern gemeinsam unterwegs. Wir kennen sie gut und haben Xander immer erlaubt, bei Theo zu sein, auch wenn dessen Eltern nicht da waren.“
Taylor machte sich eine Notiz. Mit etwas Glück war die Party noch im Gange oder wenigstens noch ein paar Kids versammelt, die die Opfer besser gekannt hatten. Sie konnte den Gedanken nicht verdrängen, dass diese Teenager vielleicht auch mögliche Opfer waren. Dieses Risiko wollte sie nicht eingehen, sie wollte die Norwoods aber auch nicht unnötig verängstigen.
„Haben Sie vielleicht die Adresse? Ich würde gerne mit Theo sprechen, wenn das möglich ist.“
„Aber sicher. Ich habe auch Theos Telefonnummern, sowohl zu Hause als auch sein Handy. Ich hole sie schnell, sie sind in meiner Handtasche.“ Mrs Norwood stand auf und verschwand, um einen Augenblick später mit einem handgeschriebenen Zettel und einem neuen Taschentuch zurückzukehren. Als sie sich setzte, bemerkte Taylor, wie aschfahl die Frau im Gesicht war. Es war an der Zeit, zu einem Ende zu kommen. Diese Familie brauchte die Gelegenheit, alleine zu trauern, und Taylor juckte es in den Fingern, jemanden zu der Party zu schicken, um weitere Informationen zu sammeln. Und um die Teenager zu beschützen, sollte das nötig sein. Sie erhob sich und schüttelte den beiden die Hand.
„Ma’am, Sir, ich lasse Sie jetzt allein. Ich muss zu einem anderen Tatort. Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, das wichtig sein könnte, rufen Sie mich bitte sofort an.“
Sie kamen ihr jetzt kleiner, weniger fordernd vor als vorhin. So war es immer – sobald die Realität einsetzte, beraubte sie die Hinterbliebenen ihrer Kraft, ihrer Luft, ihrer Persönlichkeit.
Mr Norwood schaute seine Frau an. Er war selber bleich wie ein Geist. „Sind Sie sicher, dass wir ihn nicht sehen dürfen?“
Taylor berührte ihn leicht und beruhigend an der Schulter. „Ja, da bin ich sicher. Es ist zu Ihrem Besten, glauben Sie mir. Ich denke, Sie und Mrs Norwood sollten jetzt zu Susan nach Hause fahren.“
Geschlagen kämpften sie sich auf die Füße, die Arme umeinander geschlungen. Sie hielten sich gegenseitig aufrecht. „Wir sind zu Hause, falls Sie noch irgendetwas von uns brauchen.“
Taylor war zutiefst erleichtert. Manchmal kämpften Familien härter, beharrten darauf, am Tatort zu bleiben, gingen sogar so weit, sich für einen kurzen Blick an den Ort des Verbrechens zu schleichen. Das war nie eine gute Idee. Im Büro der Rechtsmedizin fand die Identifizierung per Videoübertragung statt, sodass Eltern und Angehörige ihren Toten nicht von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen mussten. Eine gewisse Distanz schien in diesen Momenten manchmal zu helfen.
Aber nicht immer.
Lincoln begleitete die Norwoods zur Haustür. Kaum waren sie außer Hörweite, rief Taylor bei McKenzie an und beorderte ihn zum Haus der Howells. Er sollte vier Streifenbeamte mitnehmen, die Wache stehen sollten. Zum Schutz ihres Falles – und zum Schutz der unschuldigen Leben. Alles in einem Aufwasch.
Sie hoffte nur, dass es noch nicht zu spät war.