Quantico,
Virginia
1. November
7:00 Uhr
„Hey, Reever, ich bin’s noch mal, Baldwin. Ich warte auf dich. Wo steckst du, Kumpel? Ich will nicht ohne dich in diese Anhörung gehen. Ruf mich an, okay?“
Baldwin legte auf und steckte das Handy in seine Tasche. Er hätte sich einfach selber verteidigen sollen. Er besaß eine Lizenz für Virginia, seitdem er vor drei Jahren die entsprechende Prüfung abgelegt hatte. Er hatte Jura an der George Washington University studiert. Was ihn direkt zum FBI und Garrett Woods geführt hatte. Wenn er nicht Medizinethiker hätte werden wollen, befände er sich jetzt vielleicht nicht in dieser Situation.
Er könnte Taylor anrufen. Sie hätte bestimmt Mitleid mit ihm und würde ihn ein wenig ablenken. Aber sie steckte selber knietief in ihrer eigenen Morduntersuchung. Er beschloss, sie nicht zu stören. Das würde außerdem nur zu viele schlechte Erinnerungen hochholen – allein schon Taylor während dieser Angelegenheit in seinen Gedanken zu haben, besudelte sie.
Wie war es nur dazu gekommen? All die Jahre, die er so hart daran gearbeitet hatte, die Unschuldigen zu beschützen, seinen Kollegen bei den Strafverfolgungsbehörden zu helfen, sich beim FBI einen Namen zu machen, sich von seinem persönlichen Trauma zu erholen … war das alles umsonst gewesen? Würde er heute seine Stellung beim FBI verlieren? Das wäre die reinste Ironie, wenn man bedachte, wie widerstrebend er überhaupt auf eine Vollzeitstelle zurückgekehrt war.
Baldwin tigerte auf und ab und fragte sich, wo zum Teufel sein Anwalt steckte. Er schaute auf die Uhr. Die Anhörung sollte in weniger als fünf Minuten anfangen, und Reever war immer noch nicht aufgetaucht. Er klappte sein Handy auf, um ihn noch einmal anzurufen, wurde aber von hektischer Betriebsamkeit auf dem Korridor abgelenkt. Reginald Harold Beauchamp, von seinen Freunden und Klienten auch Reever genannt, eilte um die Ecke.
„Tut mir leid, tut mir leid. Das dritte Kind hat mich angespuckt, als ich ihm einen Abschiedskuss gegeben habe. Ich musste mich umziehen, steckte dann hinter einem Traktor fest und wurde von einem Zug aufgehalten. Das ist bisher nicht mein Morgen. Sorry.“
Er kam schlitternd zum Stehen und streckte seine Hand aus.
„Wie geht’s dir, Baldwin?“
„Jetzt, wo du da bist, definitiv besser. Ich dachte schon, ich müsste meine Lizenz wieder hervorkramen.“
„Ha, ha. Als wenn das jemals passieren würde. Ich würde dich doch in der Stunde der Not niemals im Stich lassen.“ Reever zog ihn am Arm von der Wand weg. Sie gingen ein paar Schritte gemeinsam, die Köpfe konspirativ zusammengesteckt. Baldwin nahm eine ganze Reihe von Düften war, die sein Anwalt ausströmte. Volle Babywindel vermischt mit einem Hauch von Aftershave, Schweiß und einer Unternote von saurer Milch. Großartig. Was für eine Freude, das den ganzen Tag neben sich zu haben.
„Ich habe die Anklage gesehen. Alles wird gut.“
„Das sagst du so. Ich bin erledigt, oder?“, fragte Baldwin.
Reevers braune Augen blickten besorgt. „Hör mal, Doc. Ich verspreche dir, es handelt sich um reine Formalitäten. Deine Karriere ist nicht wirklich in Gefahr. Sie wollen, dass du dich windest und zugibst, wie leid dir alles tut. Vielleicht verhängen sie eine vorübergehende Suspendierung und wir kehren alle glücklich und zufrieden an unsere Arbeit zurück. Okay? Rein, raus, fertig aus.“ Er schnippte mit den Fingern.
„Okay, verstanden.“ Baldwin glaubte ihm kein Wort. Reever war bekannt für seine aufmunternden Reden, aber das FBI berief nicht einfach ohne Grund eine Disziplinaranhörung ein.
Baldwin hörte Schritte, dann wurde eine Tür geöffnet. Ein Mann, den er nicht kannte, sagte: „Wir sind für Sie bereit, Dr. Baldwin.“
Reever klopfte ihm auf den Rücken. „Dann mal los.“
Baldwin unterdrückte einen überwältigenden Seufzer, straffte die Schulter und ging hoch erhobenen Kopfes in den Saal. Sein Herz klopfte stärker, als es sollte. Hör auf, Baldwin. Du wusstest, dass es früher oder später so kommen würde. Du hast nichts zu verbergen. Du hast nichts falsch gemacht. Zumindest nicht komplett falsch.
Der große Raum, den er betrat, war leer und besaß keinerlei Persönlichkeit. Die einzige Dekoration waren die amerikanische Flagge und die des FBI an goldenen Standarten. Ein übergroßes FBI-Logo zierte die hintere Wand, daneben ein großes Foto des Präsidenten und eines des FBI-Direktors. Es gab ein hölzernes Podium – alles in allem glich der Raum einem kleineren Anhörungssaal des Senats, komplett mit der Einrichtung aus amerikanischer Eiche und Messing. Drei Männer warteten bereits, die Mienen streng und abweisend. Sie saßen hinter einem Tisch mit zwei Mikrofonen. Ein Schreiber saß an der Seite, die Finger über der Stenoschreibmaschine in Stellung gebracht. Eine subtile Erinnerung daran, dass es sich um eine offizielle Anhörung handelte und die Abschriften in Baldwins Personalakte landen würden.
Er setzte sich an den Tisch. Reever nahm neben ihm Platz und machte eine große Show daraus, Blöcke und Stifte für sie beide herauszuholen. Baldwin wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Reever war einer der besten Berater des FBI und außerdem ein guter Freund. Baldwin war sehr froh, ihn als Unterstützung an seiner Seite zu haben. Das Herumgefummel war eine List, um die Männer zu entwaffnen, die über Baldwin zu Gericht sitzen würden. Sie alle erkannten den Trick, sagten aber nichts. Nach einigen unendlich erscheinenden Minuten nickte Reever in Richtung des Podiums.
„Wir sind so weit“, sagte er. Sein schmutzig-blondes Haar fiel ihm in die Augen. Er schob es zurück und grinste.
„Wie erfreulich.“ Der Mann in der Mitte, Supervisory Special Agent Perry Tucker, nickte dem Schreiber zu, der sogleich lostippte. „Dr. Baldwin, bitte heben Sie Ihre rechte Hand. Schwören Sie, in Ihrer folgenden Aussage die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nicht als die Wahrheit?“
„Ja, das schwöre ich.“ Baldwin rührte sich nicht, sondern behielt seinen Blick stur nach vorne gerichtet. Die Disziplinarverfahren des FBI waren kürzlich überprüft und überarbeitet worden, um sicherzugehen, dass die höhergestellten Mitarbeiter und die niederen Angestellten alle fair behandelt wurden. Was bedeutete, die eigenen Kollegen entschieden über dein Schicksal und waren gerade in den höheren Etagen besonders darauf bedacht zu zeigen, wie unparteiisch sie waren.
Alle Mitarbeiter des FBI – Agenten aller Stufen – wurden dazu verpflichtet, abwechselnd sechsmonatige Schichten im Disziplinarausschuss zu übernehmen. Baldwin hatte gerade erst letztes Jahr in diesem Ausschuss gesessen und wusste, dass es weit darüber hinausging, einfach nur Fakten zu sammeln. Das Komitee hatte die Macht, zu bestrafen, zu zensieren und einem Agenten das Leben anderweitig schwer zu machen, aber es bedurfte schon eines besonders ungeheuerlichen Vorfalls, um seine Marke abgeben zu müssen. Baldwin hatte nichts getan, was einen Verlust seines Status als Agent rechtfertigen würde. Zumindest noch nicht. Und schon gar nicht etwas, von dem das Komitee wusste.
Trotzdem hing der Hauch des Verdachts erwartungsvoll in der Luft. Ihm standen ein paar heftige Tage bevor.
Der Stuhl quietschte protestierend auf, als Tucker sich zurücklehnte und Baldwin anstarrte. Nach ein paar Augenblicken der Stille beugte er sich wieder vor, stützte sein Kinn auf die zusammengelegten Fingerspitzen und schaute wie ein von der Leistung seines Quarterbacks enttäuschter Rektor über den Rand seiner Lesebrille aus Schildpatt.
„Wie Sie sicher wissen, sind wir hier, um die Wahrheit im Fall Vereinigte Staaten gegen Harold Arlen herauszufinden. Uns sind neue Informationen zugetragen worden, die in diesem Fall auf ein akutes Fehlverhalten von Ihrer Seite hindeuten. Die Anklagepunkte beinhalten das Fälschen von Beweisen, Unterlassung, fahrlässige Tötung, ungebührliches Verhalten eines FBI-Agenten und Verbrüderung mit einer Untergebenen. Die Vorwürfe wurden von dem ehemaligen Special Agent Charlotte Douglas erhoben, die leider nicht mehr unter uns weilt, um die Anklage persönlich einzubringen. Ihr Computer war, wie Sie wissen, eine Quelle reicher Informationen über den Arlen-Fall. Die Anschuldigung wegen Fehlverhaltens war ihren ausführlichen Notizen zu entnehmen.
Der Schwerpunkt der heutigen Anhörung liegt darauf, zu klären, inwieweit Sie Schuld am Tod der Agents Caleb Geroux, Jessamine Sparrow und Olen Butler tragen. Laut der auf dem Computer gefundenen Daten behauptet Agent Douglas, dass der Tod dieser drei Agents eine direkte Folge Ihres Verhaltens während des Arlen-Falles war. Das Komitee nimmt diese Anschuldigungen sehr ernst.“
Baldwin wollte etwas sagen, irgendetwas, um sich zu verteidigen, aber Reever kam ihm zuvor. „Wir nehmen diese Anschuldigungen ebenfalls sehr ernst. Wir alle wissen, was für eine Agentin Charlotte Douglas war, Sir. An ihren besten Tagen war sie eine Lügnerin, die das gesamte Department zum Gespött gemacht hat. Wir können nicht darauf vertrauen, dass irgendetwas von dem, was sie behauptet, auch nur einen Funken Wahrheit enthält. Fürs Protokoll möchte ich anmerken, dass alle Anklagepunkte gegen meinen Klienten lächerlich sind. Dr. Baldwin ist einer der am höchsten ausgezeichneten Agents des Bureaus. Sein Ruf ist ohne Tadel, und wir haben Unmengen an Zeugen, die gewillt sind, für ihn auszusagen.“
Tucker räusperte sich missbilligend und die anderen beiden Richter rutschten unruhig auf ihren Stühlen umher. Alle wussten, dass diese Anhörung höchst ungewöhnlich war. Charlotte Douglas war keine sonderlich vertrauenswürdige Quelle. Baldwin spürte, wie sich eine gewisse Ruhe in seinem Inneren ausbreitete. Während Tucker wirkte, als könne er es gar nicht erwarten, ihn zu zerstören, war den anderen beiden offensichtlich unbehaglich zumute. Ein toter Agent gab keinen besonders guten Zeugen ab, schon gar nicht, wenn sein Ruf so befleckt war wie der von Special Agent Douglas.
„Wie dem auch sei, wir müssen den gesamten Fall im Blick haben. Vorwürfe dieser Größenordnung können nicht einfach ignoriert werden.“ Er blätterte in seinen Papieren. „Dr. Baldwin. Da es sich um eine höchst delikate Angelegenheit handelt, glaube ich, es wäre am besten, wenn Sie am Anfang beginnen und uns in allen Einzelheiten durch den Fall führen. Doch seien Sie gewarnt – sparen Sie nichts aus. Wir bemerken, wenn Sie versuchen, etwas zu verschleiern. Bitte fangen Sie damit an, diese Frage zu beantworten: Welcher Art war Ihre Beziehung zu Dr. Douglas genau?“
Baldwin konnte nicht anders. Sein Kiefer verspannte sich und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Allein die Erwähnung von Charlotte reichte, um ihn auf die Palme zu bringen. Dieses Echo aus dem Grab war die ultimative Ohrfeige dieser hinterhältigen, lügenden Schlampe.
Er räusperte sich und warf einen Blick auf seine Notizen. Nicht zum ersten Mal war er froh über seine Eigenschaft, auf das kleinste Detail zu achten.
„Wir standen uns … nahe.“
Kein großer Schock für die Männer im Komitee – das war nicht das erste Mal, dass zwei Agents sich nähergekommen waren.
„Können Sie ‚nahe‘ bitte genauer definieren?“
Reever nickte Baldwin beinahe unmerklich zu.
Näher definieren. Sicher konnte er das. Er könnte ihnen den ganzen Tag schmutzige Einzelheiten erzählen. Aber das würde er nicht tun. Stattdessen zog er noch einmal seine Notizen zurate, straffte die Schulter und hob den Blick.
„Es begann am 14. Juni 2004. Dem Tag, an dem die fünfte Leiche gefunden wurde.“