Nashville,
Tennessee
1. November
7:00 Uhr
Die Morgendämmerung war hereingebrochen und Taylors Magen knurrte entsetzlich, bevor sie alle Aussagen von den Familien der Opfer aufgenommen hatte. Sie war erschöpft, und die meisten ihrer Fragen blieben unbeantwortet. Die Fakten waren ganz einfach – jemand hatte sich Zutritt zu jedem Haus verschafft und das Opfer gezeichnet. Jedes Opfer hatte irgendeine Form von Gift zu sich genommen.
Die einzige Ausnahme bildete Brandon Scott.
Taylor und McKenzie holten sich Kaffeenachschub im Starbucks auf der West End. Es wäre sinnlos gewesen, jetzt schlafen zu gehen. Taylor wusste, dass Sam schon hellwach bei der Arbeit wäre – sie hatte heute sieben Autopsien auf dem Plan stehen und ihr Team hatte die Nacht durchgearbeitet. Das letzte Opfer, Brittany Carson, hielt bislang noch durch, lag aber in einem tiefen Koma.
Tim Davis hatte die Ecstasy-Tabletten, die Theo Howell ihnen übergeben hatte, die ganze Nacht über unterschiedlichen Tests unterzogen. Theos Theorie war falsch – die Drogen, die er eingesammelt hatte, waren nicht präpariert worden. Was bedeutete, dass es sich nicht um zufällige Opfer handelte, was Taylors ursprünglichen Verdacht bestätigte.
Die vorläufigen toxikologischen Tests zeigten ein Durcheinander aus verschiedenen chemischen Komponenten: Ecstasy kombiniert mit hohen Dosen von Amphetaminen, Codein, Ritalin und Valium. Einzeln gesehen war keiner dieser Inhaltsstoffe besonders schädlich. Zusammen ergaben sie jedoch eine tödliche Mischung. Es mussten noch mehr Tests durchgeführt werden, deren Ergebnisse zusammen mit den Funden der Autopsien helfen würden, exakt zu bestimmen, welchen Einfluss die Drogen auf die Kinder gehabt hatten.
Lincoln hatte die ganzen Videobänder durchgesehen und nach wiederkehrenden Gesichtern Ausschau gehalten. Eines hatte er gefunden, und nun wartete er im CJC auf Taylor, damit sie es sich anguckte.
Marcus und McKenzie hatten die Aussagen von allen Kids auf der Party aufgenommen, die alle sehr offen und ehrlich über die Vorfälle des Nachmittags gesprochen hatten. Ganz offensichtlich hatten die beiden Detectives gehörigen Eindruck auf sie gemacht. Die Jugendlichen wussten noch nicht, dass die Tabletten, die sie Theo Howell übergeben hatten, nicht tödlich gewesen wären. Sie waren immer noch in dem Glauben, wenn sie ihre SMS nicht gecheckt oder ihr Handy ausgeschaltet hätten, wenn sie ins Kino gegangen oder sonst irgendeine Kleinigkeit an diesem Tag anders gemacht hätten, könnten sie jetzt tot sein. Die eigene Sterblichkeit lastete schwer auf den Schultern der Jugend – die ganze Schule war in tiefer Trauer. Sorge, Erleichterung und extremer Schmerz hatten sie alle zusammenkommen lassen. Taylor hoffte nur, dass sie jetzt ein für alle Mal die Finger von Drogen lassen würden.
Man erwartete Taylor und ihr Team um zehn Uhr an der Hillsboro High School, damit sie über mögliche Verdächtige unter den Schülern sprachen. Taylor hatte um drei Uhr morgens mit der Rektorin telefoniert – die sofort dafür gesorgt hatte, dass am nächsten Morgen ein Trauerberater für die Schüler bereitstehen würde. Es war kurz überlegt worden, den Unterricht am Montag ausfallen zu lassen, aber Taylor hatte davon abgeraten. Normalität würde den Kindern jetzt am ehesten helfen. Außerdem könnte sie sich dann in der Schule umsehen, mit ein paar Leuten sprechen, versuchen herauszufinden, wer dieser jugendliche Dealer war, angenommen, er ging tatsächlich auch auf die Hillsboro. Keiner der Partygäste letzte Nacht hatte seinen echten Namen gewusst.
Taylor brauchte ein paar Minuten, um sich wieder zu sammeln. Sie nahm einen großen Schluck von ihrem Triple Shot Latte macchiato und hoffte, das wenige Koffein aus den Espressobohnen würde ihr ein wenig Kraft verleihen. Sie hätte vermutlich lieber einen schlichten schwarzen Kaffee nehmen sollen, aber das hätte ihr Magen nicht mitgemacht. Während sie an einem Stück Zitronenkuchen knabberte, fiel ihr auf, dass sie am Vorabend nichts gegessen hatte. Mit einem Mal war sie hungrig wie ein Wolf und schlang den Rest des Kuchens in drei Bissen hinunter.
McKenzie ließ sich in den Stuhl neben ihr fallen. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, sein aschblondes Haar war total durcheinander. Taylor konnte sich ungefähr vorstellen, wie sie selber aussehen musste.
„Wir haben große Fortschritte gemacht, das weißt du“, sagte McKenzie.
„Ja, ich weiß. Trotzdem müssen wir diesen Fall so schnell wie möglich lösen. Erzähl mir, was du über diesen mysteriösen Drogendealer denkst, bevor wir uns wieder ins Gefecht stürzen.“
„Nun, ich glaube kaum, dass ein Vierzehnjähriger ein in ganz Nash ville operierendes Drogenkartell führt. Du solltest mal bei der Specialized Investigation Unit nachfragen, wer an ihn verkauft. Er wird definitiv von jemandem außerhalb geführt.“
„Ich bin schon drei Schritte weiter als du. Ich habe bereits einen Freund dort angerufen. Lincoln sagt, der gleiche Typ war an vier der Tatorte auf den Videos zu sehen und lungerte auch auf der Pressekonferenz im Hintergrund herum. Er versucht, ihn mit Sexualstraftätern und anderen Verbrechern aus der Datenbank abzugleichen.“
„Das mit den Sexualverbrechern sollten wir auf jeden Fall weiterverfolgen. Wer auch immer hinter den Drogen steckt, ist ein Erwachsener. Wer wäre sonst in der Lage, eine solche Menge in dieser Qualität in eine Schule zu schmuggeln? Und wir wissen alle, wie sehr unsere netten Pädophilen aus der Nachbarschaft es mögen, ihre Opfer mit Drogen anzulocken.“
„Das erweitert den Kreis der Verdächtigen enorm, das weißt du.“
„Ja, das weiß ich. Bist du bereit? Warum schauen wir uns die Videos nicht mal an?“
Sie sammelten ihre Becher und Mäntel zusammen. Als sie gerade den Parkplatz erreicht hatten, klingelte Taylors Handy. Auf dem Display stand nur Tennessean. Ohne Zweifel ein Reporter. Sie ließ den Anruf auf die Mailbox weiterschalten und stieg in ihren Chevy Lumina – sie hatte es gestern Nacht nicht mehr geschafft, zum Hauptquartier zurückzukehren, um ihren 4Runner abzuholen.
Sie bog rechts auf die West End ab, vorbei an dem prächtigen Farbenspiel der Bäume auf dem Vanderbilt-Campus. Der Herbst war dieses Jahr spät gekommen, die Farben hatten ihren Höhepunkt erst in der letzten Oktoberwoche erreicht. Die Bäume trugen noch reichlich Laub, aber das Rot und Gold wurde von immer mehr toten braunen Flecken durchsetzt. Bald wäre es wieder an der Zeit, einen der Nachbarsjungen anzuheuern, um das Laub einzusammeln und den Rasen winterfertig zu machen. Mein Gott, hatte sie diesen Gedanken gerade wirklich gehabt? Acht Opfer, alles Kinder, und sie machte sich Sorgen um ihren Garten. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr.
Ihr Handy klingelte erneut. Dieses Mal war es Commander Huston. „Guten Morgen, Ma’am“, grüßte Taylor sie.
„Lieutenant, David Greenleaf versucht Sie zu erreichen.“
Mist. Das war also der Anruf gewesen. Sie stellte sich dumm. „Der Redakteur des The Tennessean? Warum?“
„Sie müssen sofort dorthin fahren. Ich schicke Tim Davis mit. Sie haben ein mögliches Beweisstück, das Ihren Fall betreffen könnte.“ „Sie machen Witze. Was ist es?“
„Ein Brief über die Morde. Sie wissen, beim Tennessean sind sie gut darin, die echten von den falschen Briefen zu unterscheiden. Greenleaf hat mich direkt angerufen. Er sagte, er hätte es bei Ihnen versucht, Sie wären jedoch nicht rangegangen. Er hat mir nicht gesagt, was in dem Brief steht, sondern nur, dass sich ein Brief in ihrem Besitz befindet, der ihnen glaubwürdig vorkommt und sie es für sinnvoll hielten, wenn ein Kriminaltechniker sich den einmal anschauen würde.“
„Das ist interessant. Ja, ich habe einen Anruf erhalten. Ich nahm jedoch an, es wäre ein Reporter. Tut mir leid.“
„Keine Ursache, ich wäre auch nicht rangegangen.“
Taylor lächelte. Was sie an Joan Huston besonders mochte, war, dass sie kein Blatt vor den Mund nahm.
„Ich fahre sofort rüber. Danke, dass Sie mich informiert haben.“
„Melden Sie sich, sobald Sie wieder im CJC sind.“
„Ja, Ma’am.“ Sie legte auf und schaute McKenzie an.
„The Tennessean hat einen Brief, der sich auf unseren Fall bezieht. Da müssen wir jetzt zuerst hin.“
Sie überquerte gerade die Interstate; das Gebäude des The Tennessean lag zu ihrer Linken. Sie bog links auf den Parkplatz ein und quetschte ihren Wagen in die letzte, viel zu kleine freie Lücke. An ihrer Parksituation konnte die Zeitung noch arbeiten.
Sie und McKenzie gingen hinein, nannten dem Sicherheitsbeamten am Empfang ihre Namen und warteten. Seitdem sie das letzte Mal hier gewesen war, hatte sich die Lobby extrem verändert. Damals hatte Taylor dem geschäftsführenden Redakteur David Greenleaf erzählen müssen, dass sein Freund Frank Richardson ermordet worden war.
Greenleaf kam höchstpersönlich durch die Sicherheitstür in die Eingangshalle. Sie schüttelten einander die Hände und Taylor stellte McKenzie vor. The Tennessean hatte sich wochenlang an ihrem tiefen Fall gelabt, und das schmerzte Taylor immer noch. Doch sie hatten versucht, es wieder gutzumachen und hatten erst vor wenigen Tagen einen positiven Artikel über ihre Rückkehr in die Leitung der Mordkommission geschrieben. Sie konnte ihnen keine allzu großen Vorwürfe machen – sie waren nun mal im Nachrichtengeschäft und unglücklicherweise war sie die Titelgeschichte gewesen.
Greenleaf winkte ihnen mitzukommen. Er sprach, während sie gingen.
„Wie geht es Ihnen, Lieutenant?“
„Gut, David. Wie läuft das Geschäft?“
„Ach, Sie wissen ja, Übernahmen und Entlassungen. Dieses Gebäude ist manchmal eine wahre Geisterstadt. So, da sind wir schon.“
Er führte sie in einen Konferenzraum, in dem zwei Leute mit dem Rücken zur Tür standen und ein einzelnes Blatt Papier anschauten, das vor ihnen auf dem Tisch lag.
„Lieutenant, erinnern Sie sich noch an Daphne Beauchamp? Sie ist jetzt unsere leitende Archivarin. Und das ist George Rodríguez, unser Sicherheitschef.“
Taylor erinnerte sich an Daphne mit den flippigen Brillen und der ruhigen Stärke, die sie ausstrahlte. Als sie sich das erste Mal begegnet waren, war sie Praktikantin in der Archivabteilung gewesen und hatte am Rande mit einem Fall zu tun gehabt. Ihre Zimmergenossin war vom Schneewittchenmörder entführt und gefangen gehalten worden und nur knapp mit dem Leben davongekommen. Außerdem war Daphne mit Marcus Wade liiert, aber Taylor wusste, dass die beiden die Ernsthaftigkeit ihrer Beziehung vor ihren jeweiligen Chefs verheimlichten.
„Daphne, schön, dich wiederzusehen. Hast du in letzter Zeit etwas von Jane Macias gehört?“
„Sie lesen wohl nicht die New York Times, Lieutenant, oder? Jane macht sich einen Namen als investigative Journalistin. Sie ist schon auf dem halben Weg zum Pulitzer. Detective McKenzie.“ Sie schüttelte ihm ernst die Hand. „Ich habe den Brief heute Morgen gefunden, als ich ins Büro kam. Er lag in der Nähe der Hintertür auf dem Boden – das ist der Eingang von der Porter Street.“
Daphne war sehr viel erwachsener, die letzten Spuren der Collegestudentin waren durch eine ruhige Selbstsicherheit ersetzt worden. Das passierte, wenn man mit einem gewalttätigen Verbrechen in Berührung kam.
Taylor wandte sich an den Sicherheitschef, einen kleinen, kräftigen hispanischen Mann mit pechschwarzen Augen. „Mr Rodríguez, ich bin Lieutenant Jackson. Das ist mein Kollege Renn McKenzie. Könnten Sie uns die Bänder aus den Sicherheitskameras aus der Lobby besorgen, damit wir versuchen können, denjenigen zu identifizieren, der den Brief dort abgelegt hat?“
„Nennen Sie mich bitte George. Ich habe mir die Aufnahmen bereits angeschaut, doch mir ist nichts Besonderes aufgefallen. Nur das übliche Kommen und Gehen durch den hinteren Eingang. Die Kamera ist auf die Straße gerichtet und ich habe nichts gesehen, was da nicht hingehört. Es ist durchaus möglich, dass sich jemand unter der Kamera hindurch geduckt hat und durch die Tür geschlüpft ist.“
„Gibt es an dem Eingang keine Sicherheitskontrolle?“
„Doch, aber die war heute Morgen unbesetzt. Stellenabbau, Sie wissen schon.“
„Wir würden uns die Bänder trotzdem gerne einmal genauer ansehen. Danke, dass Sie sich darum kümmern.“ Taylor holte ein paar Latexhandschuhe aus ihrer Jackentasche und zog sie über. „Ist das der Brief?“
Greenleaf nickte. „Ja. Ich wusste, dass Sie ihn sich anschauen müssen. Ich vertraue darauf, dass Sie ihn uns drucken lassen. Ich habe das Recht, diese Geschichte zu erzählen.“
Taylor ignorierte die letzte Aussage. „Wer hat ihn alles berührt?“
„Security, Daphne und meine Assistentin. Er war an mich adressiert, also hat Daphne ihn in meinem Vorzimmer abgegeben. Meine Assistentin hat ihn geöffnet, erkannt, um was es sich handelt, und ihn auf ihren Tisch gelegt. Danach hat ihn niemand mehr angefasst. Wir haben ein anderes Stück Papier benutzt, um den Brief für Sie hier he reinzubringen.“
„Okay. Jemand von der Spurensicherung ist auf dem Weg hierher. Er wird von den entsprechenden Personen Fingerabdrücke nehmen müssen, damit wir sie ausschließen können. Danke, dass Sie so vorsichtig waren – das hilft uns sehr.“ Sie hatte nur noch einen weiteren Handschuh in ihrer Tasche – Zeit, wieder aufzustocken. Sie reichte ihn McKenzie und trat dann näher an den Tisch heran.
Der Brief war auf schlichtem weißem Papier gedruckt. Doch was sie las, raubte Taylor den Atem.
The Tennessean
David Greenleaf, Redakteur 1100
Broadway
Nashville, Tennessee 37203
31. Oktober 2010
Sehr geehrter Mr Greenleaf,
Sie werden kaum verstehen können, aus welchem Antrieb wir diesen Brief schreiben, also raten wir Ihnen davon ab, es überhaupt erst zu versuchen. Wir sind sicher, Sie werden erkennen, dass unsere Taten, obgleich schwierig, doch aus einer reinen Motivation erfolgten und absolut gerechtfertigt sind.
Wir sind verantwortlich für die Morde. Es tut uns nicht leid. Es waren grausame Menschen, die vom Antlitz dieser Erde getilgt werden mussten. Wir müssen Ihnen erklären, wie wir zu dieser Entscheidung kamen. Wir fühlten uns genötigt, ihr Leiden zu beenden. Wir haben den einen wahren Weg gefunden. Den mussten wir ihnen zeigen. Sie haben uns verletzt. Immer und immer und immer wieder haben sie uns verletzt und gedemütigt.
Wir versuchten nur, sie von ihrer elenden Existenz zu befreien, sie ahnungslos aus ihrer Höhle zu führen und sie im hellen, harschen Licht der Realität zu lehren, ihnen die zugrunde liegende Wahrheit ihrer Existenz zu zeigen. Wir sind Güte und Licht, Mäßigung und Gerechtigkeit, Sophisten, Skeptiker, Verkünder der platonischen Liebe. Ideale Schönheit und absolute Tugend. Wir sind die Wahrheit. Wir sind ihre Befreier. Wir sind die Sonne, unabdingbar für das Erschaffen und Erhalten ihrer Welt. Wir führen den Erzengel zu ihren materiellen Körpern, kämpfen darum, ihre Seelen ins Licht zu leiten, wo wir zusammen als ein Wesen die ultimative Glückseligkeit erfahren.
Aber Worte werden unserer Bedeutung nicht gerecht. Der beste Weg, uns zu erklären, ist durch das Medium des Films. Wir haben eine Website-Adresse beigefügt, auf der ein Film der gestrigen Ereignisse zu sehen ist. Wir würden es sehr zu schätzen wissen, wenn Sie diese Information mit Ihren Mitarbeitern teilen und uns helfen, den Film in die Hände eines Produzenten zu legen, der ihn auf die große Leinwand bringt.
Die
Unsterblichen
Blut ist Stärke; es ist alles, was ich dir
geben kann.
http://www.youtube.wearetheimmortals.com
Die Symbole waren verschmiert, die Ränder ausgefranst, die Tinte verdächtig gebrochen und ungleichmäßig, die Farbe reichte von dunklem Rosa bis zu tiefstem Burgund.
„Heilige Scheiße. Ist das Blut?“, fragte Taylor.
McKenzie beugte sich über den Brief und schaute genauer hin. „Sieht so aus. Tim wird das durch einen Test bestätigen müssen.“
„Was ist das Schwarze darunter?“
„Handgeschriebene Worte unter den Symbolen.“ „Kannst du sie erkennen?“
„Ich glaube schon.“ Er nahm den Brief in die Hand und hielt ihn gegen das Licht. „Es sieht so aus, als stünde da: ‚Blut ist Stärke; es ist alles, was ich dir geben kann.‘“
„Was zum Teufel soll das bedeuten?“
Er schaute ihr in die Augen. „Ich habe keine Ahnung.“
Sie wandte sich an Greenleaf. „Wir brauchen einen Computer. Ich will diesen Film sehen, von dem da geschrieben wird. Haben Sie ihn sich schon angeschaut?“
„Nur den Anfang. Mehr … mehr habe ich nicht ausgehalten.“
Greenleaf wurde ganz bleich und Taylors Magen zog sich in dunkler Vorahnung zusammen.
Greenleaf brauchte nur wenige Minuten, um alles vorzubereiten – er hatte vorhergesehen, dass sie sich den Film auf der Website sofort würden anschauen wollen. Daphne hatte den Laptop bereits an eine hochauflösende Leinwand angeschlossen, die normalerweise für Präsentationen benutzt wurde. Sie entschuldigte sich dafür, das Licht ein wenig dimmen zu müssen, aber im Dunkeln würde man auf der Leinwand mehr erkennen.
Taylor schüttelte den Kopf. Was käme nun?
Sie sah, dass das Video zwanzig Minuten lang war, wollte sich aber nicht vorstellen, was sie in dieser Zeit zu sehen bekäme.
Der Film begann in absoluter Dunkelheit. Ein dünner Lichtpunkt in der Mitte wurde größer und größer, bis sie klar erkennen konnten, dass es sich um den Vollmond handelte. Die tiefe Erzählerstimme kam Taylor bekannt vor, aber sie wusste nicht, woher. Die Worte waren ein einziges Durcheinander, überfrachtet mit blumiger Prosa, doch ihre Bedeutung war klar. Die Vampire frischten ihre Rasse mit Nichtgläubigen auf. Es erinnerte Taylor an die unzähligen Horrorfilmtrailer, die sie im Laufe ihres Lebens gesehen hatte – Filme, die sie sich niemals anschauen würde. Sie lebte den Horror jeden Tag und hatte ihre eigenen Albträume. Ganz sicher benötigte sie nicht noch die kranken Vorstellungen eines anderen Menschen in ihrem Kopf.
Der Erzähler verstummte, Stille sickerte aus den Lautsprechern. Das typische Geräusch von Schritten wurde lauter, als ein neues Bild erschien. Taylor erkannte die Szene – sie war im Vorgarten des Hauses der Kings gefilmt worden.
„Vorspulen“, sagte sie.
„Das braucht noch eine Minute. Das Video ist noch nicht ganz hochgeladen.“ Daphne fummelte mit der Maus herum und versuchte, den Ladebalken nach rechts zu schieben, doch er rührte sich nicht. „Wir werden warten müssen, bis es komplett gebuffert ist.“
Sie mussten nicht lange warten. Die nächste Szene flammte auf, und Taylor beugte sich auf ihrem Stuhl vor. Es war eine Aufnahme den Flur hinunter, der zu Jerrold Kings Schlafzimmer führte. Taylor hielt den Atem an, als eine Hand am Türrahmen erschien und die Tür zum Zimmer des Jungen aufdrückte. Jerrold King lag mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf dem Bett. Er war nackt. Die Kamera hielt nie auf sein Gesicht, sondern zeigte nur die Totale und dann seinen Oberkörper. Der Junge wirkte tot.
Die körperlose Hand verschwand und kehrte dann, ein glänzendes, langes Messer haltend, ins Sichtfeld zurück. Taylor zwang sich, hinzusehen, als die Klinge sich Jerrolds Körper näherte, ihre Spitze sich liebevoll, beinahe zärtlich in sein Fleisch drückte und dann mit peitschenhaften Zügen die Linien und den Kreis zog und das Pentakel in einem Wirbel von Bewegungen erschien. Es sickerte ein wenig Blut aus der Wunde, doch es floss nicht frei – Jerrold war noch nicht lange tot, aber er war tot.
Schnitt zu einem offenen Mund. Ein hohes, schrilles Lachen, körperlos und androgyn, erfüllte die Leinwand. Die Kamera zog ein wenig auf, weit genug, um den Blick auf eine Gestalt freizugeben, einen Geist in Schwarz, nicht erkennbar, aber mit schwarzen Haaren. Die Kamera zoomte auf sein Kinn, dann folgte ein Close-up auf seinen Mund. Schwarz angemalte Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, während scharfe, spitz gefeilte Zähne sich Jerrolds Bauch näherten. Eine spitze Zunge schnellte aus dem Mund gegen die frische Wunde und schleckte ein wenig von Jerrolds Blut auf. Die Lippen färbten sich rot und wurden verführerisch abgeleckt. Taylor bemerkte abwesend, dass die Lippen sehr rau wirkten.
„Mein Gott“, murmelte McKenzie.
„Halt direkt hier an“, sagte Taylor und Daphne drückte auf Pause.
Taylor stand in der Hoffnung auf, dass die Bewegung helfen würde, ihren Magen zu beruhigen. Sie klappte das Handy auf und rief im Rechtsmedizinischen Institut an. Kris, die Empfangsdame, ging ran. Taylor bat darum, mit Sam verbunden zu werden.
Ein paar Augenblicke später hatte sie Sam in der Leitung.
„Ich bin froh, dass ich dich erwische. Hast du schon mit der Autopsie an Jerrold King begonnen?“
„Ich bin gerade dabei. Stuart bereitet gerade alles vor.“
„Halte ihn schnell auf. Es könnte sein, dass wir an Kings Leiche die DNA des Mörders finden.“