Nashville
23:58 Uhr
Theo Howells Party wollte sich anscheinend niemand entgehen lassen.
Es sah aus, als wenn die ganze Oberstufe der Hillsboro High School sich versammelt hätte. Alle möglichen Autos säumten die Straße – VWs, BMWs, Mercedes, Volvos und Jeeps, die Räder halb im Straßengraben, halb auf dem Schotter. McKenzies Auto stand auf der anderen Straßenseite.
Doch es war weder Musik noch lautes Grölen zu hören, vielmehr lag eine traurige Düsternis über der Szene. Der Regen hatte wieder eingesetzt, dieses Mal kräftiger als zuvor, und die Lichter am Haus der Howells schafften es kaum, die Auffahrt zu beleuchten. Nebenan schlug ein Hund an. Taylor spürte jedes Bellen wie einen Schlag gegen den Hinterkopf.
Es war an der Zeit, das Land der lols, rofls und hdgdls zu betreten. Die rote Eingangstür zierte ein massiver Löwenkopf aus Messing. Taylor packte die heraushängende Zunge und klopfte drei Mal gegen die Platte.
Ein gut aussehender Teenager öffnete die Tür. Seine braunen Haare fielen ihm etwas länger in die Stirn, er trug ein Ralph-Lauren-Oberhemd und Kakihosen. Seine Augen waren geschwollen, Zeichen kürzlich vergossener Tränen. Er schenkte ihr ein trauriges Lächeln und wirkte viel älter als er war.
„Ich bin Theo Howell. Kommen Sie bitte rein.“ Er schüttelte ihre Hand und trat ein Stück beiseite. Nachdem sie den Flur betreten hatte, schloss er die Tür hinter ihr ab.
Stille senkte sich über die versammelten Kids. Taylor sah sich einer Schar verängstigter Teenager gegenüber, die sie alle anstarrten; dazu ein paar Eltern – sie zählte sieben, die im Wohnzimmer Kaffee tranken. Sie standen bei ihrem Eintreten auf, die Mienen ausdruckslos und besorgt.
Sie hörte das Gemurmel. Was ist passiert? Gibt es noch weitere Opfer?
McKenzie löste sich aus der Gruppe der Mädchen, die ihn in der Küche umringten und versuchten, einander zu trösten, und kam in den Eingangsflur, um sie zu begrüßen.
„Oh gut, du bist hier und hast Theo schon kennengelernt, wie ich sehe.“
„Ja.“ Taylor wandte sich an den Jungen. „Danke, dass du für uns alle hierbehalten hast.“
„Gern geschehen, Ma’am. Um ehrlich zu sein, uns allen war bewusst, dass wir in der Gruppe sicherer sind. Es wäre schwierig, hier einzudringen und irgendjemanden zu überwältigen. Einige der Eltern haben darauf bestanden, vorbeizukommen, und der Rest ist einfach so reingeschneit. Wir sind Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie uns Detective McKenzie geschickt haben, um ein Auge auf uns zu haben. Haben Sie schon irgendeine Vorstellung, wer das getan hat? Wer unsere Freunde umgebracht hat?“
Die verriegelte Tür. Die mit Furcht aufgeladene Luft. Diese bedauernswerten Jugendlichen hatten den ganzen Abend hier gesessen, während ein paar Straßen weiter ihre Freunde gestorben waren, und hatten sich Sorgen gemacht, auch angegriffen zu werden. Und die Eltern wussten nicht, warum oder wie oder wer das Leben ihrer Kinder bedrohte. Sie konnte ihnen keinen Vorwurf machen. Sie hatte selber schon oft genug gefürchtet, jemandes Zielscheibe zu werden, aber die tiefe Furcht dieser Menschen zu sehen gab ihr eine ganz neue Perspektive auf diese Tragödie.
Sie wandte sich der Gruppe zu und beantwortete die nicht gestellten Fragen. „Wir tun alles, was wir können. Bis jetzt gibt es noch nichts Neues. Wir haben weder einen Verdächtigen noch ein Motiv. Es war eine gute Entscheidung von euch, zusammenzubleiben. Wir werden euch weiter auf dem Laufenden halten.“
Das Gemurmel setzte wieder ein, dieses Mal war eine gewisse Erleichterung herauszuhören. Taylor ging wieder in den Flur zurück, außer Sichtweite der Gruppe, und wandte sich an Theo.
„Wir hoffen, dass du uns etwas sagen kannst, was etwas Licht in die Ereignisse bringt. Ich weiß, dass du eng mit Xander Norwood befreundet warst. Ich würde mit dir gerne über ihn und über alle anderen sprechen, die heute getötet worden sind. Können wir das irgendwo in Ruhe tun?“
„Ja, Ma’am. Das Büro meines Vaters ist gleich hier entlang. Der Zutritt ist niemandem gestattet, wenn ich, ich meine, wenn Daisy und ich Besuch haben.“
„Meine Schwester.“ Er zeigte auf ein hübsches blondes Mädchen, das auf einem Barhocker am Küchentresen saß. „Sie ist dort mit einigen ihrer Freundinnen. Sie geht auf die Junior-Highschool. Sie alle kennen Amanda, Chelsea und Rachel.“
Es klopfte hinter ihr und Theo zuckte zusammen. Armer Junge.
„Das wird Detective Wade sein. McKenzie, hast du schon von allen die Aussagen aufgenommen?“
„Beinahe. Ein paar fehlen noch.“
„Okay, lass dich nicht aufhalten. Marcus und ich sprechen gemeinsam mit Theo.“
„Verstanden, Boss. Ich lass ihn rein.“
„Detective, Sir, bitte schließen Sie die Tür hinter sich wieder ab“, bat Theo leise. McKenzie nickte. Taylor freute sich, dass McKenzie einen guten Draht zu den Teenagern aufgebaut hatte – das würde helfen. Ihrer Erfahrung nach waren Jugendliche nämlich ein sehr verschwiegener Haufen.
Marcus gesellte sich zu ihr und sie stellte ihm Theo vor. Er schüttelte Marcus die Hand und führte sie dann zu einer Doppeltür. Mit einem Schlüssel, den er aus seiner Hosentasche zog, sperrte er das Schloss auf und ließ den rechten Türflügel aufschwingen. Dann ließ er Taylor vorgehen und griff um den Türrahmen herum, um die Stehlampe anzumachen. Das warme Holz des Raumes glomm im weichen Licht. Bücherregale säumten die Wände, und eine Leiter auf Rollen lehnte an der hinteren Wand. Es roch angenehm nach Papier und Leder ohne den geringsten Hauch von Muffigkeit.
Theo schaltete ein paar weitere Lampen an und blieb dann sehr ruhig und aufrecht neben dem Rosenholzschreibtisch mit der Lederauflage stehen. Er sah, dass Taylor die Bücher musterte, und deutete nonchalant auf die Regale.
„Mein Vater ist ein Sammler. Ihm gehört der Classics Bookstore in Franklin. Er arbeitet auch mit normaler Laufkundschaft, aber seine Leidenschaft, seine Berufung sind die ernsthaften Sammler in Übersee. Derzeit ist er auf einer Konferenz in Genf. Meine Mom begleitet ihn. Sie haben ein Auge auf eine Hemingway-Erstausgabe geworfen und bieten heute Abend auf einer Auktion. Dad glaubt, er kann ein Schnäppchen machen. Er hat einen Klienten in Toronto, der alles dafür zahlen würde.“ Er brach ab. „Tut mir leid, das langweilt Sie sicher. Ich vergesse, dass nicht jeder bibliophil ist. Ich hoffe, das Geschäft eines Tages von ihm übernehmen zu können.“
„Das ist überhaupt nicht langweilig, im Gegenteil. Ich liebe Bücher. Und ich würde gerne mehr darüber hören, was dein Vater macht. Ich kenne seinen Laden sogar. Aber das müssen wir auf ein andermal verschieben. Können wir uns setzen?“
In der Mitte des Raumes standen zwei große Ledersessel einem cog nacfarbenen Sofa gegenüber. Theo nickte und setzte sich aufs Sofa. Er wirkte nicht wie ein Achtzehnjähriger, dessen bester Freund gerade gestorben war. Seine Anwesenheit war irgendwie tröstlich.
Marcus trat an eines der Regale und ließ seinen Zeigefinger über die Buchrücken gleiten. Taylor machte es sich mit ihrem Notizblock in einem der Sessel bequem.
„Also, Theo. Xander war dein bester Freund. Wie viele der Opfer kennst du persönlich?“
„Nach allem, was ich gehört habe, kenne ich sie alle.“ „Von wem hast du gehört?“
„Jerry King, Ashley Norton, Mandy und Xander. Chelsea Mott und Rachel Welch waren auch zusammen, und Brandon. Ich habe außerdem das Gerücht gehört, dass ein weiteres Mädchen ins Krankenhaus gebracht worden ist.“
„Die Neuigkeiten sprechen sich schnell herum. Es ist kein Gerücht. Kennst du Brittany Carson?“
„Heißt sie so? Nein. Ich kenne sie nicht. Habe noch nie von ihr gehört.“
„Sie geht auf die St. Cecilia’s. Ich hatte gehofft, sie hätte irgendwelche Verbindungen zu deinen Freunden auf der Hillsboro.“
„Sie wissen doch, wie das ist. Die Kids aus den Häusern rechts und links von uns gehen auf Privatschulen – Montgomery Bell und Ensworth –, aber wir sind nicht miteinander befreundet. Die Mischung macht dieses Viertel aus, nehme ich an.“
„Wie hast du dann von den Morden erfahren?“
Er hielt sein Handy hoch. „Alle reden darüber. Ich habe heute Nachmittag beinahe zweihundert SMS bekommen. Das ist weit über meinem Limit – meine Eltern werden mich umbringen.“ Er zuckte zusammen, sobald er die Worte ausgesprochen hatte.
„Dürfte ich die Nachrichten einmal sehen?“, fragte Taylor.
Er zögerte nur den Hauch einer Sekunde. „Auf Sie müssen die wie hohles Geschwätz wirken. Mein Vater hasst es, wenn ich Wörter abkürze. Er kann die Sprache, die wir benutzen, nicht ertragen. Er glaubt, sie wäre ein Zeichen für den Niedergang der modernen Gesellschaft. Aber die Abkürzungen machen es so viel einfacher, schnell was mitzuteilen.“
„Ich kann deinen Vater schon verstehen. Mein Computerexperte ist ziemlich gut in allem, was Technik angeht. Er sollte in der Lage sein, das für uns zu übersetzen. Erzähl mir, wie du von Xander erfahren hast.“
Theo wand sich auf seinem Sofa. Als sie Lincolns Fachwissen erwähnt hatte, war er ganz blass geworden, und Taylor wusste, dass er etwas verbarg.
„Theo?“
Seine Augen füllten sich mit Tränen. „Ich glaube, ich habe direkt vor seinem Tod noch mit ihm gesprochen.“
„Wirklich? Wie kommt das?“
Von einem Moment zum anderen wurde Theo von einem etwas zu sehr von sich eingenommenen jungen Mann zum Kind. Er verzog das Gesicht und versuchte, nicht zu weinen. Sie schenkte ihm ein paar Minuten, um sich wieder zu fassen.
„Ist in Ordnung, Theo. Wir reden nur miteinander. Wenn du mit den Morden nichts zu tun hattest, hast du auch nichts zu befürchten.“ „Gott, nein. Natürlich habe ich damit nichts zu tun. Das können Sie doch nicht wirklich glauben.“
„Dann entspann dich. Ich will einfach nur wissen, was heute Nachmittag passiert ist.“
„Werden Sie meinen Eltern erzählen, was ich Ihnen jetzt sage?“
„Bist du achtzehn?“ Er nickte. „Solange du kein Gesetz gebrochen hast, sehe ich dazu keine Notwendigkeit. Sag mir einfach die Wahrheit, okay? Das macht es für uns alle einfacher.“
Theo sah einen Moment lang wirklich elendig aus. „Ach verdammt. Okay. Ich sag’s Ihnen. Aber Sie müssen schwören, es niemandem zu erzählen. Versprochen?“
„Ich werde mein Bestes geben.“
„Okay. Xander … er und Mandy haben sich heute Nachmittag schon mal in Stimmung gebracht. Genau wie Jerry und die Mädchen. Chelsea und Rachel sind nicht gerade für ihre Zurückhaltung bekannt“, fügte er hinzu.
„In Stimmung gebracht?“, fragte Marcus.
„Drogen. Sich auf den Abend vorbereiten, auf die Party.“ „Was für Drogen?“
Theo stand auf und trat an den Schreibtisch seines Vaters. Er hob die lederne Schreibunterlage an einer Ecke an und holte darunter einen weiteren Schlüssel hervor. Taylor sah ihm angespannt zu. Sie mochte es nicht, wenn jemand sich in ihrer Gegenwart an verschlossenen Schubladen zu schaffen machte. Aber Marcus stellte sich neben Theo, und sie entspannte sich ein wenig.
Theo zog die oberste Schublade auf und holte einen geschlossenen Plastikbeutel heraus. Er war voll mit hellblauen und gelben Pillen in der Größe von Aspirin. Es mussten hundert sein, vielleicht sogar hundertfünfzig. Behutsam reichte er ihr den Beutel.
„Heilige Muttergottes … was ist das?“ Sie sah die Herzprägung auf einigen der Tabletten. Genau wie bei denen in Amanda Vanderwoods Zimmer. „Ecstasy?“
„Ja.“ Theo setzte sich wieder auf das Sofa und stützte den Kopf in die Hände.
„Dealst du damit? Hast du deshalb so viele?“
„Meine Güte, nein. Ich bin kein Dealer. Die hier gehören uns allen.“ „Was meinst du damit, sie gehören allen?“
Taylor ließ sich in den Sessel gegenüber von Theo sinken. Der Junge schaute auf und schenkte ihr ein halbherziges Lächeln. „Oh Gott, dafür werde ich gehängt.“
„Fangen Sie endlich an zu reden, Mr Howell.“
Jetzt, wo er sich zur Zusammenarbeit entschieden hatte, flossen die Worte auf einmal leicht über seine Lippen. „Die stammen alle von den Vi-Fris. Den Vicodin-Fridays. Jeden Freitag bekommen die Kids, die feiern gehen wollen, ihre Drogen. Normalerweise im Bus nach Hause oder nach der sechsten Stunde in der Umkleide. Wir wissen nie, was es sein wird. Es ist eine Art Lotterie. Das erste Mal war es Vicodin – daher der Name. Aber es kann alles sein – Pilze, X, Oxy, Valium, Meth, sogar Koks. Was immer er zu verkaufen hat. Sie dürfen das nicht den Eltern erzählen. Sie würden es niemals verstehen.“
Taylor konnte nicht glauben, was sie da hörte. Nicht, dass ein paar Idioten von der Highschool Drogen nahmen – zu ihrer Zeit war damals Koks angesagt gewesen. Dank vermögender Eltern und üppiger Taschengelder war es jederzeit zu kriegen gewesen. Nein, was sie hierbei überraschte war, dass diese Jugendlichen alles nahmen, was sie in die Hände bekamen.
„Wer ist der Dealer?“
„Irgendein Versager aus der Unterstufe. Ich weiß nicht, wie er wirklich heißt. Er hat sich irgend so einen dummen Namen gegeben, ich vermute aus einem Comic. Fängt mit einem T an. Thor, glaube ich. Er ist seit diesem Jahr auf der Hillsboro, und in seiner zweiten Woche hatte das Gerücht die Runde gemacht, dass er dealt. Er hat gutes Hasch, schön rein und billig. Alle kaufen bei ihm.“
„Wer könnte seinen echten Namen wissen?“
„Ehrlich. Ich habe keine Ahnung. Vielleicht ein paar der Jüngeren. Aber von denen sind keine hier. Heute Abend sind hier nur Juniors und Seniors. Dieser Junge ist aber ein Freshman und ich versuche, ihm aus dem Weg zu gehen. Ich bin kein großer Freund der Vi-Fris.“
Taylor schüttelte den Plastikbeutel. „Könntest du ihn identifizieren, wenn wir dir Fotos zeigten? Oder ist er vielleicht im Jahrbuch?“ „Noch nicht. Ich bin in dem Team, das fürs Jahrbuch zuständig ist, und wir haben die Klassenfotos noch nicht gemacht. Ich weiß erst, ob seines drin sein wird oder nicht, wenn der Fotograf, der die Bilder macht, uns nächstes Semester die Abzüge schickt. Allerdings taucht die Hälfte der Leute gar nicht zu den Fotosessions auf. Das Jahrbuch ist nicht mehr sonderlich angesagt.“
„Wie sieht der Junge aus?“
„Klein. Blonde Haare. Hängt mit den Goth-Kids ab.“
„Okay, damit ich das richtig verstehe: Hast du diesen Beutel von dem Dealer?“
„Nein. Sehen Sie, ich habe mit Xander gesprochen. Er sagte, er und Mandy wollten vor der Party ein paar Tabletten einwerfen und noch ein wenig rummachen. Danach wollten sie herkommen, damit wir uns alle zusammen fertigmachen könnten. Nachdem ich aufgelegt hatte, hab ich angefangen, das Haus für die Party vorzubereiten. Dann hat meine Schwester Daisy eine SMS von Letha King bekommen, Jerrys Schwester.“
„Wir haben sie heute Nachmittag bei den Kings kennengelernt.“
„Letha sagte, sie wäre nach Hause gekommen und Jerry hätte mit blauen Lippen bewusstlos in seinem Zimmer gelegen. Auf seinem Bauch hätte er irgendeine komische Wunde. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Also sind wir zu ihr gefahren …“
Marcus beugte sich in seinem Sessel vor und unterbrach den Jungen. „Du warst heute Nachmittag im Haus der Kings?“
„Nur ein paar Minuten.“
„Oh Gott“, stöhnte Taylor. „Wer war noch da? Und was habt ihr alles berührt?“
„Nichts. Es waren nur ich, Daisy und Letha, das schwöre ich. Letha ist total ausgeflippt. Ich habe Jerry nur angeschaut, ihn aber nicht berührt. Er hatte dieses verrückte Zeichen auf seinem Bauch und sah total tot aus. Es machte den Eindruck, als hätte er eine Überdosis genommen. Ich habe Letha gesagt, sie solle den Notruf wählen, und wir haben zugesehen, so schnell wie möglich zu verschwinden. Ich habe einen Rundruf gestartet und alle gewarnt, das X nicht zu nehmen.“
„Um welche Uhrzeit war das?“, fragte Taylor.
„Ungefähr gegen drei. Lassen Sie mich nachschauen, wann genau sie die SMS geschickt hat.“ Er drückte ein paar Tasten auf seinem Handy. „Um zehn vor zwei. Ich habe Xander angerufen, aber er ist nicht rangegangen. Letha hat Daisy wissen lassen, dass die Polizei gekommen war, und hier trudelten nach und nach die ersten Partygäste ein. Sie haben ihr Zeug mitgebracht und ich habe es eingesammelt.“
„Du hast sehr verantwortlich gehandelt, Theo.“
„Ja, na ja. Ich weiß nicht, was verdammt – entschuldigen Sie, Ma’am –, was da passiert ist. Dieses Zeichen auf Jerrys Bauch hat mich total fertiggemacht.“
Marcus nahm den Ziploc-Beutel und drehte ihn in seinen Händen hin und her. Die Pillen darin stießen leise gegeneinander. Immer noch mit dem Beutel spielend hob er die Brauen und fragte: „Theo, da steckt noch mehr dahinter, oder? Du kannst es uns sagen. Du hast uns sowieso schon beinahe alles erzählt. Wir verstehen, was du getan hast, und ich muss dir sagen, ich bin wirklich beeindruckt. Du hast heute enormes Verantwortungsgefühl und großen Mut bewiesen. Aber irgendetwas verschweigst du uns noch.“
Er schüttelte unglücklich den Kopf. „Ich weiß nicht, was Sie meinen. Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß.“
„Nein, das hast du nicht. Du bist automatisch davon ausgegangen, dass das Ecstasy für den Tod deiner Freunde verantwortlich war. Du hast gesagt, du dachtest, Jerry hätte eine Überdosis genommen. Wie bist du zu dieser Schlussfolgerung gelangt?“
Theo vergrub seinen Fuß in dem dicken Perserteppich. Die klobigen Doc-Martens-Stiefel passten nicht recht zu seinem restlichen Outfit. Taylor und Marcus ließen ihm einen Moment. Sie wussten, hier würden sie noch einige Antworten kriegen können.
Theo räusperte sich, aber trotzdem kamen die Worte nur leise heraus.
„Wir haben vielleicht gehört, dass jemand vorhat, uns fertigzumachen.“
„Wen fertigmachen?“
Theo machte eine kreisende Handbewegung. „Uns. Die Sportler. Die coolen Kids. Die Beliebten. Mit welchem lächerlichen Klischee Sie uns auch immer belegen möchten. Wir waren das Ziel, und wer immer es auf uns abgesehen hatte, hat ganze Arbeit geleistet.“
„Von wem kam die Drohung?“
„Ich weiß es nicht. Aber schauen Sie sich um. Wer auch immer es war, es ist ihm gelungen, zwei Cheerleader, den Captain des Wrestlingteams und vier Mitglieder des Schülerausschusses zu erwischen. Ich weiß nicht, wer dieses letzte Mädchen ist, aber vermutlich hatte sie irgendwann mal irgendetwas mit uns zu tun. Wenn Daisy und ich die Leute nicht gewarnt hätten, wer weiß, wie viele noch gestorben wären?“
„Bist du sicher, dass es sich nicht um eine von den Opfern geplante Aktion handelt?“
„Sie meinen wie Jonestown? Oder Heaven’s Gate? Ich kann mir kaum vorstellen, dass der kollektive Selbstmord Einzug in Hillsboro gehalten hat.“ Er sah ihren fragenden Blick und ergänzte: „Ich habe letztes Jahr in Geschichte ein Referat über Sekten gehalten. Mein Dad interessiert sich sehr für solche Themen.“
„Stimmt, das wäre meine Frage gewesen.“
„Ich kann es mir nicht vorstellen. Keinem aus dieser Gruppe ging es um mehr, als ab und zu ein wenig Spaß zu haben, wenn Sie wissen, was ich meine.“
„Glaubst du, jemand, mit dem ihr zur Schule geht, wäre fähig, diese Morde zu begehen?“, fragte Marcus.
„Ich weiß es nicht. Ich weiß es ehrlich nicht.“
„Könnte es der Dealer gewesen sein, von dem du uns erzählt hast?“
Man merkte Theo an, dass er langsam frustriert war. Auf seiner Stirn erschienen kleine Falten. „Ich schwöre Ihnen, ich weiß nicht, wer dahintersteckt. Es war nicht mehr als ein vages Gerücht, das umging. Ich weiß nicht, woher er seine Drogen bezieht, aber er hat immer einen großen Vorrat. Es könnte auch jeder gewesen sein, der bei ihm kauft.“
„Warum aber die Pentakel, die in die Haut der Opfer geritzt wurden? Weißt du darüber irgendetwas?“
Er schaute überrascht auf. „Das war nicht nur bei Jerry?“
Taylor nickte. „Alle Opfer sind perimortem geritzt worden. Das bedeutet, zum Zeitpunkt ihres Todes.“
„Ich weiß. Ich gucke Medical Detectives“, sagte er mit solcher Verachtung, dass Taylor beinahe laut gelacht hätte. Die DNA-Generation. Taylor beobachtete das in letzter Zeit immer öfter. Menschen, die CSI und Law & Order guckten und glaubten, sie wären Experten für Kapitalverbrechen. Das war verdammt unangenehm – und am schlimmsten traf es die Staatsanwälte. Alle Jurys schienen DNA für die Wunderwaffe zu halten, die einzige Möglichkeit, um einen Freispruch oder eine Verurteilung zu erzielen und trotzdem nachts noch gut schlafen zu können.
„Tut mir leid“, sagte Theo. „Ich bin nur ein wenig gestresst. Ich nehme an, Sie werden mich jetzt verhaften?“
„Wegen der Drogen?“
„Ja.“ Er straffte die Schultern. Dann stand er auf und legte die Hände aneinander, damit sie ihm Handschellen anlegen konnten.
Taylor schaute ihm tief in die Augen und er erwiderte den Blick ruhig und tapfer. Sie sah, dass seine Unterlippe ganz leicht zitterte. „Im Moment bist du für uns mehr Hilfe als Bedrohung, Theo. Wärest du einverstanden, mit aufs Revier zu kommen und eine formale Aussage zu machen? Dir vielleicht sogar ein paar Fotos anzuschauen, um zu sehen, ob du den Dealer erkennst?“
„Sie werden mich nicht verhaften?“ „Im Moment nicht, nein.“
„Gott sei Dank.“ Er ließ den Kopf zur Seite fallen. „Ja, natürlich. Ich tue alles, was Ihnen hilft.“
„Okay. Ich kann dir nicht versprechen, dass im Laufe der Ermittlungen nicht doch Anklage gegen dich erhoben wird, aber ich werde alles tun, was ich kann, um sicherzustellen, dass mildernde Umstände geltend gemacht werden. Was ich von dir am dringendsten brauche, sind Informationen darüber, wer deine Clique bedroht hat. Meinst du, die könntest du mir besorgen?“
Der stolze Kerl in ihm fiel endgültig in sich zusammen und er sah mit einem Mal jung und verletzlich aus. Taylor sah das Kind hinter dem Mann durchscheinen, der er heute geworden war.
„Ja, Ma’am. Ich werde alles tun, was nötig ist. Danke, Ma’am.“
Taylor schickte Theo zu seinen Gästen zurück und schloss die Tür hinter ihm. Sie setzte sich wieder in den Sessel und seufzte tief. „Glaubst du ihm?“, fragte sie Marcus.
„Ich würde gerne ja sagen, aber ich muss mich noch länger mit ihm unterhalten. Er hat Angst, Angst genug, sich einer möglichen Anklage zu stellen, um dem Ganzen auf den Grund zu gehen. Natürlich hat er die Schuld ziemlich offen auf jemand anderen geschoben, jemanden, an den wir nicht herankommen. Wir müssen die Drogen testen lassen – Theo hat heute vielleicht ein paar Leuten das Leben gerettet.“
„Oder er ist unser Dealer und versucht, seinen Arsch zu retten. Ein sehr von sich eingenommener junger Mann, unser Mr Howell.“ Sie nahm Marcus den Beutel aus der Hand. „Ich muss die ins Labor bringen lassen. Tim Davis wird uns ziemlich schnell eine erste Analyse liefern können, ob diese Pillen irgendetwas enthalten, das bei den Kids zu einer Überdosis geführt hat. Aber wer ist dann hingegangen und hat ihnen Pentakel in den Bauch geritzt? Was zum Teufel soll das?“
„Das ist die eine Frage. Aber ich habe noch eine andere: Wie konnte der Mörder wissen, wer von den Teenies die Drogen genommen hatte und wer nicht?“
Taylor erhob sich. „Das habe ich mich auch schon gefragt. Ich bin immer mehr davon überzeugt, dass unser Verdächtiger diese Jugendlichen sehr gut kennt. Komm, bringen wir die Pillen zu Tim und schauen dann, wo wir stehen.“
Sie fanden McKenzie und traten mit ihm zusammen vor die Haustür, um ihre Notizen zu vergleichen.
„Haben die Kids dir irgendetwas erzählt, das uns weiterbringt?“, wollte Taylor wissen.
McKenzie nickte. „Die Mädchen, Chelsea und Rachel. Offensichtlich waren sie sich in letzter Zeit spinnefeind – alle waren überrascht, dass man sie zusammen gefunden hatte.“
„Mädchen.“ Taylor schüttelte den Kopf. „Sie streiten und sie vertragen sich, streiten und vertragen sich. Deshalb habe ich es immer vorgezogen, mit Jungen befreundet zu sein. Da weiß man wenigstens, woran man ist.“
McKenzies Augen funkelten. „Ja, ich weiß, was du meinst. Man hat mir erzählt, sie waren beste Freundinnen, und wenn sie sich nicht gerade gestritten haben, haben sie fast alles gemeinsam gemacht. Bis zum letzten großen Streit waren sie eine verschworene Gruppe – Rachel, Chelsea und Ashley Norton. Alle Teenies da drin kannten Brandon Scott und Jerry King. Xander Norwood schien der Anführer der coolen Kids zu sein, derjenige, mit dem jeder befreundet sein wollte. Man merkt sofort, wer ihm wirklich nahestand und wer es gerne getan hätte, aber alle liebten ihn. Ich bezweifle allerdings, dass es unserem Verdächtigen auch so ging.“
„Theo Howell hat etwas von einer Drohung gegen die Gruppe erwähnt. Hat noch jemand anderes davon gesprochen?“, fragte Taylor. „Nur Daisy Howell“, erwiderte McKenzie. „Sie ist allerdings zu erschüttert, um eine wirklich zusammenhängende Aussage zu machen. Sie war mit den Mädchen befreundet. Sie hat gesagt, es hätte ein Gerücht die Runde gemacht, dass irgendetwas passieren würde. Niemand hat das wirklich ernst genommen. Wie das an der Highschool eben so ist, jeden Tag ein anderes Drama. Was die Kids nicht direkt betrifft, wird einfach ignoriert.“
„Gute Arbeit, Jungs. Wir müssen die Befragung der Familien der Opfer noch zu Ende führen. Vielleicht können wir dann eine ungefähre Zeitachse zusammenstellen, anhand derer sich bestimmen lässt, was passiert ist, nachdem die Kids die Schule heute Mittag verlassen haben. Wir müssen herausfinden, mit wem sie entweder auf dem Heimweg oder zu Hause Kontakt hatten. Die Spurensicherung hat alle Beweise an allen Tatorten gesichert, sodass wir ausreichend zu tun haben. Fangen wir also an.“