Als Taylor auf die Shell-Tankstelle bog, warteten dort bereits drei Streifenwagen auf sie. Doch kein Zeichen von Ariadne. McKenzie hatte versucht, sie auf dem Handy anzurufen, doch sie ging nicht ran.
Taylor rannte in die Tankstelle hinein und beschrieb Ariadne dem Tankwart, doch er hatte sie nicht gesehen. Genauso wenig wie er jemanden gesehen hatte, der der Zeichnung ähnelte, die sie aus der Tasche zog. Also keine Ariadne und kein Schuyler Merritt. Mist.
Sie ging wieder nach draußen und gab den Beamten ein Zeichen. „Einsteigen. Wir fahren die McCrory hoch und gucken, ob wir ihr Auto irgendwo sehen.“
Sie stiegen alle wieder in ihre Autos und fuhren los. Taylor führte die Kolonne an. Die blinkenden blauen und weißen Lichter erhellten die Straße wie zu Weihnachten. Nach nur wenigen Minuten sahen sie einen Subaru Forester am Straßenrand stehen. Er stand direkt vor einem Hügel, doch es war kein Anzeichen von Leben zu entdecken. Kein Licht, kein laufender Motor.
„Das ist ihr Auto“, sagte McKenzie unnötigerweise. Taylor lenkte ihren Wagen dahinter, die drei Streifenwagen bezogen vor und neben ihr Position und blockierten so effektiv die Straße.
Taylor sprang aus dem Wagen. Sie hielt die Glock mit beiden Händen, den Lauf auf den Boden gerichtet. Sie näherte sich dem Fahrzeug. Das Fenster der Fahrerseite war zerbrochen, überall im Auto und davor lagen Glasscherben. Eine Scherbe schimmerte dunkel im Mondlicht; Taylor roch Blut.
„Was ist das?“, flüsterte McKenzie ihr ins Ohr. Sie hielt inne und lauschte. Ein leises Weinen, ungefähr fünf Meter entfernt. „Ariadne?“, rief sie und ging auf das Geräusch zu. Sie sah einen Haufen auf dem Boden und rief: „Sie ist hier. Mist. 10-47, 10-67, Code 3!“ Sie steckte ihre Waffe weg, kniete sich hin und rollte Ariadne auf den Rücken, die dabei laut aufschrie.
„Entspannen Sie sich, meine Liebe. Es ist alles okay. Hilfe ist unterwegs. Wo ist der Junge?“
Man musste kein Genie sein, um zu erkennen, was geschehen war. Ariadne war voller Schmutz und Blätter, ihr Rock zerknüllt, die weißen Schenkel blutverschmiert. Sie schrie erneut auf, als Taylor sie vorsichtig abtastete. Gebrochene Rippen, vielleicht auch ein gebrochener Kiefer. Ein blutiger Riss auf der Stirn.
„Als Sie angerufen haben, sagten Sie, er habe Sie gehört. War das Schuyler Merritt, Ariadne? Hat er Sie vergewaltigt?“
Ein geisterhaftes Nicken. Sie versuchte zu sprechen, die Worte purzelten leise und durcheinander aus ihrem Mund. Taylor beugte sich vor, um etwas verstehen zu können.
„Weiß nicht, wie er heißt … Hat mich … aus dem Auto … gezogen. Verge… verge… vergewaltigt. Ist danach weggefahren.“
Das Sprechen erschöpfte sie. Sie ließ ihren Kopf wieder zu Boden sinken. Taylor fühlte nach ihrem Puls und war froh, ihn kräftig schlagen zu spüren. Die Verletzungen waren nicht lebensgefährlich.
„Jetzt wird alles gut. Ich bin bei Ihnen.“
McKenzie hockte einen halben Meter neben ihr. Er nahm ihre Hand und flüsterte: „Es tut mir so leid. Wir hätten eher auf Sie hören sollen.“
Taylor warf ihm einen Blick zu, unterbrach ihn jedoch nicht. Eine Klage gegen sich und ihr Team, weil sie zugelassen hatten, dass eine Zeugin zum Opfer wurde, war gerade ihre geringste Sorge.
Sie hörte den tröstenden Klang von Sirenen. Rettung nahte.
Sie drückte Ariadnes Hand. Wo war der kleine Scheißkerl jetzt? Sie hatten seine Frau und seine Freunde in Gewahrsam genommen. Seine Mutter und sein Vater waren tot. In den beiden Häusern, in denen er Zuflucht suchen könnte, wimmelte es von Polizisten. Wohin könnte er sich zurückziehen?
„Ariadne, wissen Sie, wohin er gefahren ist?“
„Nein“, flüsterte sie. Taylor hasste es. Sie hasste es mehr, als sie sagen konnte. Diese sonst so lebhafte Stimme so mutlos zu hören weckte in ihr den Wunsch, auf irgendetwas einzuschlagen.
Der Rettungswagen fuhr vor. Nach einem kurzen Briefing löste Taylor sich von Ariadnes Seite, damit man sie behandeln konnte. Mit Erleichterung nahm sie wahr, dass es sich um Sanitäterinnen handelte. Manchmal weigerten sich Vergewaltigungsopfer, sich von Männern behandeln zu lassen – der 10-67 hatte sie zwar entsprechend vorbereitet, aber trotzdem war es pures Glück, dass es geklappt hatte. Sie legten Ariadne auf eine Trage und schoben sie schnell in den Krankenwagen.
„Wo bringt ihr sie hin?“
„Baptist“, kam die kurze Antwort.
Taylor trat an die Tür und schaute zu, wie Ariadne versorgt wurde. In dem grellen Licht waren die Prellungen im Gesicht und der ausgerenkte Kiefer gut zu erkennen. Taylor wusste, dass ihr alles wehtun musste. Und gebrochene Rippen, deren spitze Enden in Lunge und Haut stachen, waren auch kein Picknick. Ariadne war unglaublich tapfer; sie weinte nicht, sondern hielt ihre leuchtenden blauen Augen auf Taylor gerichtet, die unter dem Blick zusammenzuckte. Sie las die Worte, die Ariadne ihr in Gedanken einflüsterte, und drehte sich um. Die Hände gegen die Kälte tief in den Taschen vergraben, trat sie ein paar Schritte beiseite.
„Es ist nicht Ihre Schuld“, sagte Ariadne so deutlich, als hätte sie die Worte laut ausgesprochen. „Es ist nicht Ihre Schuld.“