Nashville
Allerheiligen
10:00 Uhr
Raven und Fane waren Ember gefolgt, hatten versucht, sie aufzuhalten, aber sie war zu schnell für sie gewesen. Sie konnten nicht zu ihr nach Hause gehen. Raven wollte sich nicht an einem der Tatorte blicken lassen. Er war nicht dumm. Er wusste, wenn sie dort auftauchten mit ihren blassen Gesichtern und den tiefschwarzen Haaren, würden die Ermittler sie sehen und sich alles zusammenreimen.
Schweigend waren sie aus der Innenstadt hinausgefahren. Vielleicht könnte er sich eine Baseballkappe und ein paar Chinos kaufen und versuchen, auf diese Weise reinzukommen. Er verwarf den Gedanken wieder. Egal, was er versuchen würde, um wie alle anderen auszusehen, es würde ihm nicht gelingen. Er würde immer anders sein, sich immer abheben. Sie würden ihn in Nullkommanichts als Blender enttarnen. Er hatte die Schatten der Nacht in sein Gesicht gegraben, so unwiderruflich wie eine Tätowierung.
Sie verbrachten den Rest der Nacht zusammen, nur sie beide. Sie schliefen aus, dann brachte er Fane nach Hause und verabschiedete sich mit einem inbrünstigen Kuss. Bei sich zu Hause angekommen war alles still, abwartend. Er nahm sich eine Flasche Milch aus dem Kühlschrank und ging in sein Zimmer.
Was sollten sie wegen Ember unternehmen?
Er trat an den kleinen Altar in der Ecke auf dem Boden, den er für die Begehung seiner dunkelsten Pfade benutzte. Auf dem kleinen Tischchen stand ein Kelch, daneben lagen sein Athame und eine schwarze Box ohne Deckel. Seine Werkzeuge, seine Hilfsmittel. Sie warteten auf ihn, ihre Energie strömte in Wellen aus der Box.
Das hier waren seine tragbaren Utensilien, die er normalerweise immer in seinem Auto dabei hatte, für den Fall einer Letzten Ölung. Er hatte sie letzte Nacht zur Stärkung mit zu den Häusern seiner Feinde gebracht. Eine Feder für die Luft, ein Stück Obsidian für die Erde, ein Streichholz fürs Feuer und eine Muschel fürs Wasser. Jedes Teil mit einem speziellen Zauber versehen, der im Mondlicht gesprochen worden war, um die Gegenstände mit Macht zu tränken und an ihn zu binden. Er brauchte keinen Luxus, musste sich nicht mit Opulenz umgeben. Er betete die Erde an, und das drückte sich in seinem Werkzeug aus.
Er legte die Gegenstände auf ihre entsprechenden Plätze auf dem Altar – Norden, Süden, Osten und Westen –, entzündete eine Kerze mit Jasminduft und Ylang-Ylang, setzte sich dann mit dem Gesicht zur Flamme auf den Boden und beobachtete. Er ignorierte das klingelnde Telefon, wusste instinktiv, dass es Fane war. Er brauchte Frieden und Stille. Oh, wie er sich wünschte, es wäre draußen dunkel. Er konnte sich ohne Sonne und Licht so viel besser konzentrieren.
Er entspannte sich in tiefer Kontemplation, meditierte über den korrekten Weg, bis die Flamme der Kerze schließlich im geschmolzenen Wachs erlosch.
Er kam wieder zu sich und wusste, was er zu tun hatte. Er öffnete sein Buch der Schatten und suchte nach dem richtigen Zauberspruch, um Embers Wut auszubalancieren, sie wieder in die Mitte des Covens zurückzubringen.
Er fand den Spruch, kehrte zu seinem Altar zurück und nahm die Puppe in die Hand, die er vorsichtshalber vor zwei Wochen schon gebastelt hatte. So ungern er es auch tat, er musste Ember bestrafen. Nachdem sie gelitten hatte, würde sie den Weg sehen. Er dachte nach, während er zu Werke ging, das Wachs in eine etwas femininere Form knetete.
Die Pentakel waren ein Geniestreich gewesen. Die Polizei würde falschen Spuren nachjagen, nach Verdächtigen suchen, die ihren dummen Profilen entsprachen, sich im Untergrund nach Satanisten und ähnlichem Pack umsehen. Satanisten. Was für ein Witz. Sie verfügten in dieser Welt über keinerlei Macht. Satan existierte nicht. Dunkle Engel, Boten des Bösen – ja, die gab es. Aber mit dem richtigen Zauber, der richtigen Menge an Kontrolle und Macht aus dem Elysium und der Unterwelt, konnten sie so eingeschüchtert werden, dass sie zur Zusammenarbeit bereit waren.
Er schickte einen kurzen mentalen Dank an Azræl und spürte, wie seine Haut heiß wurde, als der Gedanke mit ihm verschmolz. Azræl war jetzt bei ihm, war in ihm. Er hatte seine Seele dem dunklen Engel geöffnet, ihm erlaubt, in die tiefsten Tiefen seines Geistes vorzudringen. So wurde er mächtiger. Das Blut der Ungläubigen zu vergießen verlieh ihm größere Würde. Er fragte sich einen Moment lang, wie stark er noch werden würde, dann legte er die Puppe beiseite. Sie war fertig, und um Mitternacht würde er zum Friedhof gehen, die Worte sprechen, die Embers Unabhängigkeitsbestreben ein Ende setzen würden und sie an seine Seite zurückbrächten.
Raven zählte darauf, dass die Ignoranz der Unwissenden für genügend Verwirrung sorgen würde, um ihm ein wenig Zeit zu verschaffen. Er brauchte einfach noch ein paar Tage, um den Rest seines Plans in die Tat umzusetzen. Thorn war wie vom Erdboden verschwunden; er nahm an, Ember hatte Kontakt mit ihm aufgenommen und versuchte, sie auseinanderzubringen. Ember selbst hatte ihr Handy abgestellt und reagierte auf nichts mehr. Er spürte, wie sich Teile seines Lebens, seiner Welt auflösten, aber beschwichtigte sich mit dem Gedanken an das, was noch zu tun war. Er war allmächtig und er hatte Fane. Sie würde ihn niemals verlassen, ihn niemals verraten. Das wusste er.
Er fuhr den Computer hoch, routete sich selber über mehrere Server, bis er sicher war, dass die Ursprungsadresse nach Japan weisen würde, und rief dann YouTube auf. Das Video war verschwunden.
Wut rauschte durch seine Adern, die Wut des dunklen Engels. Er tippte wie wild auf die Tasten, suchte, fand es schließlich auf einer anderen Seite namens Vimeo wieder. Er warf einen Blick auf die Kommentare; sie reichten von Schock bis Bewunderung. Er stieß einen erleichterten Seufzer aus – der Plan hatte funktioniert. Das Video verbreitete sich viral, genau, wie er es gewollt hatte. Er überprüfte noch ein paar andere Seiten – einige zeigten es, andere hatten es runtergenommen. Das war in Ordnung. Die Leute würden es immer weiter und weiter posten, bis die ganze Welt sein Meisterstück gesehen hatte.
Er verzog die Mundwinkel zu einem Grinsen und fuhr sich mit der Zunge über die spröden Lippen. Trotz konstantem Peeling mit Fanes Philosophy Kiss-Me-Lippenpeeling schien der schwarze Lippenstift, den er am liebsten mochte, die oberste Hautschicht auf seinen Lippen anzugreifen und sie konstant rau und spröde zurückzulassen. Sein nervöses Lecken half auch nicht. Wenn er alleine war, schmierte er sich inzwischen seinen Mund immer mit einer dicken Schicht Vaseline ein. Es war eine Schande, denn er hasste es, in den Spiegel zu schauen, wenn er nicht zurechtgemacht war. Das Make-up verlieh ihm Stärke, half ihm, sich zu verstecken. Er schaltete die Schreibtischlampe hinter sich aus, sodass er sein Spiegelbild im Monitor des Laptops nicht sehen musste.
Er startete den Film, lehnte sich zurück und schaute zu.
Es hatte ihn und Fane viele Wochen gekostet, den Film zu drehen. So viel hatte dazugehört – der Kurs in Drehbuchschreiben, den sie am Watkins belegt hatte, der Lehrgang über Filmdrehs mit Digitalkameras, den er letzten Sommer am The Art Institute absolviert hatte. Die Ausgaben für die Kamera und den Laptop, auf dem er den Film schneiden konnte. Sie hatten ihr Geld zusammengelegt und gemeinsam investiert – er war sicher, auf lange Sicht würde sich das auszahlen. Das Filmschnittprogramm hatte sich als sehr leicht zu bedienen herausgestellt. Er und Fane hatten das Drehbuch geschrieben und sich beim Drehen der Sequenzen abgewechselt. Sie hatten drei Wochen gebraucht, um alles perfekt hinzubekommen – die Aufnahmen, die Szenen richtig aneinander zu schneiden, die Teile umzuschreiben, die noch nicht richtig flossen. Sie hatten den Film Bild für Bild aufgebaut. Den Film mit Musik zu hinterlegen war schwerer gewesen als gedacht, aber nachdem sie auf Audacity gestoßen waren, einen Online-Music-Editor, war auch dieses Problem schnell aus der Welt geräumt.
Gut, er hatte mit der Musik bis gestern herumgespielt, aber dabei war es mehr um Effekte gegangen. Er hatte die echten Namen, die geschrien wurden, herausgelöscht und durch die Namen der Charaktere ersetzt. Er musste zugeben, einen brillanten Job abgeliefert zu haben. Fane hatte ihm auch geholfen – sie waren inzwischen im Umgang mit der Software so gut, so fehlerlos, dass sie die tatsächlichen Mordszenen nachher in weniger als einer Stunde eingebaut hatten. Okay, in anderthalb Stunden, weil sie zwischendurch eine Pause eingelegt hatten, um wilden, erbarmungslosen Sex zu haben. Es war die tiefste Vereinigung, die sie je erfahren hatten und die sie atemlos und zitternd zurückließ, die Hände immer noch vom Blut der Ungläubigen befleckt.
Ja, die Qualität war an einigen Stellen etwas wackelig, aber immerhin ging es hier um einen Horrorfilm. The Blair Witch Project war ein Riesenhit gewesen, und da war die Kamera den ganzen Film über wild hin und her gesprungen. Alles würde gut werden. Nachdem ein Studio auf den Film aufmerksam geworden war, würde der neue Producer vielleicht die eine oder andere zu verwackelte Stelle austauschen wollen, aber Raven glaubte, dass sein Genie zum Großteil gewürdigt werden würde. Den Beweis dafür sah er ja vor sich. Der Film verbreitete sich wie von selbst, womit der erste Teil seines Plans schon mal funktioniert hatte.
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er hatte immer gewusst, dass er zu Größerem berufen war. Zu sehr viel Größerem.
Raven hatte schon in frühen Jahren bemerkt, dass er anders als andere Kinder war. Seitdem tat er alles, um sich selber zu verstehen. Die Philosophie verschaffte ihm eine Atempause, die Bürde der Selbstverwirklichung erlaubte es ihm, seine wahren Beweggründe zu entdecken. Er konnte nicht anders, als dunkle Gedanken zu hegen – das war seine Natur. Er konnte auch nichts dafür, ein geborener Anführer zu sein – das war seine Rolle im Universum. Er verschlang Sartre und Nietzsche, Jung und Freud. Plato, Aristoteles, Sokrates. Er füllte seinen Geist mit den großen Werken, tauchte in das Studium der Mythologie ein, entdeckte eine große Affinität für die Konzepte des Pantheons, der polytheistischen Religionen. Ein Gott reichte nicht, das war für ihn sofort offensichtlich. Er hörte auf, fernzusehen und widmete sich lieber Büchern. Er fing an mit Hesiods Theogonie und Bulfinchs Mythologie und baute von da aus weiter auf. Seine Büchersammlung war enorm. Er spürte eine Affinität zur Erde, zur Natur, zum Mond und den Zyk len der Erde und fing in seinen Teenagerjahren an, offen das Heidentum zu praktizieren.
Bei dem Gedanken daran berührte er den Rücken des italienischen Hexenbuchs, das er immer auf seinem Tisch liegen hatte. Er verspürte eine tiefe Verbundenheit mit der Stregheria, der italienischen Variante der Wicca. Sie kam den Alten Sitten so nah wie sonst nichts, was er gefunden hatte. Sie ähnelte den Ursprüngen vom Olymp, den Anfängen der Zeit. Er liebte ihre Rituale und fand die modernen Versionen der Wicca, der Gardneria- und der Alexandria-Wicca nicht halb so schön. Er hatte es nie als falsch empfunden, dem alten Glauben zu folgen, hatte nie gemeint, sich vor dem Rest der Welt verstecken zu müssen, vor den strengen Blicken der älteren Hexen, die in Nashville praktizierten. Er zog es vor, jeden an seiner Freude teilhaben zu lassen, aber die traditionellen Coven akzeptierten ihn nicht. Zu jung, zu kontrovers. Das war ihm egal gewesen – er hatte einfach seinen eigenen Coven gegründet.
Er war ein Evangelist der Strega. Vor zweihundert Jahren wäre er auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden, gebrutzelt unter den fröhlichen Rufen der Dorfbewohner, verdammt für das Talent der Vorhersehung.
Doch das war einmal. Heute waren die Strega mächtig, und er war stolz, auf ihre Art zu beten.
Es war nur natürlich, dass sein dunkler Weg, seine nachtaktive Tradition, seine Selbstinitiationen, die seine Verbindung mit den Göttern stärkten, ihn unweigerlich den Weg zum Gothic zeigen würden. Ihr Lebensstil – der echte Goth-Stil, nicht der, bei dem Make-up und schwarze Kleidung einfach als cool galten – beruhte auf einer Mischung aus Selbsterkenntnis, hingebungsvoller Beobachtung und Huldigung, einer tiefen Trauer für den Rest der Welt, die unter der kapitalistischen Gier zusammenbrach, und einer Affinität für individuelle Rituale. Das alles sprach ihn an. Hier endlich hatte er seinen Platz gefunden.
Er nahm den Namen Raven an und wurde einer von ihnen.
Damit begann seine wahre Erweckung. Er war unermüdlich in seiner Suche, sein Buch der Schatten füllte sich mit Zaubersprüchen und Schutzzaubern, mit Ideen und Rezepten. Es handelte sich um ein ledergebundenes Buch, das er in einem Buchladen gefunden hatte und das mit einem Band aus Rohleder zusammengehalten wurde. Er wand das Band liebevoll um das Leder, wusste, dass nur er die Kräfte darin verstehen konnte. Die Schatten der Zaubersprüche, die Ideen, die auf weißem Pergament glitzerten – in ihnen lag seine wahre Macht.
Er recherchierte und bildete sich weiter fort. Er machte sich zu einem Experten im Entwickeln von Zaubersprüchen, benutzte lyrische Worte, um Sachen zu ändern, mit denen er nicht zufrieden war, schrieb seine eigenen Versionen der traditionellen und nicht so traditionellen Gebete. Er praktizierte den Halbschlaf – las Gedanken; beschritt den Weg – fand seinen Weg zu den Ahnen, gewährte ihnen Zutritt in seine Welt. Er glaubte wirklich, wenn er nur offen und willig war, würden die Götter und Göttinnen sich ihm auf unendliche Weisen zeigen. Und das taten sie. Die Zeichen, dass sie ihn akzeptiert hatten, fanden sich überall.
Das Weissagen, verschiedene Wege, um die Zukunft durch ausgefeilte Zaubersprüche vorhersagen zu können, folgte bald danach. Er fing an, mit den Gedanken von anderen zu spielen. Er zog gleichgesinnte Individuen an und entschied sich schließlich für die Stärksten unter ihnen – seine drei, seine Unsterblichen. Er lehrte sie die Alten Sitten und sie beteten ihn an.
Der Weg war gerecht und gut. Der Weg würde ihn zu Höherem führen. Der Weg würde ihm zeigen, wie er so mächtig werden konnte wie die Zyklen der Erde, wie der aufgehende Mond, wie die Göttin Diana.
Es fing so einfach an. Er schmiedete Pläne, wusste, dass er sein Wort verbreiten, dass er rekrutierten musste. Die Unsterblichen waren nur vier, aber ihre Zahl würde wachsen. Seine eigene Armee, geleitet von wahrer Liebe und wahrem Vertrauen. Gemeinsam würden sie die Welt verändern. Gemeinsam würden sie all die, die sie mit Hohn und Verachtung behandelten, für ihre Sünden zahlen lassen.
Er merkte, dass der Film zu Ende war. Er drückte noch einmal auf Play und wollte dieses Mal genauer hinsehen. Es war schwer, eine Arbeit von solch umwerfender Herrlichkeit anzuschauen und sich nicht von der Geschichte dahinter einfangen zu lassen. Er fragte sich, ob er ein paar Untertitel dazu verfassen sollte, ein paar Zeilen, die erklärten, was ihr Zweck war, wie sie tickten. Aber für den Moment musste der Brief reichen.
Schreie erklangen aus seinem Laptop, blechern, das Leben wurde genommen, während er danebenstand, sich an den Seelen der Geächteten labte.
Er fragte sich, was passieren würde, wenn alle auf der Welt starben.