Nashville
23:45 Uhr
Raven lag auf seinem schmalen Bett und sah zu, wie Fane ihr Make-up auflegte. Gleich nach dem Gefühl, sich in ihr zu versenken, von ihrer Wärme umfangen zu werden, war das vermutlich das sinnlichste Erlebnis, das sie miteinander teilten.
Sie war ein Profi mit ruhiger, sicherer Hand. Erst die Grundierung, zwei Töne heller als ihr Teint, was ihrer Haut einen perligen Schimmer verlieh. Dann Puder, ebenfalls zwei Töne heller, um das Makeup zu fixieren. Mit einem Schwamm verwischte sie die Farbe am Hals, damit keine harte Linie zu sehen war. Sie tupfte sich nur einen Hauch Rouge auf die Wange, von den Wangenknochen in einer geraden Linie bis zum Haaransatz, und fing dann mit den Augen an.
Einmal hatte Raven sie während dieser Prozedur gefilmt. Er hatte das Video mit Musik hinterlegt, einem treibenden Stück von den Crüxshadows, das – passenderweise – „Immortal“, also unsterblich hieß. Schon beim allerersten Mal hören hatte er gewusst, dass dieser Song ihr Lied war. „Mit unsterblichen Herzen stehen wir vor unserem Leben.“ Es passte perfekt zu dem Film – schnell, heiß und allein ihres.
Er hatte das Video in fünffacher Geschwindigkeit abspielen lassen und als Anleitung für Goth-Make-up auf YouTube gepostet. Bisher hatte es über fünfhunderttausend Klicks generiert. Es gab ihm einen unglaublichen Rausch, an all die Frischlinge da draußen zu denken, die seine Frau als Vorbild nahmen.
Und jetzt hatten sie noch mehr, wofür sie ihn bewundern konnten.
Raven setzte sich hin und stützte das Kinn in die Hand. Er sah zu, wie Fane die geheimnisvolle schwarze Wolke zauberte, die ihre grünen Augen wie fünfzehnkarätige Smaragde glitzern ließ. Die langen Striche flüssigen Eyeliners, der tiefschwarze Lidschatten von M-A-C, noch mehr Eyeliner, fünf Schichten Mascara, dann die kunstvollen Wirbel, die an ihren äußeren Augenwinkeln hingen, als wäre sie eine Beduinenprinzessin, die sich auf ihre Hochzeitsnacht vorbereitete. Eine dunkle Prinzessin. Die Herrscherin seines Herzens.
Sie war mit den Augen fertig, schraubte den Eyeliner zu und umrahmte dann ihre Lippen mit einem burgunderfarbenen Lipliner. Sie wühlte in ihrer Make-up-Schublade und zog einen tief, tief kirschschwarzen Lippenstift heraus. Er wusste die Symbolik zu schätzen. Manchmal hatte Fane Schwierigkeiten, mit anderen zu sprechen, und schwarzer Lippenstift erinnerte sie daran, dass sie diejenige mit der Macht war. Er wusste, dass sie den Lippenstift mit Kraft aufgeladen hatte – sie hatten den Zauber gemeinsam gesprochen.
Sie beugte sich vor und zerzauste ihr Haar, sodass es ihr vom Kopf abstand und in herrlichen Wellen bis zu ihrem Hintern fiel. Eine ordentliche Dosis Haarspray beendete die Verwandlung.
Als sie sich umdrehte und ihn anlächelte, konnte er kaum an sich halten. Seine Liebste. Seine perfekte, perfekte Liebste. „Du bist dran“, sagte sie und schlüpfte in ihr Korsett, das ihre Taille so weit einschnürte, dass er sie beinahe mit zwei Händen umfassen konnte.
Raven versuchte, sich von der makellosen Gestalt dieser Frau zu lösen und trug nun ebenfalls sein Make-up auf, ließ sich hinter der Grundierung verschwinden. Nie fühlte er sich stärker als in vollem Goth-Aufzug. In der Schule musste er es ein wenig herunterfahren – es gab strenge Regeln, was Jungen mit Make-up anging. Kapitalistische Hurensöhne. Sie hatten ja keine Ahnung, wie stark er war.
Aber heute Nacht würden sie zum Feiern in einen Club gehen. Sie würden sich an der Energie der Menge laben, würden einfach sie selber sein. Es gab nichts Besseres, als nachts durch die Clubs zu ziehen. Das Subversion nahm heute zu Ehren von Samhain nur fünf Dollar Eintritt und hatte The Baron eingeladen, einen Gast-DJ aus Los Angeles. Raven hatte nur Gutes über seine Playlist gehört – er schien immer die neuesten Bands zu haben. Das lag vermutlich an der Nähe zu Hollywood. Die Gothic-Szene von Nashville rockte zwar, aber trotzdem blieb es Nashville. Industrielles Brachland. Er war in ein paar Clubs in Washington, D. C., gewesen, die nicht von dieser Welt waren. Aber in der Not frisst der Teufel Fliegen – die traditionelle Gothic-Szene war alles, was Nashville heute Abend zu bieten hatte. Eines baldigen Tages würden er und Fane nach Los Angeles fahren, auf der Goth-Welle reiten, den Gipfel erklimmen und ihre Macht alles überstrahlen lassen. Ihre Kunst würde von Millionen betrachtet und sie würden sich nie wieder trennen müssen. Dieser Tag rückte näher. Er hatte bereits die Tickets gekauft – Montag wären sie weg. Bis dahin hatten sie nur noch ein paar Dinge zu erledigen.
In der Zwischenzeit mussten sie sich mit dem begnügen, was ihnen zur Verfügung stand. Zuerst das Subversion, dann zum Abschluss der Nacht ins Salvation, wo sie sich mit Thorn und Ember treffen würden. Ember würde sich heute Nacht rausschleichen müssen, vor allem nachdem …
„Raven, Liebster, du musst dich beeilen. Ich will endlich los.“
Fane hatte die Hände in die Hüften gestemmt und stampfte trotzig mit dem Fuß auf. Ihre schweren Stiefel mit der Plateausohle hatten Schnallen bis zum Knie und machten sie eins neunzig groß. Sie sah spektakulär ätherisch aus. Er lächelte sie über den Spiegel an und leckte sich verführerisch mit der Zunge über seine spitzen Fangzähne. Sie hatten ihn eine ganze Stange Geld gekostet, aber das war es so was von wert gewesen. Fane liebte ihre genauso – sie machten es so viel leichter, einander zu beißen. Er zog echte Zähne seinem Athame jederzeit vor. Es war so viel realistischer.
Ein letzter schwarzer Strich unter den Augen, dann schaltete er das Licht am Schminkspiegel ab. Er nahm Fane bei der Hand und tanzte im Kreis durch die Mitte seines Zimmers.
„Komm, lass uns gehen.“
Eine Straße weiter kreisten blaue Lichter, doch auf ihrer war es ruhig. Raven wurde von einer ungekannten Aufregung erfasst und drückte Fanes Hand. Der Aufruhr fand seinetwegen statt. Seinetwegen.
Sie quetschten sich in seinen alten Elantra, auch liebevoll die Ratte genannt, und ließen den Tumult hinter sich.
Die Ratte war heute guter Dinge, also ließ er ihr die Zügel schießen. Außerdem waren sowieso alle Cops nach Green Hills beordert worden. Sie nahmen die Abkürzung durch den Westteil der Stadt zur Twenty-first Avenue und dann weiter auf den Broadway. Auf den Straßen wimmelte es nur so von Leuten und fast alle waren verkleidet. Es war die eine Nacht im Jahr, in der er und Fane sich ohne aufzufallen unter die Menschen mischen konnten.
Er fand das langweilig. Er wollte nicht dazugehören. Er wollte auffallen, anders sein. Anders war faszinierend, aufregend. Diese Poser, die glaubten, so Avantgarde zu sein, die ihre Individualität in Halloweenkostüme hüllten, waren nichts im Vergleich zu Raven. Sein Talent zur Einzigartigkeit war Legende unter seinen Brüdern.
Er bog links auf die Second Avenue ab und fuhr seine Ratte dann in das Parkhaus über der SATCO; der San Antonio Taco Company. Das Parkhaus war heute Nacht voll – sie mussten bis zum sechsten Parkdeck hinauffahren, um einen Platz zu finden. Sie stiegen aus und gingen zum Fahrstuhl. Mit jedem Stockwerk, an dem sie anhalten mussten, um Leute einsteigen zu lassen, wurde Fane genervter. Sie mochte es nicht, von allen angestarrt zu werden. Schließlich reichte es Raven und er zeigte einem als Pirat verkleideten Idioten seine Zähne. Der zeigte ihm nur den Mittelfinger und drehte sich um.
Sie liefen einfach quer über die Straße, ohne sich die Mühe zu machen, die Ampel an der Kreuzung zu nutzen, und wären beinahe mit einem Auto zusammengestoßen. Als sie den schockierten Gesichtsausdruck des Mannes sahen, brachen sie in lautes Lachen aus. Ihre Umhänge wehten hinter ihnen her. Sie gaben Tony, dem riesigen Türsteher des Subversion, das Eintrittsgeld, stiegen die düstere Treppe hinauf und spürten bereits das tiefe Dröhnen des Basses durch die Wände.
Als sie den von Stroboskoplichtern erhellten Raum betraten, wurde gerade Zombie Girls „Creepy Crawler“ gespielt und die Energie hätte sie beinahe umgehauen. Raven packte Fanes Hand und zog sie daran durch die Menschenmenge in die Mitte der Tanzfläche. Aus seiner Hosentasche holte er zwei kleine blaue Pillen, die er sorgfältig eingetaucht und von den restlichen getrennt aufbewahrt hatte. Eine gab er Fane, die andere ließ er unter seine Zunge gleiten. Das Ecstasy fing sofort an zu wirken und sandte goldene Wärme durch seinen Körper.
Dann ging der Trip richtig los. Sie küssten einander, spürten die Energie zwischen sich und durch ihre Adern fließen. Sie wiegten sich und sprangen, warfen ihre Arme in die Luft. Raven spürte, wie sich ein Schrei in seiner Brust aufbaute, und ließ sich von ihm mitreißen, ritt auf der Energie, die immer stärker wurde, bis sie sich in einem intensiven Schrei löste und er feststellte, dass er eine Erektion hatte und kurz davor stand, zu kommen.
Und genau darum ging es. Das war sein Platz, sein Leben, seine Welt.
Er hielt inne, stand ganz still auf der Tanzfläche, den Kopf zurückgeworfen, der Musik völlig ergeben, die sich in seiner Seele aufbaute. Am Höhepunkt des Liedes erreichte er seinen Orgasmus und stieß ein lautes Heulen aus. Jetzt war er ein Gott.
Sie beobachtete ihn aus einer Ecke des dunklen Raumes. Wie ein Lauffeuer hatte sich in ihrer Gemeinde die Neuigkeit über die Morde verbreitet, und sie wusste tief in ihrer Seele, dass, wer immer es gewesen war, sich in diesem Moment genau hier in diesem Raum aufhielt. Ein paar Minuten zuvor hatte sie gespürt, wie sich die Luft veränderte, die Energie sich verschob. Ein sehr mächtiger Zauber war gewirkt worden, und sie fing an, ihre Energie zu verlieren. Ganz in der Nähe stillte jemand seinen Hunger. Verdammte Vampire. Sie riss sich zusammen und schützte sich noch tief gehender, spürte, wie ihre Stärke zurückkehrte. Sie behielt ihren Blick wachsam auf die Menge gerichtet.
Er war hier. Sie fühlte ihn.
Was er getan hatte, war falsch. Verstieß gegen alle ihre Gesetze. Dafür würde er bestraft werden müssen.
Sie seufzte. Heute sollte ein Abend der Reflexion und inneren Einkehr sein, eine Nacht, um Kontakt mit den Verstorbenen aufzunehmen und ihnen zu versichern, dass die Erinnerungen an sie und ihr Leben immer noch wertvoll waren. Eine Nacht, um mit großer Erwartung auf den Tod des Gottes und die Wiedergeburt der Göttin zu schauen. Sie hatte ihre Zaubersprüche früher am Abend, beim Sonnenuntergang, aufgesagt. Hatte eine weiße und eine schwarze Kerze auf ihren Altar gestellt, ihr Athame, ihren Zauberstab, einen kleinen Totenschädel, echt und sehr, sehr mächtig, den sie vor ein paar Jahren auf einem heidnischen Festival im Montgomery Bell State Park erstanden hatte, dazu schwarze, rote und weiße Bänder.
Während des letzten Neumonds hatte sie ein paar Zweige von dem Rosmarin auf ihrem Fensterbrett abgeknipst und trocknen lassen, damit er seine volle Wirkung entfaltete. Daraus hatte sie ein Sträußchen gebunden, die Bänder geflochten und drei Mal um den Rosmarin geschlungen und dabei aufgesagt: „Rosmarin dient der Erinnerung, und heute Abend erinnere ich mich an die, die von uns gegangen sind. An die, die den Schleier durchschritten haben, werde ich mich erinnern.“ Sie hatte über denen meditiert, die sie verloren hatte, hatte mit ihren Geistern Kontakt aufgenommen. Nach der Zeremonie war sie von einem tiefen Frieden erfüllt gewesen. Der Rosmarinstrauß würde bis zum Julfest auf dem Altar liegen bleiben. Sie empfand immer eine tiefe Verbundenheit mit Samhain – die Feier des Kreislaufs von Tod und Leben hatte sie überhaupt erst zum Wicca geführt.
Obwohl ihr Handy ausgeschaltet war, hatte sie noch vor Ende ihrer Zeremonie Anrufe erhalten. Als sie schließlich fertig war, hatte sie acht Nachrichten auf der Mailbox. Nachdem sie sie abgehört hatte, wusste sie, dass der Friede des Abends dahin war. Es lag in ihrer Verantwortung, denjenigen zu finden, der ihre Gesetze gebrochen hatte. Sie musste erneut durch den Schleier schauen, also entzündete sie ein Feuer, bereitete ihren Altar vor und führte ein Wahrsageritual durch. Die Flammen sagten ihr, sie müsse sich heute unter die Massen mischen. Also hatte sie sich eilig angezogen und war zu der Versammlung gegangen.
Sie erkannte viele der Gesichter in der Menge, war umgekehrt aber nicht ebenso vielen bekannt. Sie hatte einen starken Schutzzauber mit einem verhüllenden Element gewirkt, sodass sie sich relativ ungesehen unter ihresgleichen bewegen konnte. Sie war nicht unsichtbar oder gar geisterhaft – ganz im Gegenteil. Der Zauber bewirkte nur, dass die Leute wegschauten, denn sie konnte keine Aufmerksamkeit gebrauchen.
Unter den Gästen herrschte die übliche Gesprächigkeit, die heute Abend jedoch wie ein Fieber um sich griff. Das Gerücht ging um, dass die multiplen Morde eine satanische Komponente gehabt haben sollen. Alle im Raum wussten, dass das ein Witz war – Satan war eine christliche Gottheit und niemand von ihnen war praktizierender Christ. Wicca, Heiden, Goths, Vampire – sie alle existierten in diesem Club harmonisch miteinander. Satan war etwas für die, die nichts verstanden.
Aber wenn Verbrechen wie diese geschahen, fiel es auf sie alle zurück. Der kleine Rückhalt, den sie in der Gesellschaft genossen, wurde sofort zerstört und sie mussten sich wieder verstecken.
Sie zog sich tiefer in die Ecke zurück, die den besten Blick gewährte, und beobachtete. Heute Abend waren viele Poser im Club, Zivilisten, die einen Abend lang auf der dunklen Seite spazieren wollten. Sie waren einfach zu erkennen, an ihrem unprofessionell aufgetragenen Make-up und den lächerlich neugierigen Blicken, die sie durch den Raum schweifen ließen. Sie kamen rein, tanzten ein Lied oder zwei, schubsten einander peinlich berührt herum und gingen wieder. Die wahren Getreuen taten dann einen tiefen Seufzer und konnten endlich wieder sie selbst sein.
Da.
In der Mitte der Tanzfläche wiegte sich ein Paar im Rhythmus der Musik, jung, aber mächtig. In dem Augenblick, in dem sie sie sah, zog sich ihr Herz zusammen. Hellsehen war eine elegante Kunst, die am besten von denen mit einem wahren Verständnis für die Begehung des Pfades, wie die Wicca ihre Reisen durch die Astralwelt nannten, ausgeübt wird. Sie hatte dieses Verständnis, konnte in ihren Geist schauen. Sie spürte das Böse darin lauern und wusste es.
Sie erhob sich, bereit, sich den beiden zu nähern, hielt jedoch noch einmal inne, als ein kleines Mädchen sich durch die Menge bewegte, direkt auf den Jungen zuging und ihn an der Schulter zog, bis er sich zu ihr umdrehte. Dann gab sie ihm eine Ohrfeige. Sein Kopf flog zur Seite und in seinen kohlschwarz umrahmten Augen bildeten sich Tränen. Sie fingen an, miteinander zu streiten, also wartete sie erst einmal ab, was geschehen würde. Der Junge wirkte kurz überrascht und zuckte dann mit den Schultern. Das Mädchen ging davon, Tränen liefen ihr übers Gesicht. Seine Begleiterin legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter. Sie unterhielten sich kurz, dann folgten sie dem Mädchen. Als sie gingen, hellte die Atmosphäre im Club schlagartig auf. Die Musik wurde lauter und der ganze Raum fühlte sich fröhlicher an.
Was für Frischlinge waren diese drei? Dominante, so viel war sicher. Sie besaßen eine Dunkelheit und Autorität, die in so jungen Jahren selten war.
Sie folgte ihnen mit wehendem Umhang und fühlte, wie sich die Energie in ihr wieder aufbaute. Um mit den dreien fertig zu werden, würde sie ihre gesamte Kraft benötigen.