Nachdem sie sich beruhigt hatte, hatte sie Baldwin gezwungen, seinen Freund beim NCSBI zurückzurufen, damit sie persönlich mit ihm sprechen und dem Mann jedes noch so kleine Detail entlocken konnte. Der Umfang der Ermittlungen hatte sich erweitert, sie befanden sich jetzt auf einer Such- und Rettungsmission, versuchten, den Mann aufzuspüren, den man nur als den Pretender kannte. Sie hofften, Fitz in einem Stück zurückzubekommen und nicht in zwanzig.
Wir haben ein starkes Team im Einsatz, Ma’am. Wir versprechen, dass wir ihn finden, Ma’am. Es tut uns leid, dass die Ermittlungen eine Zeit lang in die falsche Richtung gelaufen sind, Ma’am.
Sie musste ihnen glauben. Baldwin versicherte ihr, dass sein Freund einer der Besten war.
Bei dem Gedanken an Fitz, der Schmerzen litt, gefoltert wurde, hätte sie am liebsten geschrien und sich die Haare ausgerissen. Aber das war keine Lösung. Es würde Fitz auch nicht nach Hause bringen.
Baldwin schwieg am anderen Ende der Leitung. Er ließ sie ohne Unterbrechung ihre Gedanken durchleben.
„Lies mir noch einmal die Zeile aus dem zweiten Buch Mose vor.“
Sie hörte, wie er den Hörer enger ans Ohr drückte. „Zweites Buch Mose, Kapitel einundzwanzig, Vers dreiundzwanzig bis siebenundzwanzig: ‚Kommt ihr aber ein Schaden daraus, so soll er lassen Seele um Seele, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brand um Brand, Wunde um Wunde, Beule um Beule.‘“
Taylor stöhnte leise. „Er wird ihn umbringen.“
„Ich weiß nicht, Taylor. Der Vers geht wie folgt weiter: Wenn jemand seinen Knecht oder seine Magd in ein Auge schlägt und verderbt es, der soll sie frei loslassen um das Auge.“
„Was sagst du da? Du glaubst, er hat ihn freigelassen? Wo ist er dann? Warum hat er noch nicht Kontakt zu uns aufgenommen?“ „Ich weiß nicht, was ich glauben soll, Taylor. Der Pretender ist immer noch auf dich fixiert, so viel ist sicher. Er tut Dinge, von denen er weiß, dass sie dir persönlich wehtun.“
„Ich muss mich auf die Morde in Nashville konzentrieren. Aber sobald ich damit fertig bin, schließe ich mich der Jagd an.“ „Hältst du das für klug, Taylor? Diese Männer und Frauen wissen, was sie tun.“
„Ich will ihnen ja nicht in die Quere kommen. Ich bin auch Polizistin. Ich kenne das Protokoll. Ich kann helfen.“
Baldwin seufzte schwer. „Taylor, das will er doch nur. Genau darauf zählt der Pretender. Er kennt dich, für meinen Geschmack sogar etwas zu gut. Er weiß, wenn er dir nur einen kleinen Köder vor die Nase hält, wirst du dich kopfüber darauf stürzen.“
Ihr wurde ganz eng um die Brust, ihr Magen zog sich frustriert zusammen. Sie wusste, dass sie für das hier verantwortlich war. Nur ihretwegen musste Fitz Qualen erleiden. Es war alles ihre Schuld. Daran musste sie nicht erinnert werden.
„Das war ein Schlag unter die Gürtellinie, Baldwin.“
„So war es aber nicht gemeint. Wenn du da draußen wärst und die Polizei Körperteile von dir fände, glaubst du nicht, ich würde genau das Gleiche tun? Ich würde ihn jagen und ihm die Gliedmaßen einzeln herausreißen. Aber das darfst du nicht. Du bist sein Ziel. Du bist, was er will. Du musst in Nashville bleiben. Auf unserem Boden, mit unseren Leuten als Unterstützung im Rücken. Wenn du dich alleine rauswagst, bist du zu angreifbar.“
„So angreifbar bin ich nun auch wieder nicht, Baldwin. Ich habe eine Waffe. Ich weiß mich zu wehren.“
Er hob die Stimme. „Das hast du an deinem Hochzeitstag auch schon gewusst, und wo hat es dich hingebracht? Gefesselt an einen verdammten Stuhl in einem Lagerhaus in New York.“ Sie konnte förmlich hören, wie er mit den Zähnen knirschte, um die ätzenden Worte zurückzuhalten, die er nie wieder zurücknehmen könnte. Nun wurde sie auch langsam wütend.
„Wage es ja nicht, mich anzuschreien. Ich war an dem Tag nicht auf der Hut. Wer wäre das schon gewesen? Ich steckte in einem verdammten Hochzeitskleid auf dem Weg, dich zu heiraten.“ Sie war wütend und fühlte sich unwohl. Diese Diskussion hatten sie noch nie zuvor gehabt; sie wusste nicht, ob er sie für schwach hielt, weil sie sich an dem Tag hatte entführen lassen.
„Ich weiß, Taylor. Mein Gott, ich weiß. Wenn ich nicht gewesen wäre, wäre nichts von all dem passiert.“
„Ach, hör auf. Du warst genauso wenig der Grund dafür wie ich. Es war die Situation, und ich habe mich nicht richtig verhalten. Glaub mir, der Fehler wird mir nicht noch einmal passieren.“
In dem Moment, in dem sie die Worte ausgesprochen hatte, bereute sie sie. „Das habe ich so nicht gemeint“, sagte sie sanfter. „Ich meinte, ich werde immer auf der Hut sein. Ich werde immer nach ihm Ausschau halten.“
„Also willst du mich immer noch heiraten?“ Sie versuchte, ihren Atem zu beruhigen.
„Natürlich will ich das. Ich trage schließlich deinen Ring, oder nicht?“
Seine Stimme war ausdruckslos. „Obwohl ich dich nur in Gefahr bringe? Du bist eine Frau, die schwer zu beschützen ist, Taylor. Meine Arbeit, die Leute, mit denen ich in Kontakt komme, das alles bringt dich in Gefahr. Denk an Aiden. Wenn der Pretender ihn nicht umgebracht hätte, was würden wir jetzt tun?“
„Ich weiß nicht. Wir …“
„Wir würden vor dem Hurensohn davonlaufen, das würden wir jetzt tun.“
Sie gab sehr auf den Klang ihrer Stimme acht. Diese Unterhaltung könnte schnell außer Kontrolle geraten, und das wollte sie nicht. Nicht jetzt. Nicht am Telefon, wo der kleinste falsche Ton missverstanden werden könnte.
„Hör auf, mich anzuschreien, Baldwin. Du hast keine Ahnung, wohin es geführt hätte. Hör auf, dir immer das Schlimmste vorzustellen, und lass mich meinen Job machen.“
„Dein Job ist es, in Nashville zu sein, falls du das vergessen haben solltest. Deine Fälle, dein Team. Du hast Verantwortung, Taylor. Du kannst nicht einfach alles stehen und liegen lassen und dich an einer sinnlosen Verfolgungsjagd beteiligen.“
Er schnaubte und schluckte die Wörter herunter.
Taylor hatte auf die harte Tour gelernt, dass sich mit jemandem zu streiten, den man liebte, gewissen Regeln unterlag. Sie hatte gelernt, nicht immer gleich damit herauszuplatzen, was ihr als Erstes in den Kopf schoss. Oder als Zweites. Oder sogar als Drittes.
Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen, und sagte dann: „Du glaubst, dass Fitz schon tot ist, oder?“
„Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, wenn du hierauf hereinfällst, wenn du ihm nachrennst, wirst du es bald sein. Und ich kann dich nicht verlieren, Taylor. Nicht so. Nicht an jemanden wie ihn.“
„Also verbietest du mir zu gehen? Sprichst ein Machtwort, bestehst auf dein Recht?“
„Nein, so etwas würde ich niemals tun. Aber ich kann dich darum bitten, oder? Ich kann dich anflehen, dich von diesem Fall fernzuhalten. In Nashville zu bleiben, damit ich leichter atmen kann, weil ich weiß, dass du von Leuten umgeben bist, denen ich vertraue, dass sie dich beschützen. Alles, worum ich dich bitten kann, ist, dass du auch an mich denkst, bevor du etwas so Waghalsiges unternimmst. Würdest du das tun, Taylor? Würdest du bitte, bitte darüber nachdenken, was du tust, bevor du es tust?“
Könnte sie das? Die andere Sache mit der Liebe war, wie sie sehr schnell gelernt hatte, dass man immer erst an den anderen denken musste und erst dann an sich und seine eigenen Wünsche. Jede Zelle in ihrem Körper schrie förmlich danach, sich in ein Auto zu setzen und zu dem Campingplatz zu fahren, zu sehen, was passiert war, sicherzugehen, dass die Kollegen dort das Richtige unternahmen. Aber Baldwin hatte recht. Der Pretender versuchte, sie herauszulocken, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie würde Fitz keine Hilfe sein, wenn sie sich fangen ließe oder gar tot wäre.
„Okay“, sagte sie schließlich. „Okay. Ich bleibe hier.“
„Danke.“ Seine Stimme war kaum mehr ein Flüstern. „Du weißt, dass ich alles in meiner Macht Stehende tue, um dich zu beschützen. Du bist mein Herz, Taylor.“
Am Fuß der Auffahrt bildete sich eine Pfütze. Ein kostenloses Anzeigenblatt, versehentlich an die falsche Adresse geliefert, schwamm darauf in seiner Plastikhülle. Sie fuhr darüber hinweg auf die Straße, Scheibenwischer und Scheinwerfer eingeschaltet, Gedanken komplett und vollständig ausgeschaltet.
Armer Fitz. Als Werkzeug in diesem lächerlichen Spiel missbraucht. Zu wissen, dass sie ihm solches Leid verursacht hatte, war überwältigend, und sie erkannte, dass der Pretender genau das geplant hatte. Das Leid derer, die sie liebte, war seine Strafe, bis er so weit war, sie sich zu holen.
Sie holte McKenzie an seinem Haus ab und war ihm dankbar, dass er sofort erkannte, dass sie andere Dinge im Kopf hatte. Er schwieg, bis sie endlich sprach.
„Wo stehen wir mit dem Fall?“
Er klappte sein Notizbuch auf. „Ich denke, wir sind nah dran. Wir haben alle Mitspieler. Juri Edvin wird für den Mord an Brittany Carson verhaftet. Seine Freundin Susan Norwood wusste von seinen Taten – sie hat versucht, ihm bei seiner Flucht zu helfen. Heute holen wir aus ihm ein Geständnis für die anderen sieben Morde raus und schließen den Fall ab.“
„Ich denke immer noch, dass etwas anderes dahintersteckt.“ „Was denn?“
„Das ist mir alles zu ausgefeilt, um von einem Teenager allein ausgeführt worden zu sein. Ich finde, wir sollten uns unseren Vampir und unsere Hexe noch einmal genauer ansehen. Marcus hat einen Durchsuchungsbefehl für das Haus des Vampirkönigs beantragt. Ich will sehen, was er so gebunkert hat.“
„Ariadne hat nichts damit zu tun“, sagte McKenzie mit einer gewissen Endgültigkeit in der Stimme.
„Woher willst du das wissen? Sie ist total durchgedreht. Woher weißt du, dass sie uns nicht auf die falsche Fährte lockt?“ „Das ist nur so ein Bauchgefühl, mehr nicht. Ich habe gestern ein wenig über sie recherchiert, während du im Vanderbilt warst. Sie hat keinerlei Vorgeschichte als jemand, der sich in Fälle hineindrängt. Sie war eine mächtige politische Figur in der Wicca-Bewegung, eine Hohepriesterin, die gleichzeitig als Richterin in einem Disziplinarausschuss gedient hat. Aber sie ist vor mehreren Jahren ausgestiegen. Als Grund gab sie persönliche Konflikte mit der Richtung, die die Religion einschlug, an.“
„Dann könnte sie auf Rache aus sein.“
„Das glaube ich nicht. Ich denke, sie sagt die Wahrheit.“
„Du glaubst, sie kann Gedanken lesen und Energie heraufbeschwören?“
„Ich weiß nicht. Ich glaube allerdings durchaus, dass sie glaubt, sie könne helfen. Tu mir einfach einen Gefallen und hör dir an, was sie zu sagen hat. Ich habe sie gebeten, später am Vormittag bei uns vorbeizuschauen.“
Taylor stellte den Wagen ab, und gemeinsam überquerten sie die Straße. Als sie ihre Schlüsselkarte durch den Kartenleser an der Hintertür zog, wandte sie sich zu McKenzie um.
„Okay. Ich vertraue dir.“
Ein kleines Lächeln erschien auf seinem Gesicht, doch er sagte nichts.
Paula Simari saß im Büro der Mordkommission und plauderte mit Marcus Wade, als Taylor und McKenzie hereinkamen. Sie war in voller Fahrt und gestikulierte wild, um ihren Standpunkt zu verdeutlichen.
„An der Art, wie ein Mann seinen Hund behandelt, kann man ihn genau einschätzen, Wade. Du musst nur zusehen. Ruckt er am Halsband, um den Hund auf Linie zu halten? Zieht er ein wenig zu hart, wenn er trainiert, oder ist es angebracht? Hunde lieben es, zu arbeiten, weißt du. Sie mögen es, einen Job, einen Daseinszweck zu haben. Max kennt seine Aufgabe ganz genau und ist am glücklichsten, wenn er arbeiten darf. Aber ich will verdammt sein, wenn ich jemals so an seinem Kopf herumreiße.“
„Morgen ihr zwei“, grüßte Taylor. „Was gibt’s Neues?“
Simari verzog ihr Gesicht und drehte sich zu ihr um. Sie hatte tiefe Ringe unter den Augen. „Ein Fall von Gewalt gegen Tiere ist heute Nacht reingekommen – er ist an mir hängen geblieben. Ich hasse die Mistkerle, die ihre Hunde anketten und behaupten, es wäre gut für deren Charakter. Das Arschloch hat seinen Rottweiler trainiert und dabei ein Würgehalsband so fest zugezogen, dass er ihm das Genick gebrochen hat. Das hat das arme Ding aber nicht getötet. Wir mussten ihn einschläfern, als wir ankamen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie gerne ich das auch mit dem Besitzer machen würde.“
„Oh Gott, Simari, das ist ja schrecklich.“
„Ja, nun ja. Ist nicht dein Problem. Ich bin eigentlich vorbeigekommen, um euch bei der Durchsuchung zu unterstützen. Wade hat darum gebeten, dass Max und ich mitkommen.“
„Bist du denn dazu in der Lage? Du warst die ganze Nacht auf.“ „Ja, alles gut. Wir ruhen uns danach aus.“
„Also haben wir den Durchsuchungsbefehl, Marcus?“, fragte Taylor. „Unterschrieben, besiegelt und zugestellt. Mr Johnson war letzte Nacht unser Gast.“
„Was ist mit Susan Norwood, dem Mädchen, das sich Ember nennt?“ „Ist um Mitternacht in die Obhut ihrer Eltern übergeben worden.“
Taylor schlug mit der Hand auf den Tisch. „Mist. Ich wollte sie noch hierbehalten. Was ist passiert?“
Marcus schüttelte den Kopf. „Wir hatten nichts gegen sie in der Hand. Sich in das Krankenhauszimmer eines Jungen zu schleichen reichte nicht. Miles Rose, der schleimige Bastard, hatte keine Probleme, sie hier rauszukriegen.“
Taylor kaute einen Moment nachdenklich auf ihrer Unterlippe. „Ich will, dass sie rund um die Uhr von einem Officer bewacht wird. Sie hat mit dieser Sache zu tun.“
Marcus zeigte auf einen Stapel Papier, der, wie Taylor annahm, die Überwachungsanordnung war. „Schon erledigt. Juri Edvin hat eine ruhige Nacht im Vanderbilt verbracht. Sie glauben, er kann morgen in unsere Obhut entlassen werden. Lincoln sitzt noch an den Videosharing-Seiten im Internet.“
„Ausgezeichnet. Danke für die Zusammenfassung. McKenzie, um welche Zeit soll Ariadne hier sein?“
„Die Streife soll sie um zehn Uhr heute Morgen hier absetzen.“ „Dann los. Simari, Marcus, ihr kommt mit uns.“
Ein paar Minuten später verließen sie das Gebäude. Taylor fuhr, McKenzie saß neben ihr. Marcus telefonierte auf dem Rücksitz. Simari folgte in ihrem Streifenwagen. Max hielt seine Schnauze aus dem offenen Fenster und ließ sich die frische, kühle Luft um die schwarze Nase wehen.
Der Berufsverkehr war fast vorbei, doch auf den Straßen drängelten sich immer noch die zu spät Kommenden, die durch zwei Unfälle mit leichtem Blechschaden aufgehalten wurden. Die Fahrt nach Joelton dauerte normalerweise dreißig Minuten; sie waren schon seit einer Stunde unterwegs und Taylor wurde langsam unruhig. Sie hasste es, im Verkehr festzustecken.
Lincoln rief an, als sie gerade vom Highway abbogen. Marcus hörte ihm ein paar Minuten zu und ließ sein Handy dann zuschnappen. „Gute Neuigkeiten“, sagte er. „Eine der Videosharing-Seiten hat eine Adresse gefunden. Sie versuchen gerade, sie nachzuverfolgen.“
Taylor schaute ihn über den Rückspiegel an. „Was meinst du damit, sie haben eine Adresse gefunden?“
„Erinnerst du dich, dass Lincoln gestern gesagt hat, in der IP-Adresse gäbe es einen sogenannten Geist, der zeigte, dass die Uploads umgeleitet worden waren? Es gibt mehrere IP-Adressen zu den Uploads und er hat jetzt darin ein Muster entdeckt.“
„Ehrlich gesagt ist das Thema an mir vorbeigegangen.“
„Es gibt andere Videos, die von der gleichen Person gepostet wurden wie das Original. Sie verfolgen gerade die IP-Adressen nach. Sie glauben, bis Mittag was Konkretes zu haben.“
„Big Brother is watching you“, sagte McKenzie trocken.
Obwohl es noch Morgen war, strahlte die Sonne schon mit voller Kraft. Taylor setzte ihre Sonnenbrille auf. Sie warf Marcus noch einen Blick zu und amüsierte sich darüber, wie schlapp seine Haare heute herunterhingen. Der Junge hatte nicht viel geschlafen, sonst hätte er sich mehr Mühe gegeben, das wusste sie. „Tja, in diesem Fall bin ich Big Brother ziemlich dankbar, denn es könnte unsere einzige wertvolle Spur sein. Auf Juri Edvins und Susan Norwoods Computern ist vermutlich nichts aufgetaucht?“
„Der von Susan ist noch nicht untersucht worden – ihre Eltern stellen sich ein wenig quer. Aber die Edvins waren sehr zuvorkommend und haben Juris Laptop gestern Abend bei Lincoln abgegeben. Der Junge ist ganz schön schräg unterwegs. Sein Browser-Verlauf liest sich wie das Who is Who der Verrückten – viel illegales Zeug, Sadomaso-Bilder, eine Anleitung zum Bombenbau, was über Vergiftung mit Zyanid, wie man jemandem das Genick bricht, all so etwas. Sein Interesse gilt vor allem Gewalt und gewalttätigen Tötungsmethoden. Er passt haargenau auf unser Profil.“
„Können wir ihn irgendwie mit Barent in Verbindung bringen? Gibt es irgendwelche Korrespondenz zwischen den beiden?“ „Bisher haben wir nichts dergleichen gefunden. Wir analysieren gerade seine SMS, aber das wird ein Weilchen dauern.“ „Haben die Sicherheitsaufnahmen an einem der Häuser irgendetwas Interessantes ergeben?“
„Die Einzigen mit einer Kamera waren die Norwoods, aber die war ausgestellt. Die anderen zeigten alle von den Tatorten weg und sind für uns somit nutzlos.“
„Nun, wenn die kleine Miss Ember sich nachts rausgeschlichen hat, um ihren Freund Thorn zu besuchen, könnte sie an der Kamera he rumgefummelt haben, um ihre Spuren zu verdecken.“
„Wir müssten mit den Norwoods sprechen, um die ganze Geschichte zu erfahren. Die Sicherheitsfirma sagte, die Kamera wäre irgendwann in der ersten Septemberwoche ausgeschaltet worden, weil Mrs Norwood sich zu beobachtet gefühlt hat.“
„Zu beobachtet? Ich werde niemals verstehen, warum Menschen Unmengen an Geld für ausgefeilte Sicherheitssysteme ausgeben und sie dann nicht benutzen.“
„Vielleicht wusste Mrs Norwood von der Neigung ihrer Tochter, sich nachts aus dem Haus zu schleichen, und war damit einverstanden“, sagte McKenzie.
„Gibt es wirklich Eltern, die es gutheißen, wenn ihre Kinder sich nachts herumtreiben?“, fragte Marcus.
Taylor schaute ihn über den Rückspiegel an. „Du wärst überrascht. Ich habe Eltern schon die aberwitzigsten Dinge tun sehen. Wenn die Edvins sich so von ihrem Sohn bedroht fühlen, wer sagt dann, dass es den Norwoods mit ihrer Tochter nicht ähnlich erging? Vielleicht diente es reinem Selbstschutz.“
„Glaubst du, sie hätte ihren eigenen Bruder töten können?“
„Ich weiß es nicht, Marcus. Ich weiß es einfach nicht.“
McKenzie zeigte auf einen verzierten Briefkasten. „Hey, da ist es.“
Taylor trat so hart auf die Bremse, dass der Wagen auf dem rauen Asphalt ein wenig schlitterte. Zwei einen Meter achtzig hohe verputzte Steinsäulen flankierten ein Tor, das auf eine Schotterauffahrt führte. Die Flügel aus schwarzem Schmiedeeisen standen günstigerweise offen.
Taylor setzte ein Stück zurück und fuhr dann durch das Tor. Staub wirbelte in erstickenden Wolken unter den Rädern ihres Lumina auf.
Die Auffahrt war ungefähr eine Meile lang. Eine Hecke zu beiden Seiten versperrte die Sicht auf das Grundstück.
„Das ist ein ganz ordentliches Stück Land, das er hier draußen sein Eigen nennt“, sagte Taylor und biss die Zähne zusammen, als sie durch ein unerwartetes Schlagloch fuhr und alle ordentlich durchrüttelte. „Tut mir leid, das hab ich nicht gesehen.“
Die Straße verlief in einem Bogen und öffnete sich dann zu einem wunderschönen, mit Kopfsteinpflaster ausgelegten Parkplatz. Dahinter erhob sich ein Haus, das die gesamte Länge des runden Vorplatzes umschloss. Seine drei im gotisch-viktorianischen Stil gehaltenen Stockwerke wurden von hohen Säulen gestützt, das Mauerwerk war weiß verputzt, die Fensterläden in hellem Grau gestrichen. Es war ein zauberhaftes Haus mit Balkonen und einem Turm, und es war gut in Schuss – keine abblätternde Farbe, keine Spinnweben. Wäre es he runtergekommen, hätte Taylor sich eher vorstellen können, dass der König der Vampire hier lebte. Doch das Haus machte beinahe einen fröhlichen Eindruck. Sie schnaubte unterdrückt, stellte die Automatik auf Parken und stieg aus dem Wagen.
Simari parkte neben ihr, ließ Max im Wagen und gesellte sich zu ihnen.
Marcus schaute sich bewundernd um. „Ich wette, das ist mal eine Farm gewesen. Seht ihr, wie die Wiesen abfallen? Hier könnte man prima Wein anbauen.“
„Hier oben gibt es viel gutes Farmland. Hauptsächlich werden Baumwolle und Mais angebaut, ab und zu auch Tabak.“
Sie zuckten alle zusammen, als die Stimme ertönte, und drehten sich um. Ein kleiner Mann in einem Overall kam eine Harke schwingend auf sie zu.
„Sie befinden sich hier auf Privatgelände. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“
Taylor trat einen Schritt zurück und tippte gegen die Marke an ihrem Gürtel. „Ja, Sir. Mein Name ist Lieutenant Jackson von der Metro-Mordkommission. Das hier sind Detective Wade, Detective McKenzie und Officer Simari. Wir haben einen Durchsuchungsbefehl für das Anwesen.“
Max fing an zu bellen und Taylor warf Simari einen warnenden Blick zu. Es hat keinen Sinn, diesen Mann unnötig gegen uns aufzubringen. Beruhige den Hund. Simari drehte sich um und ging zu ihrem Streifenwagen. Max’ kehliges Bellen wurde leiser.
Der Mann nutzte die Harke wie einen Stock. Er stützte sich darauf und kratzte sich seinen sommersprossigen, kahl werdenden Kopf. Kleine Haarbüschel quollen ihm wie weiße Wattebäusche aus den Ohren.
„Wieso um alles in der Welt haben Sie einen Durchsuchungsbefehl? Für was? Warum müssen Sie mein Haus durchsuchen?“ „Ihr Haus? Wir hatten den Eindruck, dass dieses Haus einem Keith Barent Johnson gehört.“
„Ha!“ Der kleine alte Mann lachte. „Das bin ich, und das hier ist mein Haus. Aber ich habe nichts falsch gemacht.“
„Sir, wir haben einen Mann verhaftet, der behauptet, sein Name wäre Keith Barent Johnson. Er gibt diese Adresse als seine an.“
Der Mann nahm die Harke in die andere Hand. Taylor sah, wie er nachdachte. Endlich seufzte er schwer, wischte sich die Stirn mit einem roten Tuch ab und winkte sie zur Terrasse.
„Sie sprechen vermutlich von meinem Sohn Barry. Kommen Sie rein, ich brauche einen Kaffee. Dann können wir reden.“
Der Kaffee, den Mr Johnson in die Tassen goss, war beinahe so zähflüssig wie Honig.
„Barry ist ein guter Junge, müssen Sie wissen. Er ist nur ein kleines bisschen verwirrt im Kopf. Wussten Sie, dass er Soldat war? Ein verdammt guter, soweit ich gehört habe.“
„In welcher Einheit war er?“, fragte Taylor. Sie tat so, als würde sie einen Schluck aus ihrer Tasse nehmen, aber normaler Kaffee war nicht wirklich nach ihrem Geschmack.
„Bei den Marines. Im Ersten Golfkrieg. Er ist ausgebildeter Chemieingenieur, landete dann aber bei der Infanterie. Der Junge kann mit Waffen umgehen – das habe ich ihm beigebracht, als er noch ein Junge war, und die haben ihm den letzten Feinschliff verpasst. Parris Island, dann SOI im Camp Geiger.“
„SOI?“, fragte Taylor.
„School of Infantry. Er ist in einem Stück zurückgekommen, aber sein Kopf war nicht mehr ganz klar, wenn Sie wissen, was ich meine. Sie nennen es das Golfkriegssyndrom. Er ist als voll berufsunfähig entlassen worden und wird regelmäßig im Veteranenkrankenhaus untersucht. Sie haben da eigentlich ganz gute Arbeit mit ihm geleistet. Seitdem seine Momma gestorben ist, Gott hab sie selig, gibt es nur noch uns beide. Er ist einsam, das weiß ich. Ich versuche, ihn beschäftigt zu halten, aber er verbringt viel Zeit an seinem Computer oder draußen in seinen Schuppen.“
„Haben Sie sich keine Sorgen gemacht, als er gestern Abend nicht nach Hause kam?“, wollte McKenzie wissen.
Johnson goss sich eine weitere Tasse Kaffeeschlamm ein. „Nö. Er zecht ab und zu mal einen. Er hat was mit einer Witwe oben am Pleasant View angefangen. Sie war die Frau eines Freundes aus seiner alten Einheit. Hin und wieder fährt er abends zu ihr. Sie ist ein nettes Mädchen. Kirchgängerin. Auch ein bisschen weich in der Birne, aber sie verstehen sich gut. Als ich gestern vom Einkaufen nach Hause kam und er nicht da war, nahm ich an, er ist bei ihr. Schätze, Sie hatten ihn abholen lassen, was?“
„Das stimmt.“
„Werden Sie mir verraten, was er angestellt hat, oder muss ich raten?“
Taylor hasste es, Eltern schlechte Nachrichten zu überbringen, egal, wie alt die Kinder waren oder was sie angestellt hatten. „Sir, Ihr Sohn hat behauptet, in die Morde an sieben Teenagern in Green Hills am Nachmittag von Halloween involviert gewesen zu sein.“
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Das war nicht mein Junge. An Halloween war er bei mir.“ Der Mann schloss seinen kleinen Mund entschlossen.
„Er behauptet außerdem, König der Vampyre Nation zu sein“, fügte McKenzie hinzu.
Der alte Mann schloss kurz die Augen und schüttelte den Kopf. Seine Stimme war ganz weich. „Das ist seine Krankheit. Er ist total durcheinander aus dem Krieg heimgekommen. Hat über Vampire gesprochen, die Blut aus seinem Körper saugen. Er fing an, den ganzen Tag zu schlafen und nachts aktiv zu werden. Hat seine Zähne zu diesen dummen Reißzähnen feilen lassen. Ich habe darin nichts Schlimmes gesehen – er tut ja niemandem was. Er kommuniziert über den Computer mit seinesgleichen. Sie haben einfach Spaß miteinander. Aber er würde nie einer Fliege etwas zuleide tun.“
„Sir, Sie verstehen sicherlich, dass wir diesen Durchsuchungsbefehl trotzdem ausführen müssen. Ihr Sohn wusste Einzelheiten über die Verbrechen, die der Presse nicht mitgeteilt worden waren. Und er ist auf mehreren Bändern zu sehen, die an den Tatorten aufgenommen wurden. Wir wissen also, dass er nicht bei Ihnen zu Hause war.“
„Dann muss er gegangen sein, nachdem ich mich schlafen gelegt habe. Ich habe einen Polizeiempfänger im Wohnzimmer. Er hört gerne dem Funk zu. Ich bin sicher, dass er dadurch von dem Verbrechen erfahren hat und beschloss, sich das einmal anzusehen.“
„Sir, ich weiß Ihre Kooperation zu schätzen, doch wir müssen das Haus trotzdem durchsuchen. Am besten bringen wir es so schnell wie möglich hinter uns.“ Sie stand auf und stellte ihre Tasse in die Spüle. „Ich hole nur eben Simari.“
McKenzie blieb bei dem alten Mann. Sie wusste, dass er versuchen würde, weitere Informationen aus ihm herauszukriegen und ließ ihn machen.
Marcus und Simari lehnten ungeduldig an Simaris Streifenwagen, bereit, endlich mit der Durchsuchung anzufangen. Max war angeleint und hatte seine Nase schon auf dem Boden. Er zitterte am ganzen Körper vor Anspannung.
„Marcus, fang du doch schon mal im Haus an. Mr Johnson hat erwähnt, dass sein Sohn gerne in den Schuppen herumwerkelt. Ich dachte, die könnten Simari und ich uns einmal anschauen.“
Er nickte und stieß sich vom Wagen ab. Im Gehen zog er ein paar lilafarbener Latexhandschuhe aus seiner Hosentasche und streifte sie über. Taylor schaute ihm hinterher, dann wandte sie sich an Simari.
„Meinst du, Max könnte ein wenig für mich schnüffeln, während wir hier sind?“
„Natürlich. Meinst du wegen Drogen?“
„Darauf hoffe ich, ja. Okay, fangen wir an.“
Sie nahmen einen Weg, der sich rechts am Haus entlang in Richtung der Hügel schlängelte. Der rückwärtige Garten war genauso gepflegt wie der Vorgarten – Azaleen, Hortensien und Kreppmyrten waren schon für den Winter zurückgeschnitten, Hartriegelsträucher und Tulpenbäume erstreckten sich über den weiten, immer noch grünen Rasen.
„Mein Gott, er muss Stunden hier verbringen“, bemerkte Simari. Max hatte die Nase auf dem Kiesweg und schnüffelte. „Im Frühling muss es hier wunderschön sein. Ich liebe Hartriegel.“ „Oh, LT. Wie romantisch von dir.“ Sie lachten gemeinsam, und während sie weitergingen, knirschte der Kies unter ihren Stiefeln. Die Schuppen standen gute hundert Meter weiter. Es waren drei, alle rot gestrichen mit weißen Bordüren wie normalerweise für Ställe üblich.
Sie kamen an einer kleinen Feuerstelle vorbei. Die verkohlten Überreste von Laub und Zweigen sammelten sich am Rand, als wenn jemand mit einem Stock in dem Loch herumgerührt hätte. Simari blieb stehen und ließ Max riechen. Er schlug nicht an, also gingen sie weiter.
Als sie nur noch zwanzig Meter von den Schuppen entfernt waren, bemerkte Taylor, dass Max anfing zu zittern. „Hier ist irgendetwas“, sagte Simari.
„Ja, das glaube ich auch. Hat er unterschiedliche Signale für unterschiedliche Drogen?“
„Nein, aber er bellt, wenn er auf etwas stößt, das er kennt. Er ist super, was Haschisch und Kokain angeht.“
Taylor atmete den beißenden Geruch von Aceton ein und blieb stehen. „Wie ist er mit Meth?“, fragte sie im gleichen Moment, in dem Max siegreich aufheulte.
„Auch ziemlich gut“, erwiderte Simari mit hochgezogenen Augenbrauen.