2. KAPITEL

Der Schrei erschreckte Taylor so sehr, dass sie von der Leiche zurückzuckte.

Simaris Funkgerät knackte, und beinahe gleichzeitig fing Taylors Handy an zu klingeln. Die angezeigte Nummer verriet ihr, dass es Lincoln war.

„Ja?“, sagte sie.

„Du musst sofort herkommen. Wir haben ein ernsthaftes Problem.“ „Was für eins?“

„Wir haben hier noch eine.“ „Noch eine Leiche?“

Simari stürmte bereits aus Jerrold Kings Zimmer. Taylor klappte ihr Handy zu und folgte ihr zusammen mit Baldwin die Treppe hinunter und auf die Veranda. Der Schrei kam von der anderen Straßenseite drei Häuser weiter unten.

„Hilfe! Bitte helfen Sie mir!“

Auf der Auffahrt stand eine Frau und wedelte mit den Armen. Lincoln war bei ihr und versuchte vergeblich, sie zu beruhigen.

Die Straße war taghell erleuchtet – die Außenbeleuchtungen aller umliegenden Häuser waren an, dazu kamen die Scheinwerfer der Streifenwagen und die Unmengen an Taschenlampen, deren Strahlen auf die Gesichter der Schaulustigen gerichtet waren, die wie erstarrt in ihren Auffahrten standen.

Während Taylor die Straße hinunterlief, spürte sie, dass alle Augen sich auf sie richteten. Ihre Stiefel schlugen laut auf dem Asphalt auf und übertönten Baldwins Schritte. Ihr kam ein seltsamer Gedanke: Angst war ein Gefühl, mit dem man sich in dieser Nachbarschaft nicht auskannte.

Bei Lincoln angekommen, kam Taylor schlitternd zum Stehen und hätte sich auf dem losen Kies beinahe den Knöchel verdreht. Sie schnappte nach Luft.

„Ma’am, ich bin Taylor Jackson von der Mordkommission. Was haben Sie für ein Problem?“

„Meine Tochter. Meine Tochter ist …“ Ihre Stimme brach, laute Schluchzer entrangen sich ihrer Kehle. „Sie liegt tot in ihrem Zimmer.“

„Führen Sie uns hin“, sagte Taylor.

„Ich kann nicht. Ich kann da nicht wieder reingehen.“

Taylor gab Lincoln mit den Augen ein Zeichen und nickte Baldwin und Simari zu. Gemeinsam eilten sie ins Haus, das dem der Kings erstaunlich ähnlich war, und die geschwungene Treppe hinauf. Der Duft von Jasmin lag in der Luft. Taylor spürte, wie sich ihr der Hals zuschnürte.

Der Tatort war leicht zu finden. Überall auf dem Fußboden lagen Handtücher verstreut. Die Mutter musste gerade die Wäsche hochgebracht haben. Auf einem Schild an der Tür zum Zimmer des Mädchens stand der Name Ashley in pinkfarbenen Buchstaben. Darunter hing ein Stoppschild mit der Aufschrift: Unbefugtes Betreten verboten!

Die Tür war nur angelehnt. Taylor machte einen großen Schritt über den Handtuchberg hinweg und betrat das Zimmer.

Das Mädchen lag rücklings auf dem Bett, die Arme über den Kopf gestreckt. Ihr braunes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst, auf ihrem Gesicht war eine grüne Maske getrocknet. Neben dem Bett stand eine offene Nagellackflasche, die einen beißenden Geruch verströmte. Das Mädchen hatte sich einen Schönheitstag gegönnt – Gesichtsmaske, Maniküre. Ein typischer Nachmittag im Leben eines Teenagers, doch ihre unschuldige rituelle Reinigung war brutal vom Tod unterbrochen worden.

Genau wie das vorherige Opfer war sie vollständig nackt. Die Haut an Brust und Lenden war beinahe durchsichtig verglichen mit dem wohlgebräunten Teint am restlichen Körper. Sie lag entweder gerne in der Sonne oder war kürzlich im Solarium gewesen. Die braune Haut war von den Messerschnitten auf ihrem Bauch nur ein wenig eingedrückt worden. Ein inzwischen vertrautes Symbol: Fünf Punkte, durch einen ausgefransten Kreis miteinander verbunden.

„Ich würde sagen, irgendeine Art von Überdosis“, sagte Baldwin mit Blick auf die blauen Lippen des Mädchens.

„Genau wie bei Jerrold King. Was zum Teufel ist hier heute Nachmittag passiert?“

Aus dem Augenwinkel nahm Taylor eine hektische Bewegung wahr. Hastige Gesten und wirr durch die Dunkelheit irrende Lichter. Taschenlampen, deren blauweiße Strahlen sich die Straße hinunter entfernten. Sie wandte sich von der Leiche ab und trat ans Fenster. Menschen liefen auf und ab, schrien, weinten, fluchten. Das scharfe Heulen einer Sirene zerriss die wolkenverhangene Luft. Streifenwagen kämpften sich ihren Weg durch die Schaulustigen die Estes hinauf in Richtung Abbott Martin Road. Einer von ihnen fuhr weiter und verschwand hinter einem Hügel.

Als ihr Handy klingelte, wäre sie beinahe nicht rangegangen. Weglaufen kam ihr wie ein guter Plan vor. Doch wenn sie ehrlich war, spürte sie schon, wie sich das Adrenalin, die Faszination in ihr aufbaute. Ein neuer Fall. Sie nahm den Anruf an.

„Was zum Teufel ist hier los?“, fragte sie statt einer Begrüßung.

„Ich brauche dich sofort!“, rief Lincoln durchs Telefon.

„Ich bin auf dem Weg.“ Sie drehte sich zu Baldwin um. „Wir müssen gehen.“

„Was um alles in der Welt passiert hier?“, fragte er.

„Ich weiß es nicht. Aber wir sollten es besser herausfinden.“

Gemeinsam eilten sie die Treppe hinunter und in die Nacht hinaus. In den letzten fünf Minuten, die Taylor und Baldwin sich in Ashleys Zimmer aufgehalten hatten, war auf der Straße das reinste Chaos ausgebrochen. Es sah aus, als wenn eine Bombe explodiert wäre – keine blutigen Körperteile oder qualmende Autowracks, aber Menschen, die ziellos die Straße hinauf- und hinunterliefen. Vor vielen Jahren hatte Taylor gesehen, wie ein Mann aus einem brennenden Gebäude gekommen war – die Augen leer, die Kleidung in Flammen – und versucht hatte, die Straße entlangzugehen, weg von der Hilfe, die auf ihn wartete. Schock. Das konnte sie nur zu gut verstehen.

Die Menschenmenge wogte die Straße hinauf und herunter, Anwohner vermischten sich mit Streifenpolizisten und Rettungssanitätern. Taylor konnte Lincoln nicht gleich entdecken, fing aber den Blick von Marcus Wade auf und winkte ihn heran.

„Was ist los? Wir waren eben im Zimmer des zweiten Opfers, als hier unten die Hölle losbrach.“

„Es gibt noch mehr, Taylor. Ich habe bereits Berichte über drei weitere erhalten, doch die Zentrale erhält seit zehn Minuten einen Notruf nach dem anderen.“

„Noch mehr?“, fragte Taylor verständnislos. „Drei weitere Leichen?“

Marcus strich sich die Haare aus den Augen und Taylor sah, dass sich auf seiner Stirn kleine Schweißperlen gebildet hatten, die im Licht der Scheinwerfer eines in der Nähe stehenden Streifenwagens glänzten. „Ja. Alles Teenager. Alle in diesem Viertel.“

In diesem Moment rannte Lincoln an ihnen vorbei. Er bog in die Auffahrt des übernächsten Hauses ein. Das Heulen der Sirenen war so ohrenbetäubend laut, dass Taylor glaubte, ihre Trommelfelle müssten platzen.

Ihr Handy klingelte erneut. Das Hauptquartier. Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen, und ging dann ran. Es war ihre neue Chefin, Joan Huston.

„Was ist da draußen los, Jackson? Ich habe gerade von der Zentrale erfahren, dass sie mit Notrufen nur so überschüttet werden.“

„Ja, Ma’am. Mehrere Opfer an verschiedenen Tatorten. Ich habe noch keine genauen Informationen über die Anzahl der Opfer, aber derzeit sind es mindestens fünf Leichen. Wir brauchen ein vollständiges Sondereinsatzkommando auf der Estes Road in Green Hills. Schicken Sie jeden verfügbaren Officer. Ich brauche Dan Franklin und alle Rechtsmediziner, die er erübrigen kann. Ich muss mich jetzt um die Einsatzleitung kümmern. Ich rufe Sie an, sobald ich Näheres weiß.“

„Gibt es eine Bedrohung durch biologische Kampfstoffe? Brauchen wir einen Kampfmittelräumtrupp? Ich kann sofort den Notstand ausrufen.“

„Ich denke nicht, dass das nötig sein wird. Es sieht mir nach mehreren Morden aus, aber wir werden eine Weile brauchen, bis wir das mit Gewissheit sagen können. Wir wissen ja noch nicht einmal, mit wie vielen Tatorten wir es zu tun haben.“ Sie hielt inne und schaute auf die Straße. Die Menschenmenge schien mit jeder Minute zu wachsen. „Die Eltern kommen nach Hause und finden ihre Kinder tot auf. Mehr kann ich im Moment noch nicht sagen.“ Es hatte keinen Zweck, etwas über die Pentakel zu erzählen, bis sie nicht klarer sah, was hier los war. Das Letzte, was sie jetzt brauchte, war, dass die Information an die Presse durchsickerte. Die Schlagzeilen konnte sie schon förmlich vor sich sehen: „Satanisten wüten in Green Hills.“

Sie wandte sich von dem Chaos auf der Straße ab und sprach ganz leise in ihr Telefon. „Wer auch immer das hier getan hat, wollte unsere Aufmerksamkeit – und die hat er jetzt. Wir haben bereits einen Teil der Estes Road abgeriegelt. Ich werde die Absperrung zur Hobbs Road und zum Woodmont Boulevard vorverlegen lassen, den Radius vergrößern, sodass er alle Häuser einschließt, und anfangen, dem hier auf den Grund zu gehen. Sie müssen der Presse zuvorkommen. Für die ist das sonst ein gefundenes Fressen.“

Taylor hörte ein Fingerschnippen im Hintergrund. Huston versuchte, irgendjemandes Aufmerksamkeit zu wecken. „Danke, Lieutenant. Machen Sie weiter.“

Baldwin legte ihr eine Hand auf die Schulter, als Taylor das Telefon wegsteckte. Ihr Team reagierte bereits, führte die Menschen in kleinere Gruppen zusammen, die besser kontrolliert werden konnten. An den Ecken der Estes und des Woodmont Boulevards blockierten Streifenwagen den Zugang zum Viertel. Sie hörte weitere Sirenen näherkommen und schaute Baldwin an. Seine Augen wirkten im Zwielicht der anbrechenden Nacht tiefschwarz.

„Satanisten, die Menschen umbringen, das ist etwas für Großstadtsagen, nicht für Nashville“, sagte sie.

„Stimmt. Es ist schwer zu glauben, aber andererseits ist heute Halloween.“

„Soll heißen?“

„Gibt es einen besseren Zeitpunkt, um die Leute mit okkulten Bildern zu schockieren?“

Taylor schüttelte den Kopf. „Jemand wollte eine Nachricht hinterlassen. Das hier war eine koordinierte Aktion. Es gehört schon ein gewisses Level an Erfahrung dazu, mehrmals so kurz hintereinander zu morden. Schauen wir mal, was wir herausfinden können.“