Quantico
1. November
8:50 Uhr
„Also geben Sie zu, eine Affäre mit Dr. Douglas gehabt zu haben?“
Tucker schaute ihn lüstern an, und Baldwin fragte sich, was ihm wohl gerade durch den Kopf ging. War Tucker auch einer der Männer gewesen, die Charlottes Zuwendungen genossen hatten? Er schaute ihn sich genauer an – die Halbglatze, den Bauchansatz, die graue Haut. Schon möglich. Charlotte hatte sich nie für die Verpackung interessiert, sondern nur dafür, was sich in der Geschenkbox befand. Sie hatte den Hang, das, was sie da vorfand, so lange hin und her zu schieben, bis all ihre Bedürfnisse befriedigt waren. Er musste ab jetzt noch umsichtiger vorgehen.
„Das habe ich nie bestritten. Wir waren Kollegen, die sich in einer höchst angespannten Situation befanden. Wir haben gemeinsam an einem grauenhaften Fall gearbeitet. Sie wissen, wie so etwas läuft, Sir. Wir waren nicht die ersten Teamkollegen, die sich einander zugewandt haben, um Trost und Zuspruch zu finden.“ Baldwin weigerte sich, den Blick zu senken, sondern schaute Tucker gerade in die Augen. Komm schon, Wichser. Du hast deine Assistentin jahrelang gevögelt und alle haben es gewusst. Worauf bist du wirklich aus?
Tucker besaß den Anstand, leicht zu erröten. „Ich denke, wir können die schmutzigen Einzelheiten überspringen, Dr. Baldwin. Fangen wir noch einmal mit Susan Travers an. Sie war das vierte vermutliche Opfer von Harold Arlen, richtig?“
„Nein, sie war das fünfte Opfer.“
Northern
Virginia
15. Juni 2004
Baldwin
Bei dem Geruch wurde ihm übel. Egal, wie vielen Autopsien er auch beiwohnte – zum Glück waren es nur einige, immer mal wieder –, sie schlugen ihm immer wieder wortwörtlich auf den Magen. Die Fahrt von Quantico hierher, gepaart mit dem Kater der letzten Nacht und einem leicht unangenehmen Gefühl, weil er mit Charlotte herumgemacht hatte, machte es nicht besser.
Er ließ seine Gedanken abschweifen von dem kleinen Körper, der auf dem Autopsietisch lag. Susan Travers war das fünfte Opfer in genauso vielen Wochen: Baldwin war nach dem dritten Opfer dazugerufen worden. Die achtjährige Ellen Hughes war auf dem Weg von der Schule verschwunden. Man hatte sie drei Tage später an einen Baum im Great Falls Park gebunden gefunden – die Beine gebrochen, ein Stich in die Brust.
Sein Team war damals noch relativ neu. Vor zwei Monaten waren sie alle noch jugendlich-frische Agents, die gerade erst von der Abteilung für Verhaltensforschung akquiriert worden waren. Sie fanden es immer noch cool, dort zu arbeiten, hatten noch nicht genug von dem Grauen gesehen, das diese Arbeit für sie bereithielt. Normalerweise wurden sie nur bei Verbrechen gegen Erwachsene eingesetzt, aber als der leitende Profiler der BAU One einen Herzanfall erlitt, hatten sie in diesem Fall aushelfen müssen.
Der Great-Falls-Fall hatte ihrem Enthusiasmus relativ schnell einen Dämpfer verpasst.
Baldwin hatte das Team persönlich zusammengestellt: Caleb Geroux war aus New Orleans, ein Detective der Mordkommission mit einem ungeschlagenen Talent, Verdächtigen ein Geständnis zu entlocken; Jessamine Sparrow, so zierlich, wie ihr Name besagte, eine ehemalige Hackerin und nun sein Computergenie; und Olen Butler, sein forensischer Experte.
Butler war ein ganz besonderer Fund. In den Monaten, bevor Baldwin ihn ins Team holte, hatte er ein brandneues DNA-Programm für ihr CODIS-System entwickelt. Das kombinierte DNA-Index-System arbeitete schwer daran, DNA-Proben aus dem ganzen Land zu vergleichen, und Butlers intuitives Programm nutzte einen Teil von ViCAP, dem Violent Criminal Apprehension Program, wie die landesweite Datenbank zur Verbrechensbekämpfung genannt wurde, um schnellere und bessere Treffer in CODIS zu erzielen als jemals zuvor.
Diese Ansammlung ungewöhnlicher Talente bildete die Behavioral Analysis Unit Two, Baldwins Einheit.
Charlotte Douglas war die erfahrenste Profilerin in diesem Team. Sie hatte einen Doktor in Kriminalpsychologie von der Universität in Georgetown und einen unschlagbaren Selbsterhaltungstrieb. Anders als die anderen war sie dem Team schon vor zwei Monaten zugeteilt worden. Baldwins Boss Garrett Woods hatte einem anderen Bureau-Chief „einen Gefallen getan“ und sie an Bord geholt.
Baldwin kannte nur die grundlegenden Fakten über Charlotte. Die Teile ihrer Personalakte, die er hatte einsehen dürfen, waren stringent und in sich stimmig: Ausbildung, Empfehlungen, Erfahrungen. Sie war niemand, der viel über seine Vergangenheit sprach, und er fragte sich kurz, wieso. Einmal hatte sie etwas von einem Internat erwähnt, und dass sie nicht bei ihrer Familie aufgewachsen war, aber mehr wusste er auch nicht.
Wollte er mehr wissen?
Du weißt heute eine ganze Menge mehr über sie, als du gestern gewusst hast. Zum Beispiel, dass ihre roten Haare echt waren. Dass sie im Bett keine Angst hatte. Dass sie im Schlaf schrie wie ein Kätzchen, das einen Albtraum hatte.
Siehst du, Trottel? Das passiert, wenn du eine Kollegin vögelst. Super gemacht.
Er schalt sich innerlich ein paar Minuten lang, dann zwang er sich, seine Aufmerksamkeit wieder auf die Autopsie zu richten. Sie kamen gerade zu einem Ende, erste Schlussfolgerungen wurden gezogen. Die Wundspuren waren identisch, die Signatur zu spezifisch. Susan Travers war von dem gleichen Mann getötet worden, der schon vier andere kleine Mädchen ermordet hatte. Die Presse nannte ihn den Uhrwerk-Mörder. Für Baldwin war er einfach ein Täter.
Der Rechtsmediziner war sich ziemlich sicher, dass Travers seit vier Tagen tot war, was bedeutete, ihnen lief die Zeit davon. Ihr Täter hielt sich an einen wöchentlichen Plan; es war möglich, dass heute ein weiteres Mädchen verschwinden und heute Nacht getötet würde, um in drei Tagen irgendwo aufzutauchen. Außer, Baldwin schaffte es, ihm zuvorzukommen und ihn aufzuhalten.