Nashville
17:00 Uhr
McKenzie beugte sich über den Tisch. „Wer ist er, Fane?“
Das Mädchen schüttelte nur den Kopf. Ihr Blick huschte zur Tür. „Sprich mit mir, Fane. Wer wird alle umbringen?“
Sie funkelte ihn an, die Lippen fest aufeinander gepresst. McKenzie versuchte es noch ein paar Mal, dann schüttelte er den Kopf in Richtung Kamera. Er stand auf und verließ den Raum. Taylor fing ihn im Flur ab.
„Wenigstens hat sie nicht gleich nach einem Anwalt verlangt wie Susan Norwood.“
„Ja, das ist ein Vorteil. Allerdings können wir ihre Eltern nirgendwo auftreiben.“
„Hat die Spurensicherung im Haus irgendetwas gefunden?“
„Ich habe noch nichts gehört. Aber ich werde gleich mal Tim anrufen und fragen, wie es aussieht. Susan Norwoods Eltern sind inzwischen hier, hast du Lust, mich bei der Unterhaltung mit ihnen zu unterstützen?“
„Klar. Wann fährst du zur Rechtsmedizin rüber?“
„Oh verdammt, ich habe ganz vergessen, dass Sam mit mir sprechen wollte. Ich ruf sie besser mal an.“ Sie klappte ihr Handy auf und wählte Sams Kurzwahl. Sam meldete sich mürrisch und ungeduldig.
„Wird auch verdammt noch mal Zeit, dass du mich zurückrufst. Ich habe was für dich.“
„Tut mir leid, ist ein verrückter Morgen gewesen. Kannst du es mir am Telefon sagen oder muss ich vorbeikommen?“
„Ich erzähl’s dir einfach. Brandon Scott hat anale Verletzungen, alles weist auf schweren sexuellen Missbrauch hin. Es handelt sich sowohl um frische als auch schon ältere Traumata.“
Taylors Herz schlug langsamer. „Du machst Witze.“
„Ich wünschte, es wäre so. Entweder ist er ein aktiver Homosexueller oder er ist wiederholt vergewaltigt worden.“
„Wie frisch sind die Verletzungen? Ist er auf irgendwelche Spuren untersucht worden?“
„Ja, und diese Suche hat genau gar nichts ergeben. Ich habe eine Blutkultur angelegt, aber es stellte sich als seines heraus. Andere Körperflüssigkeiten gab es nicht. Nur Hinweise auf ein Gleitmittel, vermutlich von einem Kondom. Ich kann dir nicht genau sagen, wann es das letzte Mal passiert ist, aber es ist nicht allzu lange her. Und noch etwas – sein Drogentest hat nichts ergeben, genau wie wir vermutet haben. Er ist einfach überwältigt und zu Tode geprügelt worden. Todesursachen sind stumpfe Gewalteinwirkung und begleitendes Verbluten. Die anderen sind alle an einer Überdosis gestorben.
Er ist auch vor den anderen gestorben. Die Lebertemperatur und die Glaskörperflüssigkeitsmessung bestätigen das. Er starb zwischen 12.30 Uhr und 14:00 Uhr am einunddreißigsten Oktober. Die anderen sind alle zwischen zwei und drei Uhr am Nachmittag gestorben.“
Verdammt. Das war der Grund, warum sie gerne persönlich bei den Autopsien anwesend war. Sie hätte diese Informationen in ihren Verhören nutzen können. Egal, jetzt hatte sie sie ja.
„War das gepanschte Ecstasy der Grund?“
„Höchstwahrscheinlich.“
„Okay, Sam. Vielen Dank. Ich packe das zu unseren Informationen. Brauchst du sonst noch was von mir?“
„Hör einfach auf, meinem Mann Arbeit zu schicken. Ich habe ihn seit zwei Tagen nicht gesehen.“ Doch in ihrer Stimme klang ein Lächeln mit.
„Ich bin euch beiden ein nettes Abendessen schuldig. Wir sind kurz vor dem Durchbruch, also werden wir Simon hoffentlich nicht sehr viel länger in Beschlag nehmen. Mach dir einen schönen Nachmittag, ja?“
„Du dir auch. Arbeite nicht zu hart.“ Sie legte auf und Taylor erzählte McKenzie, was sie soeben über Brandon Scott erfahren hatte.
Er schaute gequält drein. „Wirklich? Ich frage mich …“ Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Seine Augen nahmen einen abwesenden Ausdruck an, den Taylor inzwischen kannte. Er würde eine Vermutung wagen.
„Was fragst du dich?“
„Erinnerst du dich, dass Ms Woodall in Hillsboro gesagt hat, Jerrold King und Brandon Scott hätten sich letzte Woche gestritten? Es seien sogar Drohungen ausgestoßen worden?“
„Ja, ich erinnere mich. Letha King meinte, es wäre um sie gegangen – sie und Brandon waren ein Paar und Jerrold war verärgert, dass Brandon sie hat fallen lassen. Meinst du, da steckte etwas anderes dahinter?“ „Vielleicht waren Jerrold und Brandon ein Paar.“
„Hätte Sam dann nicht auch an Jerrold Kings Leiche irgendwelche Hinweise darauf gefunden?“
„Das kommt darauf an, wer Fänger und wer Werfer war, wenn du verstehst, was ich meine.“
Taylor dachte eine Minute darüber nach. „Also hat Jerrold King in einem Anfall von Wut Brandon Scott getötet, ist dann nach Hause gefahren und hat sich mit einer Überdosis Ecstasy umgebracht? Das wäre eine logische Erklärung, wenn es nicht noch sechs weitere tote Jugendliche gäbe.“
„Guter Punkt. Trotzdem sollten wir dem noch mal nachgehen.“
„Einverstanden. Ich frage mich, ob Theo Howell etwas darüber weiß? Er scheint in dieser Gruppe ziemlich gut vernetzt zu sein.“ „Nun, warum fragen wir ihn nicht einfach?“
Das Büro der Mordkommission war gepackt voll mit Leuten. Alle Befragungsräume waren besetzt – die Norwoods mit Tochter und Anwalt in Raum eins, Fane Atilio in Raum zwei, Theo Howell und seine Eltern in der drei. Lincoln, Marcus und Renn waren alle im Büro und in eine ernste Unterhaltung vertieft. Taylor räusperte sich, und alle zuckten zusammen.
„Was ist los?“, wollte sie wissen.
Lincoln zupfte an seinen Dreadlocks. „Noch nichts Gutes, LT. Das Video ist definitiv von Fane Atilios Laptop hochgeladen worden. Aber darauf sind Unmengen an Korrespondenz. Wir brauchen eine Ewigkeit, die zu sichten. Eine Adresse taucht am häufigsten auf und der Schriftwechsel hat ziemlich eindeutige Inhalte. Alles nicht jugendfrei.“
„Hoffentlich keine Kinderpornografie.“
Marcus errötete. „Nah dran. Sextalk zwischen Fane und einem Jungen. Sie nennt nie seinen Namen, aber ansonsten spart sie nicht mit Worten. Ich hatte das Gefühl, einen Erotikroman zu lesen.“
„Kannst du die E-Mail-Adresse nachverfolgen?“
„Ich bin dran“, sagte Lincoln. „Aber irgendetwas ist damit komisch. Sie ist Teil eines Single-Accounts.“
„Was heißt das?“
„Wenn man ein E-Mail-Konto eröffnet, kann man ja mehrere Adressen einrichten – die nennt man Alias. Angenommen, du und Baldwin habt eine DSL-Verbindung über Bell-South und ihr wollt beide eine eigene E-Mail-Adresse, aber nicht für verschiedene Accounts zahlen. Ihr könntet bis zu fünfzig Alias auf diesem einen Account einrichten, ohne dass es euch einen Cent extra kostet.“
„Und wem gehört der Account?“ „Jacqueline Atilio.“
„Ist das Fanes echter Name? Jacqueline?“
„Nein, ihr Name ist Fane Rebecca Atilio.“
„Also ist Jacqueline womöglich die Mutter, die wir nicht auftreiben können?“
„Das habe ich auch gedacht. Ich habe mir ihre Kontoauszüge angesehen und außer einigen Abhebungen an Geldautomaten in den letzten drei Wochen keinerlei Aktivitäten feststellen können. Alle Abhebungen sind an der gleichen Filiale der U. S. Bank in Green Hills getätigt worden. In der letzten Woche wurde jeden Tag das Tageslimit von dreihundert Dollar abgehoben.“
„Das ist seltsam. Besorgen wir die Kameraaufnahmen von dem Automaten.“
„Schon angefordert.“
„Was haben wir noch, Lincoln?“
„Ich stecke bis über beide Ohren in SMS und IMs, die ich entschlüsseln muss. Ich bin alle Laptops und Handys durchgegangen und habe nach etwas gesucht, das aus dem Rahmen fällt. Diese Kids verbringen verdammt viel Zeit online, so viel ist mal sicher.“
„Was ist mit Facebook, MySpace, Twitter? Wird irgendwo darüber gesprochen?“
„Wir haben die Profile von allen ungefähr zur Hälfte durch. Bis jetzt ist noch nichts Auffälliges dabei gewesen.“
„Überprüf auf jeden Fall Fane Atilio. Überprüf, ob sie da irgendwelche Verbindungen hat. Und lass mich so schnell wie möglich wissen, was es mit den Geldabhebungen auf sich hat.“
„Mach ich.“
McKenzie fing ihren Blick auf. „Du hast mitbekommen, dass die Howells hier sind, oder?“
„Ja. Ich bin quasi auf dem Weg zu ihnen. Und zu den Norwoods.“
„Gut. Äh, wegen der Autopsie des Scott-Jungen. Ich würde gerne seine Akte nach Hinweisen durchgehen, die uns eine Antwort auf die Frage nach seinem … Zustand bringen könnten.“ McKenzie sprach das Wort so vorsichtig aus, dass Taylor wusste, wie schwer es ihm fiel.
Sie schaute ihm tief in die Augen. „Gut. Ich zähle darauf, dass du etwas findest. Ich glaube, es ist wichtig. Ich denke immer noch, dass Brandon das eigentliche Opfer dieses Angriffs war. Finde für mich heraus, warum, okay?“
„Ja, LT. Ich mach mich gleich dran.“
„Marcus, wo stehen wir mit den Tatorten? Irgendwelche Verbindungen?“
„Wir haben Massen an Fasern und Flüssigkeiten und Fingerabdrücken. Es wird noch eine Zeit dauern, die alle zu isolieren.“
„Irgendetwas, das auf unsere Verdächtigen hindeutet?“
„Noch nicht. Ich rufe gleich Simon Loughley bei Private Match an. Er sagt, er würde die DNA von den Wunden besonders schnell erledigen. Vielleicht hat er schon was gefunden. Es gibt allerdings keine weiteren Treffer zu den schwarzen Haaren, die am Tatort der Vanderwoods gefunden wurden.“
„Okay. Ich muss los. Ich denke, ich werde zuerst mit den Howells sprechen.“
Keiner rührte sich. „Taylor“, setzte Marcus an und brach dann ab.
„Was?“
„Ariadne hat gesagt, Fitz sei etwas zugestoßen. Weißt du irgendetwas darüber?“
Taylor erstarrte. Wie konnte sie es wagen? Wie konnte sie es wagen, ohne Taylors Erlaubnis mit ihren Mitarbeitern zu reden? Was hatte die Frau für ein Problem? Das ging sie alles nichts an und sie wusste sowieso nichts.
„Was hat sie gesagt?“, fragte sie mit hohler Stimme.
Marcus sah mit einem Mal sehr jung aus. „Dass er verletzt worden ist und du dir fürchterliche Sorgen um ihn machst.“
Taylor löste mit einer beinahe brutalen Geste ihren Pferdeschwanz, sodass die blonden Haare ihr über die Schulter fielen. Sie wollte diese Unterhaltung jetzt nicht führen; sie brauchte ein Team, das sich voll konzentrierte. Sie musste sich voll konzentrieren.
„Ariadne weiß überhaupt nichts über Fitz’ Fall. Baldwin hat mich heute Morgen angerufen. Das State Bureau of Investigation glaubt, dass sie seine Spur aufgenommen haben. Die gute Nachricht ist, die Polizei von North Carolina verstärkt ihre Suchanstrengungen. Wir haben unbestätigte Meldungen bezüglich einer Verletzung seines … Auges vorliegen, aber mehr wissen wir nicht. Ich werde euch informieren, sobald ich weitere Informationen habe. Versprochen.“
Es war keine direkte Lüge. Sie hasste es, sie alle im Unklaren zu lassen, aber sie durfte nicht zulassen, dass ihre Gedanken sich mit irgendetwas anderem als dem aktuellen Fall beschäftigten. Nicht, wo sie so kurz vor dem Durchbruch standen.
„Das sind doch gute Neuigkeiten, oder?“, fragte Marcus.
„Ich hoffe es, Kleiner, ich hoffe es. Okay, an die Arbeit. Wer hat ein Auge auf die Gute Hexe Glinda? Oder ist sie schon wieder auf ihrem Besenstiel nach Hause geflogen?“
„Ich bin hier, Lieutenant.“ Taylor wirbelte herum – sie hatte die Frau nicht hereinkommen hören. Ariadne trug ihr übliches sanftmütiges Lächeln und schien sich an Taylors verbaler Spitze nicht zu stören. Taylor war nicht sicher, ob sie die Wirkung dieser Frau auf sich mochte. Ihr war in ihrer Nähe sehr unbehaglich.
„Wir fliegen nicht wirklich auf Besen, wissen Sie“, sagte sie.
„Sie war in deinem Büro, LT.“ Lincoln besaß so viel Anstand, verlegen zu wirken. „Abgesehen vom Konferenzraum war das der einzige Raum, in dem wir sie unterbringen konnten.“
„Und im Konferenzraum mit all den gesammelten Informationen wollten Sie mich bestimmt nicht haben. Man kann ja nie wissen, was alles so verloren geht.“ Ariadne lächelte Taylor süßlich an.
Mit zusammengekniffenen Augen sagte Taylor: „In mein Büro. Sofort.“ Sie wandte sich an ihr Team. „Und ihr macht euch an die Arbeit.“
Auf dem Weg zu ihrem Büro spürte sie Ariadne hinter sich. Sie trat ein, ging zu ihrem Schreibtisch und bedeutete Ariadne, die Tür zu schließen und sich auf den Besucherstuhl gegenüber zu setzen. Nachdem sie beide saßen, verschwand Ariadnes Lächeln.
„Lieutenant, ich spüre große Turbulenzen …“
Taylor unterbrach sie. „Hören Sie mal gut zu. Sie haben uns einen großen Gefallen getan, indem Sie uns anscheinend den richtigen Hinweis zu diesen Morden gegeben haben. Aber ich werde Sie jetzt nach Hause bringen lassen. Ab hier können wir übernehmen.“
„Nein, das können sie nicht“, sagte sie schlicht.
„Oh doch, das können wir. Wir haben alle Komponenten beisammen, es müssen nur noch die Beweise aufgedeckt werden. Wir sind beinahe am Ziel.“
Ariadne schüttelte den Kopf. „Sie verstehen es einfach nicht, Lieutenant. Es ist noch nicht vorbei. Sie haben immer noch nicht den Hexenmeister, der hinter all dem steckt.“
„Wissen Sie, wo er ist?“
Sie schüttelte den Kopf. „Aber …“
„Dann müssen Sie nach Hause gehen und uns unsere Arbeit machen lassen. Wir sind ziemlich gut darin, Leute aufzuspüren, müssen Sie wissen.“
„Nicht wenn Unsichtbarkeitszauber am Werk sind. Sie werden ihn nicht sehen, bevor er es nicht will, Lieutenant. Und dann wird es bereits zu spät sein.“
„Unsichtbarkeitszauber? Ich bitte Sie. Langsam fangen Sie an, einfach nur verrückt zu klingen. Es ist an der Zeit zu gehen.“ Taylor stand auf. Mit maskenhafter Miene blieb Ariadne steif auf ihrem Stuhl sitzen.
„Wissen Sie, wie viele es da draußen von uns gibt? Sowohl die, die sich bekennen, als auch die, die sich noch nicht geoutet haben?“ „Geoutet?“
„Einige Covenmitglieder verheimlichen ihre Gesinnung. Sie möchten nicht, dass alle Welt erfährt, dass sie praktizierende Hexen sind. Samhain, Halloween, ist die einzige Nacht des Jahres, wenn sie sich öffentlich zeigen können. Christen, Juden, Wicca, Goths, Heiden – alle alternativen und die meisten etablierten Religionen wissen um die Bedeutung dieser Nacht. Harmlose Aktivitäten haben die heidnischen Rituale ersetzt – sich verkleiden, von Tür zu Tür ziehen, Kürbislaternen aufstellen. Indem wir diese Symbole Jahr für Jahr anerkennen, werden Assoziationen geknüpft. Sie haben diesem Datum Bedeutung zugestanden, und daher stammt seine Macht. Es ist der einzige Feiertag, den wir alle gemeinsam haben – die Religiösen und die Weltlichen auf der ganzen Welt –, und das macht ihn doppelt mächtig. Wenn jemand uns an Samhain erkennt, werden unsere Seelen wiedergeboren, weil wir glauben, dass wir noch lange nach unserem Tod weiterleben werden. An Samhain haben wir sehr große Macht. Diese Kinder wissen das. Sie haben die Symbolik für ihre Zwecke missbraucht. Sie haben unsere Sitten pervertiert, und dafür möchte ich sie bestraft sehen.“
„Das müssen die Gerichte entscheiden, Ariadne.“
„Das stimmt nicht ganz, Lieutenant. Wir sind für die Taten dieser Kinder genauso verantwortlich, wie sie es sind.“
„Ariadne, wirklich. Ich weiß Ihre Hilfe zu schätzen, aber ich muss jetzt in die reale Welt zurückkehren. Ich rufe einen Streifenwagen, der Sie sicher nach Hause bringt.“
Die Endgültigkeit in ihrer Stimme reichte schließlich, dass Ariadne den Kopf neigte, sich erhob und sagte: „Wie Sie wünschen.“