50. KAPITEL

Quantico
2. November

Baldwin wog sorgfältig ab, wie er diesen Teil der Geschichte erzählen wollte. Er begab sich auf höchst gefährliches Terrain. Er war weit entfernt davon, unschuldig zu sein. Aber ein Fehltritt hier würde ihn seine Karriere kosten. Mit einem Mal war er sich sicher, dass er beim FBI bleiben wollte. Er wollte weiter mit der BAU zusammenarbeiten, wollte Garrett helfen. Seine ganzen früheren Zweifel hatten sich in Luft aufgelöst. Ihm blieb nur, die Wahrheit zu sagen und auf das Beste zu hoffen.

„Dr. Baldwin? Wir warten.“

Reever schaute ihn besorgt an. „Alles okay, Kumpel? Brauchst du eine kurze Pause?“

Baldwin schüttelte den Kopf. „Nein. Nein, mir geht es gut.“ Er atmete tief ein und erzählte die Geschichte zu Ende.

Quantico
19. Juni 2004
Baldwin

Die Dämmerung brach früh herein. Baldwin hatte es geschafft, ein paar Stunden zu schlafen. Charlotte war in der Küche – er hörte sie hantieren und roch frischen Kaffee. Er stieg aus dem Bett, duschte schnell und zog sich an.

Als er in die Küche kam, saß Charlotte am Küchentisch, die Füße untergezogen, die Arme um die Knie geschlungen. „Ich weiß, was wir tun müssen“, sagte sie. „Und zwar?“

„Wir wissen, dass er es ist, stimmt’s? Wir wissen, Arlen ist unser Mann. Das geht nicht nur mir so.“

„Stimmt. Ich habe auch nicht den geringsten Zweifel.“

„Dann ist es an uns, ihn aufzuhalten.“

„Natürlich ist es das. Wir tun bereits unser Bestes. Die Mordkommission aus Fairfax arbeitet ausgezeichnet. Sie werden schon noch etwas finden.“

„Ja, das werden sie. Ich habe trotzdem eine Idee. Ich glaube, es ist an der Zeit, Fairfax außen vor zu lassen und die Sache selber in die Hand zu nehmen.“

„Charlotte, das können wir nicht machen. Es ist ihr Fall. Wir sind nur auf ihren Wunsch hin als Berater tätig. Wenn wir zu viel Druck machen, lässt Goldman uns in Nullkommanichts von dem Fall abziehen. Glaub nicht, dass er das nicht fertigbringt. Er ist ziemlich frustriert.“

„Ja, ja, ich weiß. Aber das meine ich auch gar nicht.“ „Tut mir leid, ich kann dir nicht folgen.“

Sie seufzte ungeduldig. „Denk doch mal nach, Baldwin. Wir haben Zugriff auf die Blutproben.“

Die Richtung, die das Gespräch nahm, gefiel ihm gar nicht. Alle Alarmglocken fingen an zu läuten.

„Ja, und?“

„Wir brauchen nur ein paar Tropfen. Ein paar Spritzer auf einem Taschentuch. Wir ordnen eine erneute Durchsuchung seines Hauses an und voilà, da ist der Beweis, den wir benötigen, um den Bastard für immer hinter Schloss und Riegel zu bringen.“

Baldwin stockte der Atem. „Charlotte. Du sprichst davon …“

Sie wirbelte mit verzerrtem Gesicht zu ihm herum. Er hatte sie noch nie wütend gesehen, und der Anblick verstörte ihn. „Ich weiß. Ich weiß! Aber was haben wir sonst für Möglichkeiten? Wir müssen die Sache in die eigenen Hände nehmen. Niemand wird je davon erfahren. Denk doch einmal an all die Leben, die wir retten würden, den Trost, den die Familien fänden. Es dient einem höheren Ziel.“

Sie stand nur wenige Zentimeter vor ihm, die Hitze strahlte in Wellen von ihrem Körper aus. Rechtschaffene Entrüstung stand ihr nicht gut. Jeder Muskel in seinem Körper spannte sich an. Er erkannte, dass er sie schlagen wollte. Er hatte noch nie eine so reine, pure Wut durch seine Adern fließen gespürt.

Sie packte seine Hand, und er zog sie zurück, als hätte er sich verbrannt. Sie ignorierte das, griff noch einmal nach ihm. Er erstarrte, als ihre Arme sich um seinen Körper schlangen. Sie fing mit ihrem dämonischen Tanz an, dessen Bewegungen darauf ausgerichtet waren, sein Blut in Wallung zu bringen. Doch er spürte nichts. Mit einem einzigen laut ausgesprochenen Gedanken hatte sie jegliche Gefühle, die er für sie gehabt haben mochte, getötet.

Das war nicht, was er wollte. Das hier war falsch, und zwar alles daran. Er hatte es immer gewusst, aber dieser offene Verführungsversuch, nachdem sie eben versucht hatte, ihn dazu zu bringen, gegen seinen Ehrenkodex zu verstoßen, machte ihn krank. Er trat zurück und packte ihre Arme, hielt sie daran von seinem Körper weg. Er konnte nicht anders, er schüttelte sie leicht, versuchte, ihre volle Aufmerksamkeit zu erlangen. Er schaute ihr direkt in die Augen, um sicherzugehen, dass sie ihn klar und deutlich verstand.

„Hör mir genau zu. Ich werde vergessen, dass du das gesagt hast. Ich werde in die andere Richtung schauen, während du deine Sachen zusammensuchst und so schnell wie möglich aus meiner Wohnung verschwindest. Ich werde dich von diesem Fall abziehen. Es ist dir ab sofort untersagt, auch nur in die Nähe von Harold Arlen zu gehen. Hast du mich verstanden?“

Charlotte presste die Lippen aufeinander und riss sich von ihm los. „Fick dich, Baldwin. Du hast mir gar nichts zu sagen. Du willst mich genauso, wie ich dich will. Das kannst du nicht leugnen. Und tief in deinem Herzen weißt du, dass mein Vorschlag der einzig richtige ist.“

„Du könntest dich nicht mehr irren. Geh jetzt, Charlotte. Hau endlich ab.“

Er schrie und musste alle Kraft zusammennehmen, um seine Stimme wieder zu beruhigen.

Sie starrte ihn an, der Schmerz in ihren bernsteinfarbenen Augen war greifbar und tödlich.

„Wage es ja nicht, mich aus deinem Leben zu werfen, Baldwin. Sonst werde ich dafür sorgen, dass du es bereust.“

„Oh, eine Drohung, Charlotte? Behältst du so die Leute in deinem Bett, in deinem Bann?“

„Ich liebe dich.“ Sie fing an zu weinen, die Tränen flossen über ihr Gesicht, tropften von ihrem Kinn. Sie versuchte nicht, sie zu verbergen, sondern stand stolz und mit geradem Rücken da und schaute ihm in die Augen.

„Ich sagte, ich liebe dich. Du kannst mir nicht erzählen, dass du nicht das Gleiche für mich empfindest.“

Baldwin schüttelte nur den Kopf. Er nahm ihre Drohung nicht ernst. Mal ehrlich, was konnte sie schon tun? Ja, er hatte eine nicht sonderlich glückliche Affäre gehabt, aber damit war er beim Bureau nicht der Erste und er würde auch nicht der Letzte sein. Er bekäme eine Verwarnung und das wäre es.

Er senkte die Arme und ging ein paar Schritte zur Seite. Charlotte weinte weiter, doch ihr Blick war jetzt wachsam. Er spürte, dass die Erkenntnis langsam einsickerte und die Wut sich in ihr breitmachte.

Er drehte sich um und sagte: „Ich liebe dich nicht.“

„Nun, dann haben wir ein kleines Problem. Denn ich bin schwanger.“

Er erstarrte und drehte sich ganz langsam zu ihr um. „Was hast du gesagt?“

Sie reckte das Kinn und schaute ihm direkt in die Augen. „Ich bin schwanger.“

Er konnte die Gefühle nicht benennen, die durch seinen Körper tobten. Das konnte nicht sein. Sie verarschte ihn. Doch irgendetwas in ihrer Miene verriet ihm, dass sie keine Witze machte.

„Ist es von mir?“, fragte er.

„Fick dich, Baldwin. Fick. Dich.“ Große, dicke Tränen rollten über ihr Gesicht. „Wie kannst du so etwas fragen?“

„Weil es noch zu früh ist. Wir sind erst seit wenigen Wochen zusammen.“

Sie drehte sich um und griff nach ihrer Handtasche. Sie wühlte eine Weile darin herum, dann holte sie etwas heraus und warf es ihm zu. Er fing es auf – ein Schwangerschaftstest mit zwei rosafarbenen Linien.

Was für ein Desaster.

Sie fand ihren Stolz wieder. Ihr Gesicht zeigte keine Regung.

„Da du es ja offensichtlich nicht willst, werde ich es abtreiben lassen.“ „Charlotte, ich …“

„Fahr zur Hölle, John Baldwin. Fahr einfach zur Hölle.“

In einem Wirbel aus Schmähungen und fliegenden roten Haaren stürmte Charlotte aus der Wohnung. Er lief ihr nicht nach. Es gab zu viel, das er erst verdauen musste. Er schloss die Tür hinter ihr und lehnte sich mit einem Seufzer dagegen. Gott, was hatte er getan? In was für einen Schlamassel hatte er sich da nur hineingeritten?

Schwanger.

Oh Gott. Er hatte sie geschwängert.

Und das war nur das halbe Problem. Um Himmels willen, sie hatte vorgeschlagen, Beweise unterzuschieben.

Er war vollkommen ratlos.

Er glitt an der Wohnungstür hinunter und schlug die Hände vors Gesicht. Was sollte er tun? Er atmete ein paar Mal tief durch. Das war schon besser.

Der erste Schritt wäre, zu Garrett Woods zu gehen und ihm zu erklären, dass er Charlotte nicht mehr in seinem Team haben konnte. Er würde vor Ort entscheiden, ob er ihm die ganze Geschichte erzählte oder nicht. Es war gut möglich, dass Garrett seinem Wort einfach vertraute und sie versetzen ließ. Wenn nicht, würde er die Strafe wie ein Mann ertragen. Es war immerhin seine Schuld. Er hatte zu sehr mit seinem Schwanz gedacht.

Sollte er sie heiraten? Sie davon abhalten, das Kind abzutreiben, sie heiraten und das Kind mit ihr gemeinsam aufziehen? Er hatte sich nie in der Rolle des Vaters gesehen. Natürlich war bisher auch noch keine der Frauen, mit denen er zusammen gewesen war, schwanger geworden.

Sein Handy klingelte, doch er ging nicht ran. Er kämpfte sich auf die Füße, biss die Zähne zusammen. Eine ungekannte Schwere umhüllte ihn. Der Druck des Falles, das Chaos, das Charlotte mit ihrem Schwachsinn angerichtet hatte, der Geist eines ungeplanten Kindes …

Das war alles zu viel. Er ging in die Küche, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, ging dann ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Eine Eilmeldung flackerte rot über den Bildschirm. Sein Herz wurde schwer. Die Nachrichtensprecherin hatte Tränen in den Augen, als sie die Nachricht verlas.

„Der Uhrwerk-Mörder hat erneut zugeschlagen.“

„Du Scheißkerl!“ Baldwin warf die Fernbedienung quer durch das Zimmer. Sie knallte gegen die Wand und fiel in mehreren Stücken zu Boden. Das perfekte Sinnbild seines Lebens. Zerbrochene Teile. Kleine Mädchen, wie Maiskörner im Wald verstreut. Ein Verdächtiger ohne Beweise, die ihn mit den Verbrechen in Verbindung brachten. Eine irre Profilerin, die sich auf Teufel komm raus selber zerstören wollte. Sein Leben war auf den Kopf gestellt. Wie viele weitere Katastrophen konnte dieser Tag noch bringen?

Charlotte

Charlotte saß zitternd in ihrem Auto. Sie konnte nicht fassen, dass Baldwin sie infrage gestellt hatte. Ist es von mir? Der Scheißkerl. Wie konnte er etwas anderes denken? Seit über zwei Wochen fickte er sie bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. Wie konnte er es wagen, so dreist zu sein? Nach allem, was sie ihm gegeben hatte? Nach allem, was sie gesagt hatte?

Sie liebte ihn wirklich, ob er das nun glaubte oder nicht. Ihre Liebe zeigte sich vielleicht nicht auf eine Art, die andere Menschen einfach entziffern konnten, aber trotzdem war es Liebe. Sie hatte sich noch nie zuvor einem Mann so hingegeben. Und wohin hatte es sie gebracht? Sie saß allein und schwanger in ihrem Auto und weinte.

Wütend wischte sie die Tränen weg. Heulen war keine Lösung.

Er hatte nur Angst. Das war alles. Sie hätte ihm nicht vorab von ihrem Plan erzählen sollen. Sie hätte ihn langsam heranführen müssen, ihm von dem Baby erzählen, ihn erst einmal glücklich sein lassen. Dann hätte er verstanden, dass ihr Plan fehlerlos und außerdem das Richtige war.

Sie legte einen Gang ein. Sie musste heute noch so viel tun. Sie würde sich ihm beweisen, und er würde zu ihr zurückkommen. Dafür würde sie sorgen.