15. KAPITEL

Den Rest des Films schauten sie sich schweigend vor Entsetzen an. Die Szene wiederholte sich noch drei Mal – die Vampire, die am Tatort eintrafen, mit dem Messer die Leichen schändeten. Die tanzende Gestalt in Schwarz, deren Reißzähne und Lippen sich wieder und wieder rot färbten. Taylor erkannte die Leichen nur, weil sie an allen Tatorten gewesen war. Der Mörder hatte sehr darauf geachtet, die Gesichter der Opfer nicht zu zeigen.

Sie schauten sich das Video noch einmal an, hielten nach allem Ausschau, was ihnen einen Hinweis auf die Identität des Mörders geben könnte. Der Schnitt war perfekt, an den richtigen Stellen waren tiefschwarze Bilder eingesetzt worden, um die Identität des Hauptdarstellers des Films zu verschleiern. Vom Mörder wurde nie mehr gezeigt als sein Mund und die in schwarz gehüllte Hand mit dem Messer.

Taylor ließ Daphne den Film mehrmals vor- und zurückspulen – es wirkte, als wäre der Akt des Leckens an der Wunde immer der gleiche. Sie wusste nicht, was das bedeuten sollte. Hatte der Mörder nur an Jerrold Kings Wunde geleckt oder an allen? Sie schob den Gedanken für eine spätere Analyse beiseite.

Erst als sie zu Brandon Scott kamen, änderte sich alles. Brandon wurde dabei überrascht, wie er sich umzog, offensichtlich, um eine Runde laufen zu gehen. Er drehte sich zur Kamera um, rief mehrere Male „Nein!“ und wurde dann wütend angegriffen. Die Neunschwänzige Katze grub sich wieder und wieder in seine Haut, seine rauen Schreie wurden zu bettelndem Weinen.

Ein Schleier zog sich vor die Linse und dann war es vorbei. Brandon Scotts Schmerzensschreie verebbten zu einem Schweigen, das laut durch den Konferenzraum hallte. Der Angriff auf Brittany Carson war nicht dokumentiert worden.

Einen Moment schwiegen alle, versuchten, das Gesehene zu verarbeiten. Taylor war die Erste, die sich wieder im Griff hatte. „Das war’s. Wir werden dieses Video sofort von der Seite nehmen lassen“, sagte sie. Lincoln würde sich darum kümmern. „Wie viele Leute haben das bisher gesehen?“

Daphne zeigte auf den Zähler am unteren Rand des Videos. „Es verbreitet sich schnell. Es ist erst gestern Nacht hochgeladen worden und hatte bereits fünfhunderttausend Klicks.“

McKenzie sah auf den Bildschirm. „Können Sie sagen, wer es gepostet hat?“

„Danach hatte ich gerade geschaut, bevor Sie kamen. Aber ich fürchte nicht – der Username besteht aus sinnlosen Buchstaben und Nummern, nichts Persönliches. Das ist das erste Video, das unter diesem Namen gepostet wurde. Es gibt keine Anhaltspunkte, die Rückschlüsse auf den User zulassen. Die Firma, die die Seite betreibt, könnte jedoch im Besitz weitergehender Informationen sein.“

„Lieutenant?“

Greenleaf saß immer noch auf seinem Stuhl; er war ganz grün um die Nase.

„Ja?“

„War das, ich meine, könnte das …?“, er atmete tief durch. „War das echt?“

Taylor war sich mit einem Mal sehr bewusst, wo sie sich befand. Sie saßen im Konferenzraum einer überregionalen Tageszeitung, die zu dem nationalen Medienkonzern Gannett gehörte, und das, was sie da gerade gesehen hatten, waren so dermaßen ungeheuerliche Neuigkeiten, dass sie für Tage die Schlagzeilen füllen würden. Von einer Story wie dieser konnte die Zeitung wochenlang zehren.

„Ich bin mir nicht sicher“, sagte sie deshalb vorsichtig. „Es scheint, dass dieses Video einige reale Elemente enthält. Aber David, bitte, bringen Sie es nicht. Bitte.“ The Tennessean hatte eine treue Online-Gemeinde, die sich aktuelle Nachrichten auf ihre Computer, Smartphones und Tablets schicken ließ. Würde die Zeitung das Video online stellen, würde es sich noch schneller und weiter verbreiten als bisher. Andererseits, vielleicht würde das den Server lahmlegen und ihnen die halbe Arbeit abnehmen.

Greenleaf schaute ihr nicht in die Augen, nickte aber. Sie hoffte, das bedeutete, er würde es erst einmal unter Verschluss halten, bis sie die Gelegenheit hatten, das Video von der Seite zu entfernen.

„Danke, Daphne. David.“ Taylor schüttelte Greenleaf die schwitzig feuchte Hand. Sie konnte es ihm nicht verdenken – dieser Film hätte jeden entsetzt. Ihr selber war auch etwas flau. Es gab keinen Zweifel – das Video war höchstwahrscheinlich echt.

Taylor und McKenzie nahmen die Filme aus den Überwachungskameras mit und kehrten ins CJC zurück. Tim Davis hatte den Brief als Beweis gesichert und würde ihnen zusammen mit seinen Ergebnissen eine Kopie vorbeibringen. Taylor hatte Lincoln angerufen und bezüglich des Videos auf der Website vorgewarnt. Er wollte sich gleich dransetzen.

Taylor war immer noch ein wenig zittrig. Sie glitt hinter das Lenkrad, drehte sich zu McKenzie um und schaute zu, wie er sich in aller Ruhe anschnallte.

„Ich kann das nicht glauben. Ich kann mich an keinen einzigen Mordfall erinnern, bei dem es ein Begleitvideo gegeben hat. Hast du so etwas schon mal gesehen?“, fragte sie.

Er nickte. „Unglücklicherweise ja. Einmal. Dieser Typ in Orlando hat in seinem Keller Filme gedreht. Er hat drei Mädchen getötet, bevor das Orange County Sheriff’s Office ihn geschnappt hat. Aber die Filme damals wurden auf dem Schwarzmarkt verkauft, über Fetischclubs und so, und nicht übers Internet jedem zugänglich gemacht, der sie sehen wollte. Und ich habe auch die Opfer nicht dort gesehen, wo er die Filme gemacht hat. Aber das Ganze ist kein Einzelfall – wir leben in unserer eigenen schönen, neuen Welt.“

McKenzie hatte sich die Symbole aus dem Brief abgeschrieben und betrachtete sie nun mit einer Intensität, dass Taylor dachte, er brenne ein Loch in sein Notizheft.

„Was meinst du, was sie bedeuten?“, fragte sie.

„Ich weiß es nicht. Ich glaube, sie sollen heidnisch sein oder zumindest irgendetwas Okkultes symbolisieren – mehr kann ich im Moment auch noch nicht sagen.“

„Wirklich? Du glaubst, sie passen zu den Pentakeln?“

„Ja, auf gewisse Weise schon. Die Ironie ist, das Pentakel ist ein Zeichen des Schutzes. Ein Symbol des unendlichen Lebens, des Kreislaufs des Jahres, der Vernetzung des Universums. Es steht nicht für das Böse, und es ist auch nicht dazu gedacht, Angst einzuflößen. Es ist ein sehr oft falsch interpretiertes Symbol.“

Taylor warf ihm einen Blick zu. „McKenzie, woher weißt du das alles?“

Er schwieg einen Moment und seufzte dann laut. „Okay, das klingt jetzt bestimmt lächerlich.“

„Gut.“

„In der Junior-Highschool hab ich mich ziemlich viel mit diesen Sachen beschäftigt. Das ging bis in die Highschool.“

„Du warst ein Goth?“

„Nein, na ja, so in der Art. Ich habe mich da hineingeflüchtet, um mich nicht mit meiner Sexualität auseinandersetzen zu müssen. Es war irgendwie sehr erleichternd, auf andere Kinder zu stoßen, die ebenfalls vom Leben verwirrt waren. Wir haben ein wenig herumexperimentiert und ich habe … ziemlich viel Wissen angehäuft.“

„Renn, du erstaunst mich immer wieder. Also kann ich dich als Experten für alles Okkulte betrachten?“

„Ich schätze schon. Aber das müssen wir ja nicht an die große Glocke hängen, oder? Ich komme mir deswegen irgendwie dumm vor.“ „Wir werden ja sehen, wie dumm du dich noch fühlst, wenn du erst einmal geholfen hast, sieben Morde auf einen Streich zu lösen. Du hast gesagt, das Pentakel steht für Schutz. Die Opfer sind definitiv nicht beschützt worden. Könnte es also als Schutz für den Mörder gedacht gewesen sein?“

„Ich glaube, dahinter steckt noch viel mehr. Die Reißzähne waren echt. Wer auch immer in dem Film mitgespielt hat, hat sie gefeilt und verlängern lassen, damit sie so aussehen. Es gibt Zahnärzte, die so etwas anbieten. Wir sollten uns mal vorsichtig unter den örtlichen Zahnärzten umhören, die kosmetische Korrekturen anbieten, und gucken, ob einer seine Arbeit wiedererkennt. Wir haben es hier mit jemandem zu tun, der glaubt, ein Vampir zu sein. Den meisten reicht es, diese Rolle nur zu spielen – es gibt sehr wenige tatsächlich sanguine Vampire da draußen. In Kombination mit den Symbolen würde ich sagen, hier probiert jemand verschiedene Religionen aus, um seinen Platz zu finden.“

„Sanguine Vampire?“

„Solche, die Blut trinken.“

„Ah. Also waren es religiös motivierte Morde, ausgeführt von einem blutsaugenden Vampir?“ Der Sarkasmus in ihrer Stimme war unüberhörbar. Mein Gott, sie glaubte nicht an Vampire. Oder an Hexen.

„Nein, es fühlt sich nicht so an, als hätten wir es mit einem wahren Gläubigen zu tun, mit jemandem, der gegen alles Heidnische ist und versucht, seinen Standpunkt klarzumachen. Für mich fühlt es sich eher suchend an. Jemand, der nach Antworten sucht, nach seinem Platz in der Welt. Die Symbole von dem Brief sind alte Zeichen. Einige von ihnen sind offensichtlich – das Pentagramm, der Mond und die Sonne, die die Zyklen der Erde repräsentieren, das Kreuz und der Blitz. Das umgedrehte Dreieck und das Phi-Zeichen könnten irgendetwas anderes bedeuten. Es könnte sich auch einfach nur um eine Reihe Zeichnungen handeln, die wie heidnische Symbole aussehen sollen. Vielleicht haben sie, abgesehen davon, dass sie interessant aussehen, überhaupt keine Bedeutung für unseren Mörder. Das kann man nie wissen.“

„Also wenn diese Symbole nicht für das Böse stehen, was zum Teufel bezweckt dieser selbst ernannte Vampir dann damit, sie unter einen Brief zu setzen? Und warum spricht er immer von ‚wir‘?“

„Vermutlich, weil es sich um mehr als einen handelt. Vielleicht um einen Zirkel. Wenn du mich an der Bücherei rauslässt, könnte ich die Bedeutung der Zeichen bestimmt schneller herausfinden.“

Sie startete das Auto und bog auf den Broadway ab. „Sicher, aber warum recherchierst du nicht online?“

„Das könnte ich auch, aber ich habe, was diese Zeichen angeht, so eine Vermutung. Sagt dir Strega etwas?“

„Nein.“

„Das steht für Stregheria oder auch italienische Hexenkunst. Es handelt sich um eine sehr erdverbundene Religion, heidnisch bis ins Mark, vermutlich der älteste heidnische Kult, der heute noch praktiziert wird. Natur ist Leben, und Magie ist das Wissen darum, wie man die Verbundenheit aller natürlichen Lebenskräfte kontrolliert. Strega sucht nach Wegen, die Erde durch ihre Anbetung zu verändern. Es ist eine positive Reise. Sie beten nicht den Teufel an oder so. Keine Tieropfer oder dunkle Engel. Zumindest heute nicht mehr – oder nicht mehr öffentlich.“

Sie warf ihm einen Blick zu und sah, dass er versuchte, zu scherzen. Doch das funktionierte heute nicht. Dazu waren sie beide zu verstört. McKenzie schaute aus dem Fenster und fuhr fort.

„Einige dieser Zeichen sehen verdächtig nach Strega-Symbolen aus. Wir sprechen hier von mythologischer Verehrung, der polytheistischen Gesellschaft. Erde, Mond und Sterne repräsentieren verschiedene Götter und Göttinnen.“

„Lass mich raten. Du sprichst auch Hexisch?“

Er schaute sie an und sah, dass sie ihn nur aufzog. „Sehr witzig. Hast du auf dem College nicht die Klassiker studiert?“

„Ich habe eine Vorlesung in Mythologie belegt, um meine Pflichtpunkte im Fach Freie Künste zu kriegen, aber das war’s auch schon. Ich erinnere mich nur an Zeus und seinen Blitz und irgendetwas mit einem Turmbau zu Babel.“

„Du Ärmste. Das ist eigentlich ziemlich cooles Zeug. Die ganzen heidnischen Religionen fußen in polytheistischer Götterverehrung. Bei der Konvertierung der Massen mussten sich die Christen die Strukturen der Heiden zunutze machen. Deshalb gibt es bei den Katholiken auch heute noch so viele heidnische Rituale. Der Weihrauch, die Kerzen, die Fastentage, die Heiligen. Maria entspricht der Göttin, Christ dem Gott. Die Heiligen stehen für das Gleiche wie früher die Götter im Olymp – sie schützen bestimmte Teile des Lebens wie die Ernte, die Gesundheit, den Krieg. Ehrlich gesagt ist das alles sehr faszinierend.“

„Honey, wir sitzen hier quasi in der Schnalle des Bibelgürtels. Solche Sachen hat man uns nicht beigebracht. Zugegeben, es ist interessant, aber welche Verbindung besteht zu unserem Fall? Meinst du, wir haben es mit Heiden zu tun? Ich dachte, du hättest etwas von sangu inen Vampiren erwähnt.“

Er seufzte. „Ich glaube, dass mehr dahinter steckt, als auf den ersten Blick zu erkennen ist, und versuche, für alles offen zu sein.“ „Tja, ich denke, wir haben es mit Verrückten zu tun, die sieben Kinder umgebracht haben. Ich kann beim Gedanken an früher auch ganz romantisch werden, aber das wird mir nicht helfen, den Fall zu lösen. Ich muss einen Verdächtigen finden, und zwar schnell. Was bedeutet, sich auf gute alte Polizeiarbeit zu verlassen anstatt auf einen Vortrag in Geschichte.“

„Lass mich ein wenig recherchieren. Der Mörder könnte sich in einem veränderten Bewusstseinszustand befinden, vor allem, wenn er unter dem Einfluss von Drogen steht. Wir dürfen nicht vergessen, dass irgendjemand das Video gedreht hat, und vom zittrigen Bild her tippe ich auf eine Handkamera. Wir haben es definitiv mit mehr als einer Person zu tun.“

„Großartig. Genau, was wir brauchen.“ Sie dachte einen Moment nach. „Vielleicht ist der Mörder in dem Video der Typ, den Lincoln auf den Bändern von den Tatorten gestern gesehen hat. Mein Gott. Wir haben sieben Tote, ein Mädchen, das sich mit letzter Kraft ans Leben klammert, einen Brief von jemandem, der behauptet, sie alle getötet zu haben, und einen Film von dem ganzen Vorgang. Vampire und Hexen, die in Nashville Amok laufen. Das schafft es definitiv in die landesweiten Nachrichten“, murmelte sie und bog erst auf die Eighth Avenue und dann auf die Church ab.

Vor der öffentlichen Bücherei von Nashville hielt sie an. Das hoch aufragende, dreistöckige Gebäude mit seinen römischen Säulen wirkte erdrückend, Unheil verkündend. Großartig, würde sie jetzt anfangen, in allem ein Zeichen zu sehen?

Ein Obdachloser blieb neben dem Wagen stehen und funkelte sie an. Dann setzte er sich wieder schlurfend in Bewegung und gesellte sich zu seinen Kumpels im Park. Die Ironie blieb ihr nicht verborgen – über die Bücherei und die Aufklärung und Bildung, für die sie stand, wachten die vergessenen Menschen der Stadt.

„Willst du immer noch mit zur Hillsboro? Ich kann dich auf dem Weg dahin wieder abholen.“

„Ja. Das klingt gut, ich ruf dich dann an. Das hier sollte nicht allzu lange dauern.“

Er stieg aus dem Auto, bereits vollkommen in seine Welt vertieft. Taylor seufzte, als er durch die reich verzierten Türen verschwand. Sie wusste nicht, warum, aber ihn weggehen zu sehen erinnerte sie an Memphis. James „Memphis“ Highsmythe, den Viscount Dulsie, besonderer Verbindungsmann der Terrorismusabteilung in der BAU in Quantico oder, um es präziser auszudrücken, der Metropolitan Police bei New Scotland Yard.

Baldwin hatte Memphis letzte Woche in Quantico gesehen, wo er sein neues Büro bezogen hatte. Sie hatte Baldwin nicht erzählt, dass Memphis außerdem mit ihr in Kontakt geblieben war.

Memphis hatte sich in den letzten Wochen anständig verhalten. Nach ihrem kleinen Intermezzo in Florenz und einem Kuss, der ihr noch tagelang durch den Kopf gegangen war, hatte sie ein paar diskrete SMS und E-Mails erhalten; nichts, was sie Baldwin nicht zeigen könnte, sollte das Thema mal aufkommen. Aber gestern, bevor man ihr öffentlich ihren Titel wieder verliehen hatte, war auf ihrem Schreibtisch ein Strauß weißer Rosen aufgetaucht. Auf der Karte stand nur In Liebe, M.

Sie hatte alle angemessenen und auch die nicht so angemessenen Gefühle durchlebt. In Liebe, M. Es wäre alles gut gewesen, wenn Baldwin es nicht gesehen hätte. Er hatte nichts gesagt, aber seinen Kiefer so fest angespannt, dass die Muskeln hervorgetreten waren. Sie hasste Memphis dafür, Baldwin so verletzt zu haben. Hasste ihn für seine Arroganz, ihr Rosen mit einer Karte zu schicken, auf der das Wort Liebe stand. Aber gleichzeitig war sie glücklich und wusste nicht, was das zu bedeuten hatte.

Beim Gedanken daran wurde sie wieder wütend, legte schnell einen Gang ein und trat fester aufs Gaspedal, als nötig gewesen wäre. Mit quietschenden Reifen schoss sie vom Bürgersteig auf die Straße zurück. Abwesend achtete sie kaum auf die Autoschlangen vor ihr, auf die Touristen, die sich auf den Bürgersteigen drängten und auf eine Gelegenheit warteten, die Straße zu überqueren, um sich auf dem Lower Broadway ein paar Stunden unterhalten zu lassen. Schließlich reichte es ihr und sie bog auf die Union Street ab und fuhr die Fifth hoch, während sie alle Gedanken an Memphis in die entsprechenden Schubladen zurückstopfte. Sie konnte nicht so weitermachen, aber sie wusste auch nicht, wie sie damit aufhören sollte. Sie wollte ihn nicht. Das sollte eigentlich alles sein, was zählte. Doch die Gedanken an ihn schlichen sich in den unangebrachtesten Augenblicken immer wieder ein.

Sie wollte mit Sam darüber sprechen, aber Sam war sowieso schon verärgert und reagierte höchst allergisch auf den Bruch in Taylors mentalem Protokoll. Sie hatten das Thema geflissentlich gemieden, nachdem Sam ihr vorgeworfen hatte, während einer Autopsie mit Memphis geflirtet zu haben. Bei dem Gedanken an ihren Streit brannten Taylors Wangen. Sie hatte nicht absichtlich geflirtet und war verletzt, dass Sam etwas anderes andeutete. Doch nun, nachdem Memphis ihr so offen gesagt hatte, was er für sie empfand, nachdem sie körperlichen Kontakt gehabt hatten, wusste sie nicht mehr, wie sie ihre Gefühle in Worte kleiden sollte, sodass ihre Freundin sie verstand.

Und da Sam wieder schwanger war, würde sie sich sowieso mehr auf sich und ihre Familie konzentrieren. Taylors Dummheiten hätten für sie keine Priorität. Mit einem Mal fühlte sie sich allein und isoliert. Das erste Mal seit Jahren. Um die Wahrheit zu sagen, sie hatte nicht viele Freunde, mit denen sie reden konnte – zumindest nicht über Herzensangelegenheiten.

Im Moment konnte sie deswegen also nichts unternehmen. Mit einem inneren Schulterzucken verbuchte sie es als Glück, von zwei Männern attraktiv gefunden zu werden, und beließ es dabei. Baldwin war der Bessere der beiden, derjenige, mit dem sie für immer zusammen sein wollte, und sie hatte gewiss nicht vor, ihre Beziehung zu gefährden, nur weil ein anderer Mann ein wenig in sie verliebt war.

Der Gedanke an andere Männer führte sie unweigerlich zu Fitz. Sie musste nachher unbedingt noch einmal beim North Carolina State Bureau of Investigation anrufen. Sicher würde sie dort jemanden finden, der sich ihre Seite der Geschichte anhörte und gewillt war, ein wenig Druck auf die Küstenwache auszuüben oder die Häfen zu überprüfen – irgendetwas, um ihr zu helfen, ihn zu finden. Sie spürte, wie allein der Gedanke an ihre Theorie, dass der Pretender sich Fitz geschnappt hatte, ihren Blutdruck in die Höhe schnellen ließ und fühlte sich besser. Tatendurstig. Sich Sorgen über Fitz zu machen war viel wichtiger, als sich den Kopf über Memphis zu zerbrechen.

Sie fuhr an den Büros von Channel Five vorbei und fragte sich, was da gerade zusammengeschnitten wurde. Das „Green-Hills-Massaker“ hatten sie es heute Morgen genannt und Bilder von Taylor auf der Pressekonferenz gezeigt. Sie glaubte nicht, jemals größeren Druck verspürt zu haben, einen Fall zu lösen, als in diesem Augenblick.