Quantico
16. Juni 2004
Baldwin
Jessamine Sparrow hatte wirklich einen unpassenden Namen. Bulldogge hätte viel besser zu ihr gepasst als Spatz, fand Baldwin, denn ihre Beharrlichkeit war die Eigenschaft, die ihn bei ihrer Einstellung am meisten beeindruckt hatte. Als sie nun zu ihm sagte, „Hey, Boss, schau dir das mal an“, und eine unverkennbare Neugierde in ihrer Stimme mitschwang, ließ er seine Akten fallen und drückte in Gedanken die Daumen.
Er streckte sich und stand dann auf, um durchzuatmen. Seit über zwei Stunden studierte er die Beweisakten, und von der winzigen Schrift taten ihm die Augen weh. Er brauchte zwar noch keine Brille, aber die Wörter verschwammen vor seinen Augen im kalten, fluoreszierenden Licht des Konferenzraums.
Sparrow konnte es nicht viel besser gehen. Sie durchsuchte seit beinahe zwanzig Stunden das Internet.
Auf ihrem Monitor herrschte das reinste Chaos. Offene Fenster in allen nur denkbaren Größen, Formen und Farben. Sie klickte eines der Fenster in der oberen linken Ecke an, sodass es den ganzen Bildschirm füllte. Es handelte sich um einen Nachruf aus der Washington Post vom 12. Januar 2004. Ein kleines Gesicht lächelte ihn traurig an, ein junges Mädchen, vielleicht acht, neun Jahre alt. Sie hatte keine Haare – sein erster Gedanke war Krebs.
„Wer ist das?“, fragte er.
„Sie heißt Evie Kilmeade. Neun Jahre alt. Sie ist im letzten Januar nach längerem Kampf an Leukämie gestorben.“
„Das ist ja schrecklich.“
„Ja, stimmt.“ Sparrow sagte das ohne die Überzeugung, die die meisten Frauen in eine solche Aussage gelegt hätten. Obwohl erst Ende zwanzig, war Sparrow unverheiratet und hatte keinerlei Aussicht oder gar brennendes Interesse daran, ihr Leben in naher Zukunft mit einem Mann oder Kindern zu bereichern. Sie konnte leidende Kinder immer noch mit einer gewissen Distanz betrachten. Baldwin hatte sich gefragt, ob sie vielleicht lesbisch war, den Gedanken dann aber beiseitegeschoben. Ihre sexuelle Orientierung hatte absolut nichts mit ihren Fähigkeiten im Job zu tun, und Sparrow einzustellen war eine der besten Entscheidungen, die er seit Langem getroffen hatte.
„Also, wieso ist das für uns wichtig?“
„Mir kam der Name bekannt vor. Kilmeade ist nicht gerade häufig, und als wir Arlens Nachbarn befragt haben, ist er mir aufgefallen. Dann sehe ich das hier, und als ich nachforsche, finde ich ihre Adresse. Rate mal, wo die kleine Evie gewohnt hat?“ Sie schaute über ihre Schulter, um sicherzugehen, dass er hinschaute, dann ließ sie das entsprechende Fenster auf ihrem Monitor aufpoppen.
Baldwin musste es drei Mal lesen. „Du machst Witze“, sagte er schließlich ungläubig.
„Nein. Sie hat die letzten Tage auf dieser Erde direkt gegenüber von dem großen bösen Wolf verbracht.“
Baldwin ging in Gedanken zurück und holte sich ein mentales Bild des Hauses gegenüber von Arlens vor Augen. Es stimmte. Vor zwei Tagen hatte er kurz mit den Bewohnern gesprochen. Die Kilmeades waren ein offenes, freundliches, besorgtes Ehepaar mit zwei kleinen Jungen. Sie hatten nichts von einem kleinen Mädchen erwähnt, und sie waren die Einzigen, die ein wenig Mitgefühl für ihren perversen Nachbarn aufbrachten. Kilmeade war irgendeine Art Psychologe und arbeitete mit Häftlingen.
„Welche Haarfarbe hatte sie?“, fragte Baldwin.
„Lustig, dass du das fragst. Nach gründlichem Nachhaken und der Androhung, mit einem Durchsuchungsbefehl wiederzukommen, hat Sears alle Negative von allen Fotos geschickt, die Arlen gemacht hat. Dafür kannst du dich bei Butler bedanken. Evie Kilmeade ist auch dabei. Als sie noch Haare hatte, waren sie blond.“
„Lass mich mal sehen.“
Sparrow klickte ein paar Mal mit der Maus, dann erschien ein Vollbild auf dem Monitor. Es war das gleiche Mädchen, doch auf diesem Bild war sie fröhlich und gesund und hatte lange, in Wellen über ihre Schultern fallende, blonde Haare.
„Sie passt also zum physischen Profil der Opfer, lebte gegenüber von unserem Hauptverdächtigen und ist jetzt tot. Aber es gibt keinerlei Hinweise auf einen Mord – sie ist an Leukämie gestorben, richtig?“
„Ja, das stimmt. Vor sechs Monaten.“
„Wo ist die Verbindung, Sparrow? Ich brauche mehr.“
„Ich habe mir das Online-Kondolenzbuch genauer angeschaut. Darin fand sich auch ein Eintrag von Arlen. Ich habe ihn für dich ausgedruckt.“
Sie reichte ihm ein Stück Papier. Beim Lesen der Worte überlief ihn ein Schauer.
Liebe Evie,
ich werde dein strahlendes
Lächeln vermissen, deine Neugierde, dein bezauberndes Lachen und
deine liebevollen Umarmungen. Ruhe sanft, meine Kleine. Du hast
eine Pause verdient.
In Liebe,
dein Harry
„Verdammter Hurensohn. Dein Harry? Er gibt da mit seinen eigenen Worten eine Beziehung zu. Sparrow, du weißt, was das bedeutet, stimmt’s? Er hatte persönlichen und körperlichen Kontakt mit einer Minderjährigen. Das verstößt gegen seine Bewährungsauflagen. Wenigstens dafür kann Fairfax County ihn festnehmen. Wir können ihn sogar selbst holen, wenn es nötig ist.“
Sparrow nickte. „Oberflächlich betrachtet sieht es aus, als wenn Evie und Arlen befreundet gewesen wären. Ich denke, ihr Tod könnte der Auslöser gewesen sein. Er verliert Evie, fängt dann an, sie neu zu erschaffen und all die grauenhaften Fantasien auszuleben, die er in Bezug auf sie die ganze Zeit über gehabt hat. Schließlich reichen die Fantasien nicht mehr und er fängt an zu töten.“
Baldwin wandte sich wieder dem Bild auf dem Monitor zu und fuhr mit dem Finger das spitze Kinn des Mädchens nach. Natürlich. Wenn Arlen eine – aus seiner Sicht – Verbündete gefunden hatte, ein kleines Mädchen, das seine Fantasien beflügelte, und ihn dann im Stich ließ, indem es einfach starb … ja, das könnte gut der Auslöser gewesen sein. Zumindest war es eine gute Basis für ein Motiv. Baldwin fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, als wenn er alle Gedanken wieder in seinen Kopf hineinschieben wollte, und atmete seufzend aus.
„Gute Arbeit, Sparrow. So könnte es gewesen sein. Komm, sprechen wir mit ihren Eltern, um herauszufinden, wie nahe ihre Tochter dem Pädophilen gestanden hat. Wo ist Charlotte?“
Sparrow schaute ihn nicht an, sondern schloss nach und nach die Fenster auf ihrem Bildschirm. „Sie ist bei der Spurensicherung, glaube ich. Sie wollte irgendetwas bezüglich der Beschriftung der Beweise nachgucken.“
„Was?“
„Weiß ich nicht. Tut mir leid, Boss, ich hab nicht richtig zugehört.“ „Kein Problem.“
Baldwin hielt ihr die Tür auf und ließ sie als Erste aus dem Konferenzraum gehen.
„Hey, Boss?“ Sparrows breite, klobige Absätze klackerten auf dem Linoleumboden.
„Ja?“, erwiderte Baldwin abgelenkt. Konnte das sein? Konnte sie wirklich die winzigkleine Verbindung gefunden haben, die alles erklärte?
„Wo wir gerade von Charlotte sprechen.“
Das brachte seine Aufmerksamkeit zurück auf die Unterhaltung. Vorsichtig sagte er, „Ja?“
Sparrow biss sich auf die Lippen und wendete dann kopfschüttelnd den Blick ab. „Ach, nichts, Boss. Schon gut.“ Sie beschleunigte ihren Schritt und Baldwin stockte der Atem. Sie wusste es. Vermutlich wussten es alle. Verdammte Scheiße.
Und es bedurfte nicht mehr als dieser kleinen Unsicherheit von Sparrow, um eine Entscheidung zu treffen. Er wusste, was er zu tun hatte. Er musste das Team an erste Stelle setzen. Er war auf mehr als nur eine Weise für sie verantwortlich.