50. KAPITEL

Nashville, Tennessee

Mittwoch, 24. Dezember

9:00 Uhr

Taylor suchte im ganzen Haus nach Hershey’s Kisses. Im Esszimmer war eine Tüte gewesen, in dem italienischen Zinnteller auf dem Sideboard, aber die Schüssel war jetzt leer. Sie durchwühlte die Küchenschubladen, fand drei Stangen Smarties, Überbleibsel von Halloween und irgendwie aus ihrem alten Häuschen mit hierher gebracht, aber das war nicht dasselbe. Sie brauchte richtige Schokolade. Irgendetwas in ihr sehnte sich nach dem Süßesten, das sie finden konnte, als könnte die Süße die Kälte in ihrer Seele erwärmen.

Nach dem üblichen Theater – dem Treffen mit dem Abteilungspsychiater, der vorübergehenden Versetzung an den Schreibtisch – hatte Baldwin sie nach Hause gebracht. Sie waren viel zu spät ins Bett gegangen, und um drei Uhr früh war sie hochgeschreckt, die Hände fest um den Hals von L’Uomo geklammert. In ihrem Traum hatte sie ihn erwürgt. Unfähig, wieder einzuschlafen, hatte sie eine Runde Pool gespielt und dann wie in Trance vor dem Fernseher gesessen und sich die Wiederholungen der Nachrichtensendungen des Tages angeschaut, bevor sie wieder eingedöst war.

Sie erwachte mit dem unbändigen Gefühl der Sehnsucht nach etwas, irgendetwas. Ihr Unterbewusstsein sehnte sich offenbar nach einer Zigarette. Verdammte Stella.

Als sie im Erdgeschoss nicht fündig wurde, stieg sie die Treppe in den ersten Stock hoch, fest entschlossen, Baldwin zu wecken und ihn zu fragen, wo verdammt noch mal die Süßigkeiten hingekommen waren. Sie ging ins Schlafzimmer. Baldwin war letzte Nacht vollständig bekleidet aufs Bett gefallen und auf der Überdecke eingeschlafen. Sein Kopf lag in einem seltsamen Winkel, und sofort ging Taylor zu ihm und schob ihm ein Kissen unter die Wange. Er lächelte und murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Der Fernseher war immer noch an – es lief eine Dokumentation über die Sex Pistols. Sie schaute ein paar Minuten zu, dann schaltete sie das Gerät aus, löschte das Licht und überließ Baldwin seinen Träumen.

Schokolade, Schokolade, Schokolade. Wo konnte denn noch welche sein? Sie hatte keine Lust, rauszugehen. Sie wollte das Haus nicht verlassen, Punktum. Das war nur eine normale psychische Reaktion darauf, dass ihr Leben ihr aus der Hand genommen worden war, das wusste sie. Sie rumorte weiter in der Küche herum, öffnete und schloss Schranktüren, bis Baldwins Stimme sie aufschrecken ließ.

„Guck mal im Gefrierfach nach.“

Sie drehte sich um. Da stand er und lächelte sie an. Es war kein glückliches Schön-dich-zu-sehen-Lächeln. Es war mehr eine düstere Erinnerung an das, was sie beide in den letzten Tagen durchgemacht hatten.

Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu. „Woher willst du wissen, was ich suche?“

„Du suchst nach Schokolade.“

„Woher weißt du das? Hör zum Teufel noch mal auf, meine Gedanken zu lesen. Ich hasse es, wenn du das tust.“ Sie trat an den Kühlschrank und fing an, das Gefrierfach zu durchsuchen. Hinter zwei Tupperbehältern mit Suppe lag ein Beutel mit Schokoladenchips, ein Überbleibsel ihres letzten Versuchs, Kekse zu backen.

Sie sah in seinen Augen, dass ihre Bemerkung ihn verletzt hatte, und wollte gerade anfangen, sich zu entschuldigen, doch irgendetwas hielt ihre Zunge zurück.

Also nahm sie den Beutel aus dem Kühlschrank und setzte sich damit auf die Ecke der Arbeitsplatte. Mit baumelnden Beinen tauchte sie in eine Hand in den Schokoladenbeutel und füllte ihren Mund mit der süßen Wohltat. Die Schokochips waren hart und kalt, aber lecker.

Baldwin holte die Milch aus dem Kühlschrank und machte sich daran, ihr einen Tee aufzusetzen. Sie sah ihm dabei zu und nahm dann den dampfenden Becher gerne an. Etwas ruhiger nun nippte sie daran und sagte: „Danke.“

„Willst du darüber reden?“

Sie hob den Blick von dem gelben Beutel. Baldwin musterte sie eindringlich.

„Eigentlich nicht, nein.“

„Du musst es rauslassen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was für Gefühle in dir toben nach dem, was alles passiert ist. Du hast alles richtig gemacht, hast getan, was von dir erwartet wurde. Und du bist in Sicherheit, wofür ich auf ewig dankbar sein werde. Aber trotzdem musst du über das reden, was passiert ist. Die Entführung. Den Schneewittchenmörder. Über deinen Dad und Malik. Über die Fälle. Uns. Irgendetwas, Taylor.“

Sie nippte an ihrem Tee, nicht ganz sicher, warum sie böse auf Baldwin war. Er hatte nichts falsch gemacht. „Nein, ich möchte wirklich nicht.“

„Babe …“

„Ich sagte Nein. Ich möchte nicht. Dräng mich nicht, Baldwin. Es war auch meine Hochzeit. Ich bin nicht in der Stimmung. Diese Woche habe ich zwei Männer getötet, herausgefunden, dass mein Vater noch lebt, ich ihn aber ins Gefängnis schicken muss, meine Hochzeit wurde ruiniert …“

Mit drei kurzen Schritten drang er in ihre Intimzone ein.

„Es interessiert mich nicht, in welcher Stimmung du bist. Du musst über das reden, was passiert ist. Wir müssen über all das hier sprechen. Sonst wird es nur in dir gären. Du musst mir sagen, was in deinem Kopf los ist, damit ich sicher bin, dich nicht in eine Situation zu bringen, die …“

„Was? Wovon zum Teufel redest du da? Du bringst mich in Situationen?“ Taylor sprang von der Arbeitsplatte herunter und warf den leeren Beutel in den Mülleimer. „Ich kann mich ganz gut um mich selber kümmern, Agent Baldwin. Vergessen Sie das nicht.“

Sie stürmte aus der Küche durch die kleine Kammer in die Garage. Wie konnte er es wagen? Sie schäumte vor Wut. Ihr war bewusst, dass sie überreagierte, aber gleichzeitig konnte sie nicht anders. Ungeduldig drückte sie den Knopf, und das Garagentor öffnete sich langsam. Sie ging die paar Stufen hinunter und riss die Fahrertür ihres 4Runners auf. Baldwin stand in der Garagentür und sah sie mit einem unglaublich verletzten, forschenden Blick an. Sie ignorierte ihn, stieg in den Truck und fuhr rückwärts aus der Einfahrt. Verdammt sollte er sein!

Und verdammt sollte ihr Dad sein! Das war alles sein Fehler. Wie hatte er sie nur in so eine Situation bringen können? Wie konnte er sie vor die Wahl stellen, das Richtige zu tun oder sein Leben zu retten? Ach, scheiß auf sie. Scheiß auf sie alle, dachte sie.

Sie fuhr, ohne darüber nachzudenken, wo sie hinwollte. Zu ihrer Rechten lagen Felder, ein Zaun und ein einsamer Baum auf einem Hügel. Die One Tree Hill Farm, wie sie wusste. Was für ein origineller Name.

Wie immer beruhigte die ländliche Gegend ihren Geist und machte sie glücklich. Hier wurden Rinder gezüchtet, und normalerweise gab es zweimal im Jahr Kälber, im Frühling und im Herbst. Sie liebte es, daran vorbeizufahren und die Babies hinter ihren Müttern hinterhertrotten und nach Milch rufen zu sehen. Es war einer der Gründe, warum sie ein Haus an dieser Straße gekauft hatten, denn einen Augenblick lang hatte Taylor das Gefühl, auf dem Land zu leben und nur für die Arbeit in die Stadt zu fahren.

Drei Geier saßen auf Zaunpfählen und starrten eine Gruppe Kühe an. Taylor drosselte das Tempo und beobachtete die Vögel, die so gar nicht zu ihrer Stimmung und der ländlichen Idylle passen wollten. Geier bedeuteten Tod. Sie warf einen Blick auf die schwarzen Kühe und sah, wie sie alle mit dem Kopf nach außen einen Kreis gebildet hatten und etwas in ihrer Mitte beschützten. Sie schaute genauer hin und versuchte herauszufinden, was los war. Dann verstand sie.

Ein Kalb war geboren worden, vollkommen außerhalb der Saison. Es kämpfte um sein Leben. Die Geier waren da, weil sie den Tod rochen, weil sie wussten, dass sie am Abend volle Bäuche hätten. Und die Kühe beschützten das Kalb vor den Aasfressern, die das Ende eines Lebens mit einem Festmahl feiern würden.

Sie merkte erst, dass sie angehalten hatte, nachdem sie ausgestiegen war und die Geier anschrie. Sie hüpften einen Moment davon und starrten sie mit allwissenden Augen an. Außer über den Zaun zu klettern und das Kalb mitzunehmen, gab es nichts, was sie tun konnte.

Die Wut wallte in ihr auf, hell und rasend. Sie gab dem Farmer die Schuld, weil er es geduldet hatte, dass eine seiner Kühe sich außerhalb der Saison gepaart hatte, weil er nicht aufgepasst hatte, sodass sie ihr Kalb auf einem schneebedeckten Hügel zur Welt brachte anstatt im Stall. Sie gab den Geiern die Schuld, weil sie so abstoßende Kreaturen waren. Dazusitzen und zuzusehen, wie das Abendessen vor den eigenen Augen starb … Sie stellte sich die Unterhaltung zwischen ihnen vor. „Oooh, frisches Fleisch, frisches Fleisch.“ Der Gedanke machte sie noch wütender, und sie schlug gegen den Zaun, trat mit ihren Stiefeln gegen die Pfosten, derweil Tränen ihre Wangen herunterliefen.

Ihr Blick fiel auf eine der Kühe. Sie stand unbewegt da und betrachtete ihren Wutausbruch. Dann schaute sie Taylor direkt in die Augen und muhte: eine einfältige Anerkennung ihres Schmerzes. Sie fühlte sich ebenso hilflos und wusste, dass das Leben des Kälbchens hinter ihr langsam verebbte. Der Klang stoppte Taylors Wutanfall, und sie fiel auf die Knie und ließ all ihren Schmerz in heißen Tränen aus ihrem Körper fließen. Die Geier nahmen ihre Plätze auf den Zaunpfählen wieder ein und warteten geduldig darauf, dass sie an die Reihe kamen.

Taylor hatte keine Ahnung, wie lange sie auf dem Boden gesessen und über das todgeweihte Leben eines kranken Kalbes geweint hatte. Sie stand auf und kehrte zu ihrem Truck zurück. Beim Aussteigen hatte sie die Tür offen gelassen. Sie warf einen Blick zurück und sah, dass die Räuber sich langsam bereit machten. Es war Zeit, zuzuschlagen, das spürte sie. Sie schaute sich um, fand einen Stein und warf ihn nach den Vögeln. Er traf einen am Flügel, aber der Geier schüttelte ihn einfach ab; er war so auf seine nächste Mahlzeit konzentriert, dass ihn nichts stören konnte.

Taylor wischte sich die letzten Tränen vom Gesicht. Sie konnte nichts mehr tun. Es war ein Teil des Lebens, dass die Toten die Lebenden fütterten. Das Überleben der Stärksten, die Schwachen dienten als Nahrung für die Starken. Es musste nicht so sein, nicht in diesem Fall, aber es war schon so unzählige Male in der Vergangenheit passiert …

Taylor stieg in den Truck und fuhr los. Sie wendete und machte sich auf den Weg zurück zu ihrem Haus. Schließlich schuldete sie Baldwin eine Entschuldigung. Verdammt sollte der Mann dafür sein, dass er immer recht hatte.