19. KAPITEL

Taylor starrte auf die vor ihr liegende Leiche. Lange schwarze Haare, elfenbeinfarbene Haut, eine klaffende Halswunde, grellroter Lippenstift.

Schneewittchen.

Fluchend trat sie in den Flur zurück. „So ein Hurensohn! Dreht die zweite Leiche um, sofort!“

Sam folgte ihr. „Taylor, ich muss erst sicherstellen …“

Sie wirbelte herum und schaute ihre beste Freundin an. „Tu es einfach, Sam. Ich muss es wissen, okay? Dann lass ich dich in Ruhe arbeiten und kümmere mich darum, diesen seelenlosen Wichser zu finden und seine Eier an die Wand in meinem Büro zu nageln.“

„T, ich brauche …“

„Wenn du es nicht tust, mache ich es selber.“

Sie ging in das gegenüberliegende Zimmer. Aus dem Augenwinkel sah sie Baldwin. Er kam eilig auf sie zu. Sam war direkt hinter ihr und schob sie aus dem Weg.

„Nein, nein, nein, nein. Lass mich das tun, verdammt.“

Taylor blieb stehen und ließ Sam vorbei. Die Rechtsmedizinerin trat langsam ans Bett, um den Tatort nicht mehr als nötig zu beeinträchtigen. Als sie die Leiche erreichte, schob sie vorsichtig eine Hand unter die linke Schulter des Mädchens und hob es in wenig an, damit Taylor einen Blick auf sein Gesicht werfen konnte.

„Verdammter Hurensohn!“

„Das Gleiche?“, fragte Sam. „Ich kann es von hier aus nicht sehen.“

„Genau das Gleiche. Ein verficktes Spiegelbild. Das ist zu schnell. Baldwin?“

„Ja, ich sehe es. Genau die gleiche Szene wie gegenüber. Eine vollendete Symmetrie, findest du nicht?“

Taylor warf ihm einen scharfen Blick zu. Er hatte diesen verträumten Gesichtsausdruck, den er immer bekam, wenn er sich den grauenhaftesten Verbrechen gegenübersah. Profiler …

Er murmelte vor sich hin. Sie versuchte, zu hören, was er sagte. „Ist dir der spiegelbildliche Aufbau aufgefallen? Das hat einige Zeit gedauert, um es so hinzubekommen. Unser Freund ist sehr akribisch. Wollte es perfekt machen. Der eigentliche Schneewittchenkiller hat auch einmal einen Doppelmord begangen, oder?“

„Ja, hat er. Danielle Seraphin und Vivienne White. Die Austauschstudentinnen. Sie waren auch gespiegelt.“

„Hmm. Kluger Junge.“

„Kranker Scheißer trifft es mehr.“ Fitz trat zu ihnen.

„Da stimme ich dir zu“, sagte Taylor.

Sam hielt das tote Mädchen immer noch an der Schulter. „Entschuldigt mich. Wenn ihr mit euren Psychoanalysen fertig seid, würde ich mich gerne wieder an die Arbeit machen. Ich habe hier eine Menge zu tun, und ich weiß, dass ihr die Ergebnisse so schnell wie möglich haben wollt.“

Die Ergebnisse. Stimmt, sie mussten die Beweise sichern.

„Ja, Sam, sicher. Tut mir leid. Mach nur. Wir lassen dich jetzt in Ruhe.“

„Danke.“ Sie legte die Leiche wieder hin und beugte sich dann über das Mädchen, um sich das Gesicht aus der Nähe anzusehen. „Hey, Taylor.“

„Ja?“

„Sie hat keine sichtbare Emulsion auf den Schläfen.“

„Echt?“

„Nicht mal ansatzweise etwas Ähnliches. Sieht aus, als wenn du recht hättest mit deinem Eindruck, dass er das Muster durchbricht. Ich bin mir nicht sicher, bis ich sie auf meinem Tisch habe und die entsprechenden Untersuchungen durchführen kann, aber zu sehen ist hier nichts.“

„Rufst du mich an, wenn du es mit Sicherheit sagen kannst?“, fragte Taylor, aber Sam war schon wieder ganz ins Land der Rechtmedizin abgetaucht. Taylor wolllte gerade vorschlagen, die Party am Abend abzusagen, aber Sam ging einfach an ihr vorbei in das andere Zimmer. Taylor beobachtete, wie sie die Leiche vorsichtig herumdrehte und sich auch das Gesicht dieses Mädchens genau anschaute.

„Nein, hier ist auch nichts.“

Vorsichtig ließ sie das Mädchen wieder auf das Bett sinken. Als sie mit ihrer Hand ganz sanft über das Haar des Mädchens strich, wusste Taylor, dass es Zeit war zu gehen. Sams Kommunion mit den Toten hatte gerade begonnen.

Die drei verließen das Haus, winkten Parks zum Abschied zu und sammelten sich dann an Fitz’ Wagen.

Taylor knabberte an der Nagelhaut ihres rechten Daumens. „Entweder lebt Jane Macias noch, oder er ist vom Muster abgewichen. Er hat den Doppelmord vorgezogen. Jane sollte das fünfte Opfer sein, aber stattdessen hat er den sechsten und siebten Schneewittchenmord nachgemacht, und Jane ist noch irgendwo da draußen.“

Fitz nickte. „Vielleicht haben wir sie auch einfach nur noch nicht gefunden.“

„Vielleicht. Baldwin, nach dem zu urteilen, was wir wissen, wie wahrscheinlich ist es da, dass er an diesem Punkt das Muster verändert?“

„Wenn man bedenkt, dass er das bei den letzten achtzehn Morden nicht getan hat, ist es sehr unwahrscheinlich. Er könnte langsam die Kontrolle verlieren. Interessant ist, dass es hier keine Spuren von Weihrauch und Myrrhe gibt. Eskalation, Ablenkung, eine Unterbrechung, all das wären mögliche Erklärungen. Und wenn dem so ist … nun, ich muss nicht betonen, dass Jane Macias, wenn sie in seinen Händen ist, möglicherweise mehr erleiden muss als alle anderen Mädchen bisher.“

Taylor seufzte und starrte auf das kleine Haus. „Als wenn es nicht schlimm genug wäre, vergewaltigt zu werden und die Kehle durchgeschnitten zu bekommen. Ich muss zurück ins Büro und mich um den ganzen Papierkram kümmern. Fitz, macht es dir was aus, hierzubleiben und für mich ein Auge drauf zu haben?“

„Natürlich nicht. Wir treffen uns dann im Büro, sobald hier alles abgewickelt ist. Die Kriminaltechnik wird das ganze Haus auseinandernehmen. Irgendetwas finden wir, Lieutenant, ganz sicher.“

„Ist es okay, wenn wir dein Auto nehmen?“

„Klar, ich fahr nachher mit Parks mit. Haut ruhig ab.“ Er warf ihr die Autoschlüssel zu und kehrte quer über den Rasen zum Haus zurück. Dabei schnippte er mit den Fingern nach einem Kriminaltechniker, der sofort die Schultern straffte und zu ihm kam, als hätte ihm ein General befohlen, zu marschieren. Taylor lächelte. Fitz wusste, was er tat. Wenn es irgendetwas Entscheidendes an diesem Tatort gab, würde er es finden.

„Steig ein, ich fahre.“

Baldwin nickte nur und setzte sich auf den Beifahrersitz.

Marcus und Lincoln waren im Büro, als Taylor und Baldwin dorthin zurückkehrten.

Taylor ging direkt zu ihrem Schreibtisch, nahm den Telefonhörer ab und rief Mitchell Price an.

Er antwortete nach dem ersten Klingeln. „Ich hab’s schon gehört.“

„Gut. Wir haben hier eine ganz schöne Sauerei. Augenscheinlich zwei weitere Opfer vom Schneewittchenkiller, ein Mädchen wird noch vermisst, eine tote Zeugin nach einer Schießerei im Krankenhaus. Was kommt da wohl noch?“

„Fragen Sie gar nicht erst, Lieutenant. Das bringt nur Unglück.“

„Ja. Nun ja, ich suhle mich jetzt ein wenig im Papierkram. Fitz hält die Stellung am Massagesalon. Ist Remy St. Claire noch in der Stadt?“

„Das weiß ich nicht. Nach der verdammten Pressekonferenz ist sie aus der Rechtsmedizin gerauscht und ward nicht mehr gesehen. Haben Sie heute noch irgendetwas vom FBI gehört?“

„Nein, soweit ich weiß, hat Charlotte Douglas sich nicht bei uns gemeldet. Baldwin sagt, sie steckt bis über beide Ohren in der Untersuchung der vorherigen Morde. Ich frag aber gleich mal bei den Jungs nach. Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen müsste?“

„Nein. Das sollte alles sein. Halten Sie mich auf dem Laufenden, okay?“

„Okay. Kommen Sie heute Abend?“

„Ihre Junggesellenparty verpassen? Auf gar keinen Fall.“

„Ich denke, das Essen wird ausfallen.“

Price seufzte laut. „Okay. Wir sehen uns dann.“

Sie legten auf, und Taylor ging in das Büro ihres Teams zurück. Baldwin war gerade mit seiner Zusammenfassung des letzten Tatorts fertig. Taylor zog sich einen Stuhl heran und setzte sich rücklings darauf, sodass sie die Arme auf die Rückenlehne stützen konnte.

„Das ist alles von mir. Ich geh mal in mein Büro und gucke, was bei Charlotte los ist, okay? Wir sehen uns später.“ Baldwin nickte den Männern zu und gab Taylor einen schnellen Kuss. Sie lächelte ihn an.

„Lass dich nicht zu sehr ärgern. Du musst heute Abend noch nackten Frauen beim Tanzen zusehen.“

Er verdrehte die Augen und winkte, als er in den Flur hinaustrat. Taylor drehte sich wieder zu Lincoln und Marcus um und legte ihr Kinn auf die Hände.

„Und, wie geht es euch so an diesem lieblichen Nachmittag?“

„Gut. Hast du im Reinkommen noch Frank Richardson getroffen?“ Lincoln zeigte in Richtung Tür. „Er ist gegangen, kurz bevor du gekommen bist.“

„Nein. Was wollte er?“

„Er sagte, dass er einige Informationen hätte, die dich interessieren könnten. Bei der Durchsicht seiner alten Artikel ist er wohl auf irgendwas gestoßen. Zu dumm, dass du ihn verpasst hast.“

„Ich rufe ihn später an. Wo stehen wir mit der Krankenhaus-Schießerei?“

Marcus stand auf und fing an, im Raum auf und ab zu gehen. „Nirgendwo. Der Typ hat sich in Luft aufgelöst.“

Lincoln kratzte sich am Kopf. „Warum schießt er um sich und rennt mit dem Mädchen weg, um es dann schlussendlich doch zu erschießen? Warum hat er die Kleine nicht einfach im Krankenzimmer umgebracht?“

„Darüber haben Baldwin und ich auch nachgedacht. Sie hat mir eine wirklich heftige Geschichte erzählt – für die Männer war sie ein ausgebildeter Aktivposten. Ich muss annehmen, dass der Schütze die Order hatte, sie lebendig da herauszuholen. Wir sind im genau falschen Augenblick dazugekommen, sodass er keine Alternative gesehen hat, als sie zu töten. Worüber ich überhaupt nicht glücklich bin.“

„Kann ich dir nicht verdenken. Wir haben übrigens noch mal mit Remys Großeltern gesprochen. Sie hatten keine Ahnung, dass sie sich vielleicht nachts rausgeschlichen haben könnte, noch wussten sie, mit wem sie sich traf. Nach ihrer Aussage war sie ein süßes, gehorsames kleines Mädchen. Wir warten noch auf einen Rückruf von der Schule, mit wem sie da befreundet war. Das Abklappern der Bars bringt uns nirgendwohin. Wir haben ein paar Streifenbeamte, die Bilder aller vier Mädchen verteilen, aber niemand erinnert sich daran, sie gesehen zu haben. Ich denke, es wäre klug, die Medien einzuschalten.“

„Verdammt. Ich glaube, du hast recht. Ohne Hilfe ist es wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Danke, dass ihr euch darum gekümmert habt. Und lasst mich wissen, was die Schule sagt. Wenn sie euch irgendwelche Schwierigkeiten machen, sagt Bescheid. Ich habe immer noch Freunde in der Verwaltung, die reden werden, wenn es sein muss. Was gibt es zu Jane Macias? Irgendwelche Neuigkeiten?“

Lincoln griff hinter sich und nahm einen Laptop von seinem Schreibtisch. „Ich habe ihren Computer, aber bis jetzt noch nichts gefunden. Die meisten ihrer Dateien sind passwortgeschützt, und sie benutzt rotierende Binärgeneratoren, um wahllose Passwörter zu erstellen. Sie basieren auf der Bernoulli-Gleichung.“

Taylor schüttelte den Kopf. „Wie bitte?“

„Das Bernoulli-Prinzip? Steigerungen in der Geschwindigkeit und Verminderungen im Druck erzeugen Auftrieb. Die übliche Erklärung dafür, wieso Flugzeuge fliegen, auch wenn es eine sehr perfekte Welt sein müsste, in der diese Gleichung funktioniert. Es ist einfach zu erklären. Der Binärgenerator nutzt die Geschwindigkeitsgleichung von Bernoulli, um …“

Taylor fing an zu lachen. Trotz seines weltgewandten Aussehens war Lincoln ein Computerfreak, wie er im Buche stand. Ein echtes Genie. „Ist das, was du da versuchst zu erklären, nicht ziemlich ausgefallener Kram für eine Reporterin?“

„Nicht nur für die; eigentlich für jeden. Es gibt hier drinnen etwas, von dem sie nicht will, dass es jemand liest, so viel ist mal sicher.“

„Und immer noch nichts von ihrer Familie? Ich bin ehrlich gesagt schockiert, dass wir noch keinen panischen Anruf von irgendjemand erhalten haben, der sie kennt.“

„Ich hab nichts herausfinden können. Wenn ich die Passwörter geknackt habe, komme ich auch in ihr Adressbuch. Ich warte gerade noch auf einen Rückruf von Google bezüglich der Aufforderung, uns das Passwort zu ihrem E-Mail-Account mitzuteilen.“

„Wenn der Schneewittchenimitator sie erwischt hat, wieso haben wir dann immer noch nicht ihre Leiche gefunden?“, schaltete Marcus sich ein.

Taylor hob eine Augenbraue. „Das habe ich mich auch schon gefragt. Vielleicht hat er sie gar nicht. Vielleicht hat sie an etwas gearbeitet, was sie in Schwierigkeiten gebracht hat. Oder wir haben ihre Leiche einfach noch nicht gefunden. Was ist mit dem Freund? Könnte er etwas mit der Sache zu tun haben?“

Marcus schnaubte. „Skip. Der Kerl könnte seinen eigenen Hintern nicht mit ‘ner Lampe und ‘ner Karte finden. Er ist so verknallt in sie, dass ich mich dabei ertappte, mir zu wünschen, ich hätte ihre Telefonnummer. Nein, ich wette, dass er hiermit nichts zu tun hat. So viel Verzweiflung kann man nicht vortäuschen.“

„Also wo ist sie dann?“

Niemand antwortete ihr. Sie richtete sich auf, band ihren Pferdeschwanz neu und schenkte den Männern ein schwaches Lächeln. „Großartig. Das ist einfach großartig. Keine Hinweise, keine Spuren, keine Ahnung. Aber die Sachbeweise müssen uns doch irgendwohin führen. Entweder entgeht uns was, oder der Kerl hat das alles brillant ausgetüftelt. Auch wenn die Massagemädchen für ihn ein Schritt zurück sind. Auf diesen neuen Leichen gab es keine Spur von dem Salböl, zumindest keine, die Sam mit bloßem Auge erkennen konnte. Baldwin denkt, dass der Täter vielleicht gestört worden ist. Oder er ist endgültig durchgedreht.“

Sie stand auf und wandte sich ihrem Büro zu. „Ich mach mich mal daran, ein bisschen von dem Kram, der sich heute angesammelt hat, abzuarbeiten. Linc, sag mir Bescheid, wenn du ihren Rechner geknackt hast, ja?“

Lincoln pfiff ihr den Hochzeitsmarsch hinterher, und sie zeigte ihm den Vogel. Das brach die Spannung; sie alle fingen an zu lachen.

Ein lautes Husten riss sie aus ihrer Fröhlichkeit. Captain Price stand in der Tür. Lincolns Melodie wandelte sich in eine düstere Version des Titelsongs von Polizeibericht. Price schüttelte nur den Kopf, ein kleines Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln. Sein ausladender Schnurrbart, der sein mangelndes Haupthaar mehr als wettmachte, zog sich in die Breite.

„Boss, Sie müssen diesen Männer eine Gehaltserhöhung geben.“ Taylor nickte in Richtung Lincoln und Marcus. „Sie haben diesen Fall beinahe geknackt.“

Price schaute auf seine Uhr. „Ich hab jetzt Zeit, wenn Sie mich also briefen wollen?“

Lincoln erhob sich. „Natürlich, gerne. Taylor, mach du nur, was du machen wolltest. Der kleine Mann und ich schaffen das schon.“

Sie lächelte ihn dankbar an, salutierte in Richtung Price und verschwand in ihrem Büro. Sie wünschte, sie hätte das Gefühl, dass langsam alles zu einem Ganzen wurde. Ihnen lief die Zeit davon.