7. KAPITEL

Quantico, Virginia

Dienstag, 16. Dezember

10:00 Uhr

Charlotte Douglas wusste, wie man einen Raum betrat.

Sie zog es vor, es spät am Abend zu tun, gekleidet in Valentino oder Cavalli, die zarten Füße in eine modische Kreation von Louboutin oder Blahnik gesteckt, am Arm des gut aussehenden jungen Mannes, den sie für den Abend auserwählt hatte. Einen unbezahlbaren Moment lang in der Tür stehen bleiben, um jedem Kopf die Gelegenheit zu geben, sich zur ihr umzudrehen und ihren Anblick in sich aufzunehmen. Sobald alle Augen auf sie gerichtet waren, glitt sie in den Raum, lächelte, berührte hier und da einen Arm oder Po, abhängig davon, wie eng sie mit der Person vertraut war. Das Meer der Männer würde sich sprichwörtlich teilen, um ihr Zutritt zu gewähren, Champagner erschiene wie von Zauberhand, und sofort würde der Abend als voller Erfolg gewertet.

Diese Auftritte reservierte sie normalerweise für die ganz Großen: Senatoren, Kongressabgeordnete, Menschen, die über viel Geld verfügten. Sie hatte ein Image zu wahren – glamourös, vornehm und unerreichbar. Das machte die Machtmenschen Washingtons wahnsinnig und sicherte ihr einen Platz bei beinahe jedem Ereignis, das eine gewisse Bedeutung hatte.

Aber sie konnte nicht immer auf der A-plus-Liste sein; sie musste auch die Tagelöhner umwerben. Natürlich verschwendete sie nicht ihre Designergarderobe an diese Menschen; alles von Nordstrom war vollkommen ausreichend. Für die Treffen mit den Untergebenen, den Bürovorstehern und Chefsekretärinnen, sorgte sie dafür, dass sie so elegant wie möglich gekleidet war, Haare und Make-up perfekt saßen und sie ihre Größe erreichte oder gar übertraf. Charlotte war quasi für das Laufen in Stilettos geboren.

Am gestrigen Abend hatte sie die halbe Zeit damit verbracht, mit einem nicht sonderlich hochstehenden saudischen Prinzen zu reden, eine volle halbe Stunde mit dem Vorsitzenden des Committee on Ways and Means gesprochen und ein kleines Pläuschchen mit einem Reporter des NBC-Außenbüros gehalten, während dieser für die Sendung in der Maske saß. Danach hatte sie Feierabend gemacht. Washington, D.C. zu bearbeiten konnte ganz schön anstrengend sein.

Um Punkt sieben Uhr morgens war sie durch das Tor in Quantico gefahren, hellwach und bereit, den Tag zu beginnen.

Sie lächelte ihre Kollegen an, flirtete mit dem Hausmeister, der den Fahrstuhl reparierte, und widmete sich fröhlich ihrer Morgenroutine. Im Vorbeigehen nahm sie sich einen Kaffee aus dem Pausenraum, trat im Badezimmer vor den Spiegel, um ihr Haar zu richten, dann ging sie den Flur hinunter, schloss ihre Bürotür auf und schaltete eine Lampe mit sanftem Licht an. Der Schein der umweltfreundlichen Glühlampe warf einen Schatten auf ihr Namensschild. Sie schob es ein wenig nach rechts, damit es wieder vollständig lesbar war. Beim Betrachten der Gravur fühlte sie keinen Stolz: Dr. Charlotte Douglas, Deputy Chief, Einheit für Verhaltensforschung. Das „Deputy“ missfiel ihr – es wäre ihr lieber, wenn sie nicht nur stellvertretender Chief wäre.

Nachdem sie sich in ihren Computer eingeloggt hatte, lehnte sie sich in ihrem Bürostuhl zurück und zupfte einen imaginären Fussel von ihrer Schulter. Der Rechner brauchte nur wenige Sekunden, um komplett hochzufahren: Da er durch ein Passwort geschützt war, ließ sie ihn meistens einfach im Stromsparmodus, selbst wenn sie das Büro für längere Zeit verließ. Ein paar Sekunden später erschien das FBI-Logo auf dem Monitor. Sie tippte auch hier ihr Passwort ein, eine sorgfältig gewählte Kombination aus Buchstaben und Zahlen. L96in69gu0S. Ein kleiner Scherz zwischen ihr und dem Webmaster. Der ziemlich talentiert war, wie sie herausgefunden hatte.

Ihren Kaffeebecher absetzend, machte sie sich daran, fischen zu gehen, wie sie es bei sich nannte. Sie hielt Ausschau nach ungewöhnlichen Morden, wiederholten Angriffen, ungelösten Fällen, die sehr zeitaufwendig waren, aber erledigt werden mussten. Sie hätte sich die Akten zusammenstellen und zu ihrem Schreibtisch liefern lassen können, wie der Rest der D.C.-Roboter es tat – die jüngsten Mitarbeiter in jeder Abteilung waren dafür verantwortlich, die morgendlichen Berichte, interessante Zeitungsartikel und Ähnliches für ihre Bosse zusammenzustellen. Die anderen Profiler in ihrer Einheit taten genau das, sie erlaubten den FBI-Praktikanten, die neuesten Berichte, Polizeiakten und alles andere, was möglicherweise relevant war, zu sammeln, um die Einheit auf dem Laufenden zu halten, was ihre Brüder bei den Strafverfolgungsbehörden so trieben. Aber Charlotte zog es vor, sich ihre eigenen Informationen zusammenzusuchen. Abgesehen davon konnte sowieso niemand die ganzen Kleinigkeiten, nach denen sie suchte, zu ihrer Zufriedenheit sammeln.

Ihr fiel nichts Ungewöhnliches auf – die übliche Ansammlung von Verrückten, ungelösten Fällen, mit denen sie bereits vertraut war, und Webseiten, die sich um Serienmörder drehten. Sie machte sich eine Notiz zu einer neuen Seite, die diese Mörder wie folgt umwarb: „Nehmen Sie Kontakt mit uns auf, erzählen Sie uns von Ihren grausamsten Morden. Hier bleiben Sie vollkommen anonym. WIR SIND NICHT DIE POLIZEI!“ Genau das, was sie brauchten. Das goldene Informationszeitalter, perfekt für computerbegabte Soziopathen.

Sie folgte ihrem vorgeschriebenen Protokoll.

Die neuesten ViCAP-Updates waren da. Das „Violent Crime Aprehension Program“ hatte einen ganz speziellen Zweck: Es sollte Muster innerhalb krimineller Aktivitäten aufdecken. Charlotte nutzte es, um Vermisstenfälle, nicht identifizierte Leichen und sexuelle Übergriffe zu sammeln, Berichte verschiedener Gerichtsbezirke zu vergleichen und den Informationsfluss zwischen teilweise miteinander konkurrierenden Strafverfolgungsbehörden zu koordinieren. ViCAP war eines ihrer liebsten Spielzeuge.

Sie klickte auf das Symbol, loggte sich in die Datenbank ein und sah sich um. Sie konnte nichts Neues entdecken, das ihre unmittelbare Aufmerksamkeit erforderte. Alles sah aus wie immer.

Sie machte sich daran, CODIS zu überprüfen. Das „Combined DNA Index System“ war ein ganz wundervolles Werkzeug, und wenn sie erst einmal die DNA sämtlicher böser Jungs hochgeladen hätten, würde es Leben retten. Sie gab ihr Passwort ein.

Der Schneewittchenfall hatte im Moment die höchste Priorität für sie. Das hatte mehrere Gründe. Die DNA-Profile des Serienmörders aus Nashville waren gestern Abend hochgeladen worden. Sie hatte die DNA-Eingaben für die letzten Fälle persönlich konfiguriert.

Nachdem sie eingeloggt war, fing ein kleines Icon in der linken unteren Ecke ihres Desktops an zu blinken. Sie öffnete den Link und lächelte. Die Testergebnisse der DNA des Nashville-Mörders waren zurück. Wunderbar. Es wäre nicht gut, nicht jeden Stein umzudrehen oder ihn in die falsche Richtung zu drehen.

Sie las die Ergebnisse und durchkämmte den Bericht. Natürlich könnte sie beides sofort an die Außenstelle in Nashville weiterleiten, oder auch später. Das hing ganz davon ab, wie ihre Stimmung in zehn Minuten aussah.

Mit einem Klick schloss sie die ausführliche Analyse und wandte sich einem separaten Teil der CODIS-Datenbank zu, in dem die DNA-Profile ungelöster Fälle aus dem ganzen Land gespeichert wurden, um sie miteinander zu vergleichen. In der Theorie war das eine exzellente Idee, aber in der praktischen Anwendung war der Rückstand in der DNA-Analyse bisher nicht aufgeholt worden. Langsam, aber sicher wurden die Dateien ins System hochgeladen, doch es würde noch Jahre dauern, bis die Realität die Theorie eingeholt hätte.

Zwei Icons leuchteten auf. In dem linken Symbol blinkte langsam eine Codenummer, die mit ihrer hochgeladenen DNA-Probe aus Nashville übereinstimmte. In dem rechten Symbol leuchtete dieselbe Sequenz rot auf. Ein Treffer. Ein Treffer zwischen dem Verdächtigen aus Nashville und … Sie atmete scharf ein. Das, was sie da sah, konnte nicht stimmen. Es musste ein Fehler im System sein. Einen kalten Treffer in CODIS zu haben kam nicht alle Tage vor. Mehr Dateien tauchten auf dem Bildschirm auf. Charlotte klopfte mit den Fingern auf den Tisch, während immer mehr Symbole aufleuchteten wie Weihnachtsbäume. Treffer. Treffer. Treffer. Treffer. CODIS zeigte vier separate Treffer aus vier Staaten, keiner davon Tennessee. Alle DNA-Proben deuteten auf einen einzigen Spender hin.

Charlotte fluchte.

Sie rief den Webmaster an und sagte ihm, dass es ein Problem gäbe. Er rief fünf Minuten später zurück und versicherte ihr, dass alles seine Richtigkeit hatte. Zumindest was seinen Einflussbereich betraf.

In diesem Augenblick fing das leichte Kribbeln an. Ganz unten an ihrer Wirbelsäule. Die Datenbank war programmiert worden, Muster auszuspucken, und das war genau das, was Charlotte vor sich sah. Sie hatte diese Sektion der Datenbank selber entworfen, und nun war sie da. Die Anomalie. Trotz all ihrer Bemühungen hatte sie nun keine andere Wahl mehr.

Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie zwang sich, CODIS zu schließen. Dann öffnete sie eine Datei, die tief in ihrem eigenen Ablagesystem verborgen war, und gab ein neues Passwort ein. Eine private Personalakte, die Charlotte sich vor ein paar Monaten unter der Hand besorgt hatte, öffnete sich.

Da war sie. Taylor Jackson. Charlotte starrte auf das Bild, das klar und deutlich vor ihr auf dem Bildschirm zu sehen war. Blonde Haare, etwas über schulterlang, graue Augen, ein sinnlicher Mund, eine leichte gebogene, dennoch elegante Nase – atemberaubend, aber Charlotte wusste, dass sie mithalten konnte.

Sie ging in Gedanken ihre eigenen Vorzüge durch. Ihre Haare wurden oft als „von der Farbe eines jungen Pinot Noir“ beschrieben. Porzellanteint, bernsteinfarbene Augen, eindrucksvolle Wangenknochen, und wenn sie sich nicht irrte, war ihre Unterlippe ein kleines bisschen voller als die von Jackson. Sie musste zugeben, dass das Mädchen attraktiv war. Gut zu wissen, dass Baldwin immer noch einen ausgezeichneten Geschmack hatte.

Die strahlend grünen Augen ihres ehemaligen Vorgesetzten füllten ihre Erinnerung. Widerwillig schob sie alle Gedanken an ihn zur Seite. Sie konnte sich für Stunden in den Erinnerungen an ihre kurze gemeinsame Zeit verlieren. Und doch würden sie alle nur zu dieser kleinen Schlampe zurückführen, der Frau, die ihn direkt aus Charlottes Händen gestohlen hatte.

Sie blieb noch einen Moment vor dem Bild sitzen, berührte mit dem Zeigefinger den Monitor, zog die Linie von Jacksons herzförmigem Gesicht nach. Ihr Finger berührte die Lippen, dann zwang sie sich, das Fenster zu schließen, sodass der vorherige Bildschirm wieder erschien.

Jackson war vergessen. Die neuen DNA-Profile reichten, dass sie sich voller Vorfreude die Lippen leckte. Sie liebte Herausforderungen. Was sollte sie tun? Was sollte sie nur tun? Der Treffer in CODIS war höchst unerwartet gekommen, und unglücklicherweise konnte er nicht zurückgehalten werden. Sie würde diese Information mitteilen müssen; die anderen würden es sowieso früh genug selber bemerken.

Sie öffnete die neuesten Tatortfotos, die das Nashville Police Department über Nacht zur Verfügung gestellt hatte. Der frische Mord. Das Foto bezeichnete das Opfer als Giselle St. Claire. Was für ein zarter Name, dachte sie. Armes Mädchen. Giselle war nackt und vor Kälte ganz blau. Sie zeigte Anzeichen von Verbluten: ein Verdacht, den die klaffende Halswunde bestätigte. Ein zweites Lächeln. Das Blut hatte sich unter ihrem Kopf gesammelt und rahmte die Szene mit einem makaberen roten Passepartout ein.

Charlotte öffnete eine andere Datei. Nackte Körper purzelten über ihren Monitor.

Die Medien hatten den Mörder gut getauft. Jedes Mal wenn sie diese Bilder sah, kam Charlotte als Erstes Schneewittchen in den Sinn. Zarte Schönheit, alabasterfarbene Haut, rote Lippen, tiefschwarzes Haar. Es fehlten nur der rote Umhang und die Zwerge.

Wenn man sie nur flüchtig betrachtete, konnte man glauben, all diese Fotos zeigten dasselbe tote Mädchen. Nur eine genaue Untersuchung ließ die feinen Unterschiede sichtbar werden: Größe, Gewicht, Haarlänge. Die Ähnlichkeit der Opfer war geradezu gruselig. Sie öffnete zwei weitere Fenster und grübelte einen Moment. Die Opfer glichen sich in physischer Hinsicht so sehr – man musste viel Zeit aufwenden, um sich so ähnlich sehende Frauen herauszusuchen. Vor ein paar Jahren hatte sie einen Fall gehabt, in dem der Mörder seinen Opfern vor dem Tod identische Perücken aufsetzte. Aber in diesem Fall waren die Haare echt, so ebenholzfarben wie Rabenschwingen, lang und dick. Definitiv keine Perücken.

Mit einem Seufzen wandte sie sich wieder den Treffern aus CODIS zu, druckte die Deckblätter eines jeden Mordes aus, legte eine neue Akte an, bezeichnete sie mit „Schneewittchen DNA/CODIS“ und ging den langen Flur zum Büro ihres Vorgesetzten hinunter. Sie war die leitenden Profilerin in diesen Morden, sie musste ihre Funde präsentieren. Dieser Fall war ihrer. Ihre Zukunft. Ihr Erfolg.

Stuart Evanson hatte die BSU übernommen, nachdem Baldwin gegangen war. Er berichtete an Garrett Woods, den Boss der Critical Incidence Response Group, der Kriseninterventionsabteilung innerhalb des FBI. Evanson besaß Macht und Einfluss, aber nicht so viel, wie er es gerne hätte. Woods war der echte Star, Mentor des großen Profilers John Baldwin. Woods eilte der Ruf voraus, ein kluger, erfahrener Agent zu sein, der – wenn er nicht aufpasste – bald das gesamte Bureau unter seiner Leitung hätte. Charlotte konnte ihn überhaupt nicht leiden. Er hatte sie zugunsten Evansons übergangen, nachdem Baldwin weg war. Damals hatte er es auf die Beziehung geschoben, die sie und Baldwin gehabt hatten, aber Charlotte wusste, dass Baldwin Woods gegenüber klargemacht hatte, dass sie die Stelle nicht bekommen sollte. Sie wusste nicht, was sie mehr getroffen hatte, das Ende ihrer Beziehung oder die Tatsache, dass er in der Folge ihre Karriere zerstört hatte.

Evanson hatte erst vor ein paar Monaten Baldwins Platz eingenommen. Sie erinnerte sich noch lebhaft an diesen Tag. Baldwin hatte angekündigt, dass er der BSU, dem FBI und allem, was er kannte, den Rücken kehrte, um Vater-Mutter-Kind mit der Leiterin der Mordkommission aus Nashville zu spielen, die er bei einem Fall kennengelernt hatte. Die Nachricht hatte Charlotte bis ins Mark erschüttert. Sicher, Baldwin war zu dem Zeitpunkt schon eine ganze Weile nicht mehr aktiv gewesen; nach einem Schusswechsel mit einem Verdächtigen, bei dem drei Agents getötet worden waren, hatte er eine längere Auszeit genommen.

Sie war damals bei ihm gewesen. Aber er hatte sich nicht Trost suchend an sie gewandt. Stattdessen war er aus der Stadt geflüchtet, nach Nashville zurückgekehrt und hatte versucht, sich dort zu Tode zu trinken. Dann hatte er Taylor Jackson kennengelernt, sich selber aus dem Sumpf gezogen, einen riesigen Fall gelöst und war triumphierend in die BSU zurückgekehrt, die sich freute, ihren goldenen Jungen wiederzuhaben. Im Zuge dieser Ereignisse war Charlotte irgendwie in Vergessenheit geraten.

Baldwins Pläne, sich zur Ruhe zu setzen, waren jedoch torpediert worden. Das Bureau war nicht gewillt, ein Talent wie ihn für immer gehen zu lassen. Für ihn wurde eine ganz besondere Ausnahme gemacht. Er bekam seinen eigenen Laden, ungestört von den neugierigen Blicken Quanticos, aber trotzdem noch eine Abteilung des FBI. Er tat die normale Arbeit der BSU, allerdings ohne die Beschränkungen, die ihnen die Regierung normalerweise auferlegte. Inzwischen arbeitete er mit der Außenstelle in Tennessee zusammen.

Stuart Evanson war also zum Leiter ernannt worden, doch anstatt nun Charlotte voller Dankbarkeit zu seiner Stellvertreterin zu berufen, hatte er sie in die Abteilung Training abkommandiert. Hier musste sie die Symposien zusammenstellen, die die BSU immer wieder für die Strafverfolgungsbehörden abhielt. Als ob es ihn überhaupt nicht interessierte, dass sie einen Doktortitel von der Georgetown University hatte, seit fünf Jahren unermüdlich für die BSU schuftete und nach jedem jährlich stattfindenden Personalgespräch befördert worden war. Er wollte, dass sie die „Sprecherin“ ihrer Einheit war. Scheiß was drauf. Sie wollte an Fällen arbeiten, nicht Möchtegern-Profiler aus Sonstwo anlernen.

Evanson war ein machthungriger Mistkerl, und wie die meisten Mistkerle, die sie kannte, sehnte er sich verzweifelt nach einem Stück von Charlottes Kuchen. Charlotte hatte ihm sehr deutlich zu verstehen gegeben, was sie zu tun bereit wäre, wenn er ihr die Stelle als Stellvertreterin gäbe, die ihr ihrer Meinung nach ohnehin zustand. In dem Versuch, sich ihrer guten Mitarbeit zu versichern, hatte er sie innerhalb von Wochen „befördert“ und sie zur Nummer zwei in der BSU gemacht. Deputy Chief. Leitender Profiler, das war das, was sie war. Sie hätte der Chief sein sollen, aber für den Moment ließ sie es auf sich beruhen. Dennoch ging sie sicher, Evanson ab und zu einen Hauch dessen, was möglich wäre, erahnen zu lassen.

Auf der anderen Seite der Tür hörte sie die in Wut und Frust erhobene Stimme ihres Chefs, aber davon ließ sie sich nicht stören. Sie hatte ein Händchen dafür, selbst die aufgeladensten Situationen zu entschärfen. Nach einem Blick auf die Uhr gab sie ihm weitere dreißig Sekunden, um sich auszutoben, dann richtete sie ihr dunkelbraunes Haar und klopfte einmal hart an die Tür. Sie öffnete sie und betrat das Büro ihres Chefs.

„Es ist mir scheißegal, was der Präsident sagt. Es wird so gemacht und nicht anders.“ Er knallte den Hörer auf die Gabel und schaute dann Charlotte an, die ganz ruhig im Türrahmen stand. Jeden anderen Agent hätte er alleine für die Dreistigkeit, an seine Tür zu klopfen, während er mit dem Weißen Haus telefonierte, gefeuert. Er hatte einen aufbrausenden Charakter und war für seine Wutanfälle bekannt. Aber mit Charlotte, das war eine andere Geschichte, und das wusste sie.

Beim Eintreten reichte sie ihm die Akte, die mit dem roten Stempel für höchste Wichtigkeit markiert war.

„Wir haben eine Unregelmäßigkeit.“

„Charlotte, könnten Sie vielleicht erst einmal Guten Tag sagen? Fragen, wie es bei mir so läuft?“

Stuart Evanson lehnte sich in seinem Stuhl zurück, wobei er die Ecken seines Nadelstreifenanzugs zerknitterte. Warum er nie sein Sakko auszog war Charlotte ein Rätsel. Vielleicht dachte er, dass er professioneller aussah, wenn er immer komplett angezogen war, aber sie vermutete eher, dass er Schweißflecken verbergen wollte, und war ihm dafür sehr dankbar. Es gab nichts, was sie mehr anwiderte.

„Sir, soweit ich sagen kann, läuft Ihr Tag nicht sonderlich gut.“

„Unverschämtheiten bringen Sie nicht weiter, meine Liebe.“

„Danke, Sir. Ich versuche im Moment auch gar nicht, weiterzukommen. Ich bin nur hier, um Ihnen eine auffällige Anomalie zur Kenntnis zu bringen.“

„Die da wäre?“

„Wenn Sie sich die Akte anschauen würden, Sir, würde es Ihnen glaube ich schnell ersichtlich.“

Evans schenkte ihr einen undeutbaren Blick und klappte die Akte auf. Charlotte beobachtete, wie sich seine buschigen Augenbrauen erst zusammenzogen und dann bis unter den Haaransatz nach oben hoben. Hab ich doch gesagt, dachte sie.

„Ist das sicher?“, fragte Evanson.

„Ja. Die Polizei von Nashville hat diese Information noch nicht vorliegen.“

Evanson war offensichtlich in einer ernsthaft schlechten Stimmung. Er entließ Charlotte ohne weitere Höflichkeitsfloskeln und hatte bereits sein Telefon in der Hand. „Kümmern Sie sich drum. Erstatten Sie mir Bericht, sobald Sie mehr dazu haben. Bringen Sie die Teams sofort auf den neuesten Stand.“

„Ja, Sir. Wird Dr. …“ Sie hielt inne, weil sie sich der Antwort sicher war. Es wäre nicht gut, zu gespannt zu wirken. Es machte das Gerücht die Runde, dass John Baldwin der Nashville Police im Fall des Schneewittchenmörders half und sein Außenbüro hinter den Kulissen bereits unglaublich aktiv war. Auf irgendeine Art hatte er diesen Fall schon immer gehabt. Von ihr würde verlangt werden, direkt mit ihm zusammenzuarbeiten, genau wie sie es wollte.

„Vergessen Sie meine Rede, Sir. Ich melde mich wieder.“ Evanson gab nur ein Grunzen von sich, er hatte sie bereits ausgeblendet. Charlotte drehte sich um und verließ das Allerheiligste. Verdammt noch mal, was hatte sie sich nur gedacht? Das war die Art von Sorglosigkeit, die sie nur verletzten würde. Wieder einmal.

Zurück an ihrem Schreibtisch, rief sie die Nashville-Akte auf.

Während Charlotte anfing, zu arbeiten, erfüllte sie das befriedigende Gefühl, dass sie kurz davorstand, eine sehr glückliche Frau zu sein. Mochte man es Instinkt, Vorahnung oder was auch immer nennen. Sie hatte den Lauf der Dinge so nicht geplant, aber vielleicht war das auch gut so. Das hier war groß genug, um sich die ungeteilte Aufmerksamkeit von Dr. John Baldwin zu sichern. Ihn den Klauen der kleinen Löwin zu entreißen, in die er sich begeben hatte.

Wenn sie ihre Karten richtig spielte, würde er zu ihr zurückkommen. Sie rang einen Augenblick mit sich selbst. Entschied dann, dass es früher oder später sowieso dazu kommen würde. Sie wählte die Vorwahl 615, tippte dann die restlichen Nummern ein und kaute gedankenverloren auf ihrem Stift. Ihr Moment war gekommen.