23. KAPITEL

Taylor und Baldwin saßen dicht nebeneinander und versuchten, die letzte halbe Stunde Revue passieren zu lassen. Es war durchaus im Bereich des Möglichen, dass der Mann, der an diesem Abend und den anderen vorher das Control besucht hatte, überhaupt nicht ihr Killer war. Aber Taylor hatte ihn in diesem einen Moment etwas so Bösartiges, so Schreckliches ausstrahlen gespürt, dass sie nicht aufhören konnte, an ihn zu denken.

Still und leise war eine Kriminaltechnikerin gekommen. Wenn das hier das Revier des Mörders war, wollten sie nicht zu viel Aufmerksamkeit damit erregen, dass sie ihm auf den Fersen waren. Die Technikerin hatte Sams Arm sorgfältig untersucht, aber nichts gefunden. Der Mann hatte sein Bier mit drei Eindollarnoten bezahlt, die für weitere Untersuchungen konfisziert wurden, aber die Chancen, auf ihnen irgendwelche DNA-Spuren oder Fingerabdrücke zu finden, die auch noch vor Gericht Bestand hatten, gingen gen null.

Jerry der Barkeeper hatte sich als wahre Goldgrube erwiesen. Er erkannte alle vier vom Nachahmer des Schneewittchenmörders umgebrachten Frauen wieder. Alle vier waren irgendwann mal in seiner Bar gewesen. Endlich hatten sie ihren Anhaltspunkt. Taylor hoffte mit aller Macht, dass sie gerade einen Blick auf den Mörder geworfen hatte.

Ein Polizeizeichner versuchte nach Sams und Jerrys Angaben ein Phantombild zu zeichnen, aber das Ergebnis war zu vage. Es hätte jeder sein können. Ihr mysteriöser Fremder hatte nichts Ungewöhnliches an sich außer einen schlechten Haarschnitt. Zumindest nichts, an das Jerry oder Sam sich erinnern konnten.

Taylor war wütend auf sich. Sie war mit der Situation falsch umgegangen. Das Böse, das von diesem Mann ausging, hatte sie geradezu körperlich gefühlt. Vielleicht hatte er ihre Marke und Waffe gesehen und war deshalb abgehauen. Vielleicht bildete sie sich die ganze Sache auch einfach ein, und der Mann war einfach nur ein ganz normaler Gast. So angespannt wie sie war, war das nicht zu weit hergeholt.

Sie stand an der Bar und war kurz davor, ein Amstel light herunterzustürzen, als die Kriminaltechnikerin nach ihr rief.

„Lieutenant? Ich hab hier was.“

Sie ging zu der Frau hinüber, einer kleinen, etwas übergewichtigen Brünetten namens Ricki, die ein süßes Lächeln und ein freundliches Wesen hatte.

„Hey, Ricki, was gibt’s?“

Die Technikerin hielt ein Bündel Plastikhalme hoch. „Strohhalme. Und in alle sind Knoten gemacht worden.“

Taylor zog einen Latexhandschuh über und nahm Ricki das Bündel ab. Sie rief sich ein Bild von dem Mann in Erinnerung, wie seine Hände lose zwischen seinen Knien gehangen hatten. Vielleicht hatte er da die Strohhalme verknotet.

„Das ist perfekt. Danke, Ricki. Sichere sie für mich, ja? Das könnten wichtige Beweisstücke sein, also sei bitte vorsichtig.“

„Verstanden, Boss.“

„Warte, was habt ihr da?“ Baldwin kam auf sie zu und legte einen Arm um Taylors Schulter. Taylor lächelte.

„Zeig es ihm, Ricki.“

Baldwin studierte den Inhalt des durchsichtigen Plastikbeutels, der jetzt mit einem roten Beweissicherungskleber verschlossen war, sehr genau. „Ganz schön komplizierte Knoten.“

„Das kann man wohl sagen. Wenn sie zu denen von den Seilen passen, die wir im Labor haben, könnten wir da auf was gestoßen sein. Ricki, du kannst sie doch auch auf Rückstände testen, oder? Wir suchen nach dieser cremigen Substanz, die auf den früheren Opfern gefunden wurde.“

Taylor drehte sich zu Baldwin um, ihr Herz klopfte vor Aufregung. „Vielleicht. Vielleicht, vielleicht, vielleicht. Diese Knoten sind so anders, so einzigartig.“

„Das stimmt. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass sie für einen so präzise vorgehenden Mörder eine Spielerei, ein Zeitvertreib sind. Um etwas so Kompliziertes zu produzieren, braucht man Übung.“

„Er war total sauer, als diese Frau hereinkam und ohne einen Blick an ihm vorbeigerauscht ist. Der Mann, der da gesessen hat, ist daran gewöhnt, bewundert und umschwärmt zu werden. Wenn es der Nachahmungstäter war, wette ich, dass wir bald einen weiteren Mord haben. Was meinst du, wie viel Vorbereitungszeit braucht er inzwischen?“

Baldwin schaute sie unter erhobenen Augenbrauen an. „Vielleicht sollten wir aus dir doch einen Profiler machen. Wenn er nach einem bestimmten Zeitplan vorgeht, erfahren wir das erst, nachdem wir ihn gefangen haben. Aber wenn er einfach nur durch die Gegend streift, könnte er sich ein neues Opfer schnappen, das Mädchen töten, was er gefangen hält, oder was auch immer. Er denkt nicht klar. Er ist wütend. Das passt nicht zu dem Originalprofil, dass dieser Mörder sehr methodisch und gewissenhaft vorgeht. Er hat heute bereits zwei Frauen getötet. Drei in dieser Woche. Wenn er jetzt nicht satt ist, wird er es niemals sein. Er hat das Muster der Schneewittchenmorde komplett verlassen und arbeitet auf eigene Faust. Aufhören wird er jetzt ganz bestimmt nicht mehr. Wir müssen ihn entweder fassen oder töten.“

Taylor erinnerte sich an die Silhouette des Mannes, die angespannte Art, in der er Raum eingenommen hatte, und schüttelte sich. „Um Letzteres kümmere ich mich gerne.“

Sie blieben noch eine weitere Stunde in der Bar und versuchten, sich so normal wie möglich zu geben, während die Kriminaltechnikerin heimlich den gesamten Raum absuchte. Es war spät, und Taylor war müde. Als Baldwin ihr anbot, sie nach Hause zu bringen, leistete sie keinen Widerstand.

Sie ließ sich von ihm ins Bett bringen und akzeptierte einen Kuss auf die Stirn, wie ein Kind, dem gerade eine Gutenachtgeschichte vorgelesen worden war.

Bevor er das Zimmer verließ, die Hand schon auf dem Lichtschalter hatte, rief sie ihn noch einmal. „Ich soll morgen irgendetwas machen. Mädchenkram. Sam-Kram.“

„Hochzeitskram?“

Bei dem Wort Hochzeit machte sich kurzfristig ein Gefühl der Panik in ihrem Brustkorb breit. Wie albern. Sie scheute sich nicht, Mördern ins Gesicht zu schauen, hatte aber Angst, vor einer Gruppe von Menschen zu stehen? Die Entscheidung war gefallen, die Einsätze getätigt, das Spiel konnte beginnen.

„Ja, Hochzeitskram.“

„Also steht der Termin noch?“

„Komm mal her.“ Er trat zu ihr ans Bett. Sie setzte sich auf, schob die Decke bis zur Taille zurück und zog ihn in eine feste Umarmung.

„Ja, der Termin steht noch.“