3. KAPITEL

Nashville, Tennessee

Montag, 15. Dezember

23:00 Uhr

Baldwin ließ sie am Büro raus, damit sie die losen Enden des Tages zusammenbinden und ihren Truck mit nach Hause nehmen konnte. Sie gähnte, als sie das Licht im Büro anschaltete. Das Mordbuch lag auf ihrem Schreibtisch, die einzelnen Abschnitte sorgfältig mit Reitern gekennzeichnet: Tatortfotos, Beweise, Protokolle und Berichte der verschiedenen Officer, die am Tatort gewesen waren. In der eisigen Kälte der letzten Nacht hatten sie drei Stunden gebraucht, um den Tatort an der Bicentennial Mall aufzuräumen. Wobei der konstant fallende Schnee keine große Hilfe gewesen war. Aber sie waren kein Risiko eingegangen: Jeder noch so kleine Beweis war aufgesammelt, eingetütet und beschriftet worden.

Eine schnelle Überprüfung ihrer E-Mails zeigte nichts, was nicht bis zum Morgen warten konnte. Sie rang einen Moment mit sich. Sollte sie die Fallakte jetzt noch einmal durchlesen oder nach Hause gehen und versuchen, etwas Schlaf zu bekommen? Der Gedanke an ein warmes Bett, einen warmen Körper neben sich, war zu verlockend. Taylor schnappte sich das Mordbuch und verließ das Büro.

Die Fahrt nach Hause war gruselig. Die Luft klirrte in der eisigen Brise. Schnee fiel in Schwaden vom Himmel; sie fühlte sich, als wenn sie direkt durch die Wolken führe. Es waren nur wenige Autos auf den Straßen, und der mangelnde Verkehr ließ Taylor sich einsam fühlen. Seitdem der Schneewittchenfall aufgekommen war, hatte sie keine Zeit gehabt, einen klaren Kopf zu bekommen. Zwei Monate mit toten Mädchen, angespannter Erwartung, Rückschlägen und falschen Spuren. Der Nervenkitzel der Jagd.

Dieser Gedanke ernüchterte sie. Das Mädchen, das letzte Nacht in einen Leichensack gesteckt und weggefahren worden war, um obduziert zu werden, hatte den Nervenkitzel des Gejagtwerdens sicher nicht genossen.

Der Schnitt über der Kehle des Mädchens stieg vor Taylors Augen auf, und beinahe hätte sie ihre Abfahrt verpasst. Ohne nachzudenken, trat sie hart auf die Bremse, doch der nasse, glatte Schnee weigerte sich, ihr zu helfen. Sie musste hart arbeiten, um das Auto wieder auf die Spur zu bringen. Als sie die Kontrolle zurückerlangte und die Ausfahrt hinunterfuhr, rauschte ihr das Blut in den Ohren. Ihr Gehirn weigerte sich, sich zu beruhigen. Die Bilder vom Tatort kamen ihr wieder in den Kopf, und sie machte genau das, was sie hatte vermeiden wollen – sie dachte über den Fall nach. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie erst nach dem Anhalten merkte, wohin sie gefahren war. Zu ihrem alten Haus.

Kopfschüttelnd lachte sie darüber. Es war nur natürlich – sie waren erst vor ein paar Wochen umgezogen, und sie hatte noch immer Kisten in der Hütte stehen, die sie noch ins neue Haus bringen musste. Bei dem Gedanken an noch mehr Kisten stöhnte sie auf. Die Hütte sah nicht so aus, als wenn sie viel Platz bot, aber als Taylor angefangen hatte, zu packen, schienen die Dinge ihres Lebens mit jedem Tag mehr zu werden.

Taylor legte den Rückwärtsgang ein und fuhr wieder auf die Straße, weg von ihrem alten Leben. Ihr Telefon klingelte. Sie machte den Lautsprecher an. Sams übersprudelnde Stimme tönte aus dem Lautsprecher.

„Es ist das gleiche Zeug.“

„Jesus, du bist aber noch spät auf. Warum klingst du so fröhlich? Das bedeutet doch, dass sie definitiv sein viertes Opfer ist, oder?“

„Ich habe genug, um es durch den Massenspektrometer laufen zu lassen. Endlich bekommen wir eine Vorstellung davon, was das wirklich ist.“ Der Massenspektrometer hatte ihnen in den vorherigen Fällen nicht weiterhelfen können. Aber jetzt könnten sie vielleicht herausfinden, womit sie es zu tun hatten.

„Das ist großartig, Sam. Bleib nicht mehr zu lange auf.“

Als sie auf die richtige Straße einbog, schlängelte sich das Bild der klaffenden Wunde in Janesicles Kehle wieder an die Oberfläche.

John Baldwin war relativ zufrieden. Er hatte seinen letzten Fall abgeschlossen, seine Außendienststelle stand unter der Kontrolle eines stellvertretenden Direktors. Es hatte noch keine Anweisungen gegeben, den Schneewittchenfall zu übernehmen. Er hatte nichts Offizielles zu tun außer zu heiraten. Seine dringendste Sorge galt im Moment nur Taylor.

Im Kamin brannte ein Feuer, und sie stand keine zwei Meter davon entfernt mit einem Becher heißer Schokolade in der Hand, offenbar um das taube Gefühl in ihrem Körper loszuwerden. Beim Heimkommen waren ihre Hände beinahe blau gefroren gewesen. Er betrachtete ihr Profil, während sie aus dem Fenster schaute – ein Bild von höchster Konzentration. Sie war meilenweit entfernt. Ein seltener Schneesturm hatte die Stadt im Griff. Der Schnee stürzte nur so vom Himmel und sammelte sich so schnell auf den japanischen Ahornbüschen im Vorgarten, dass sie sich wie alte Männer unter der Last beugten.

Trotz der späten Stunde sprach eine körperlose, männliche Stimme tief und träge.

„Hören Sie sich die folgenden Sätze an. Was würden Sie darauf erwidern? Buon giorno, signora. Lei parla l’inglese? Dove siamo? Come si dice ‘Das ist die Piazza San Marco’ en italiano?

„Hey, das geht viel zu schnell. Und dabei sind wir noch bei den einfachen Sachen.“ Taylor drückte den Ausknopf auf der Fernbedienung des CD-Players, schüttelte den Kopf und lächelte.

„Was ist los, cara?“, zog er sie zärtlich auf.

Taylor schaute ihren Verlobten aus zusammengekniffenen Augen an. „Vaffanculo.“ Mit einem Grinsen spuckte sie das Wort aus. Baldwin sah sie überrascht an.

„Wo hast du das denn gelernt?“

„Gefällt es dir? Ich hab noch mehr davon.“

Sie zeigte dieses verrückte, sexy Lächeln, das so viel versprach. Ihre grauen Augen blitzten. Er spielte mit. „Also wirklich, Taylor, es gibt keinen Grund, so zu reden. Zumal du dir da drüben richtig Ärger einfängst, wenn du solche Sachen sagst. Wie kommt es, dass du Probleme mit den einfachsten Sätzen hast, aber fluchen kannst wie ein italienischer Hafenarbeiter? Nein, antworte lieber nicht.“ Er hielt eine Hand hoch. Taylor hatte die Lippen geschürzt, bereit, wie er annahm, ein weiteres charmantes Schimpfwort zum Besten zu geben.

„Entspann dich, Liebste. Du weißt mehr, als du glaubst. Ich habe dich beobachtet, wie du seit Wochen diese CDs durcharbeitest. Vertrau mir, wenn wir erst einmal da sind, wirst du innerhalb weniger Tage fließend Italienisch sprechen. Im Moment bist du nur zu abgelenkt.“

Er ging zur Anlage hinüber und schaltete sie aus. Dann schaute er sich im Wohnzimmer um – eine großzügige Sammlung von gewölbten Bögen und freigelegten Balken. Ihr neues Zuhause ähnelte den Häusern, in denen er und Taylor aufgewachsen waren. Elegant und luftig, weiß gekalkte Wände mit klaren Akzenten. Sie beide hatten sich beim ersten Anblick in das Haus verliebt. Von außen war es mit den für diesen Teil des Südens so typischen Ziegelsteinen verkleidet. Sie hatten viel mehr Platz als Möbel. Der Plan war, die weiteren Möbel und Kunstgegenstände auf ihrer Reise zu kaufen. Und natürlich ihren wachsenden Weinkeller weiter aufzustocken.

Da drüben. In Italien. Italia. Sie hatten drei Wochen für ihre romantischen Flitterwochen eingeplant, und Taylor war fest entschlossen, die Sprache zu lernen, bevor sie abflogen. Er liebte es, sie beim Lernen zu beobachten, zu sehen, wie die Sätze von ihren Lippen purzelten.

„Abgelenkt. Wie kommst du denn auf die Idee?“ Sie schaute wieder aus dem Fenster und starrte auf die Winterlandschaft, die sich über ihren neuen Vorgarten, die Sackgasse und die gesamten Häuser in der Nachbarschaft erstreckte. Es gab keine Trennlinien mehr. Alles war weiß. Vierzig Zentimeter Weiß.

Und ein Mörder lief da draußen herum, plante seinen nächsten Mord. Verdammt. John sah, wie ihre Laune sich veränderte, von spielerisch über beunruhigt zu ernst.

„Vier neue Morde, Baldwin. Sams Anruf hat es mehr oder weniger bestätigt. Der Schneewittchenmörder ist wirklich zurück. Oder ist es ein Nachahmer? Wenn, dann ist er verdammt gut. Und wir stehen da wie eine Horde Affen, die einen Football vögelt.“

Baldwin trat hinter Taylor und schlang seine Arme um ihre Taille. Leise flüsterte er ihr ins Ohr: „Siete il mio amore. Non posso attendere per spendere il resto della mia vita con voi. Avete la faccia di un angelo. Brauchst du eine Übersetzung?“

Sie wirbelte in seinen Armen herum, ihr Atem strich heiß über seine Wange. Offensichtlich hatte sie den Sinn seiner Worte verstanden. Er zwinkerte ihr zu. Es wirkte doch jedes Mal.

„Du bist eine so einfache Frau, Taylor. Kaum murmelt man ein paar Worte in einer fremden Sprache, schon kommst du und reibst dich an mir wie eine Katze.“ Er streifte ihre Lippen in einem Kuss und lächelte, als sie ihm in die Lippe biss.

„Ich mag einfach sein, Dr. Baldwin, aber wenigstens bin ich nicht billig.“ Sie wand sich aus seinen Armen und boxte ihn spielerisch in die Schulter. „Glaubst du, dass die Straßen morgen früh geräumt sind?“

Baldwin schaute aus dem Fenster. „Ich hoffe es.“

Taylor ließ ihren Nacken knacken. Schnee. Mord. Ihre grauen Augen schauten ausdruckslos – wenn die Straßen morgen früh nicht frei wären, würde sie auch jemanden umbringen.

Baldwin schlang einen Arm um ihre Taille und zog sie an sich. „Wir könnten …“

„Nein, könnten wir nicht. Das war die Abmachung. Ich will, dass unsere Hochzeitsnacht etwas Besonderes wird. Du hältst es noch ein paar Tage aus. Alles, worum ich gebeten habe, ist, dass wir versuchen, eine Woche abstinent zu sein. Eine Woche ist ja nun wirklich nicht zu viel verlangt.“

Er lächelte und zog sie noch näher. „Aber wir haben doch schon …“ Er küsste sie sanft, schmeckte Schokolade, aber sie kämpfte sich aus seinen Armen frei. Schwer atmend schob sie ihn von sich und schenkte ihm ein schwaches Lächeln.

„Stopp. Nur noch vier Tage. Okay? Lass uns einfach diese Woche hinter uns bringen, und eh du dich versiehst, finden wir uns in der Horizontalen wieder. Ich kann im Moment nur an nichts anderes denken als an das arme Mädchen.“

Baldwin richtete seinen Reißverschluss und lächelte sie verrucht an. „Lass mich dir helfen, zu vergessen.“

Taylor lag im Bett und merkte, dass sie trotz geschlossener Augen hellwach war. Es war ein alter Trick, den sie schon seit Jahren nutzte. Sie hielt ihre Augen geschlossen, als wenn sie schlief, aber hinter ihren geschlossenen Lidern sah sie alle Einzelheiten. Auf diese Art erlaubte sie ihrem Gehirn, das zu verarbeiten, was sie wach hielt, fühlte sich aber trotzdem erholt, wenn sie dann irgendwann aufgab und aufstand. Normalerweise funktionierte es.

Sie öffnete die Augen und nahm das gedämpfte Licht im Zimmer in sich auf. Baldwin lag auf seiner linken Seite, den Rücken ihr zugewandt, und schlief. Das erkannte sie anhand der kleinen, flüsternden Laute, die aus seiner Richtung kamen. Der Glückliche. Seit sie in ihr neues Haus gezogen waren, schlief er nachts wie ein Baby. Es mochte an dem Bett liegen – ein Kingsize-Schlittenbett, das ihnen viel mehr Platz bot, als sie eigentlich brauchten. Sie konnten sich jeder ausstrecken und mussten sich keine Sorgen machen, den anderen aus Versehen anzustoßen. Sie vermisste ihr altes Bett, allerdings nur kurz. Wem wollte sie was vormachen? Sie liebte es, sich zwischen die knisternden Laken zu kuscheln, ihre überlangen Beine auszustrecken und immer noch ausreichend Platz um sich herum zu haben.

Genau das tat sich jetzt auch. Sie versuchte, die Spannung in ihren Schultern zu lösen, indem sie sich streckte. Vielleicht würde ein kleines Spiel ihre Gedanken von dem Fall ablenken. Es gab keinen Grund, hier herumzuliegen und Löcher in die Luft zu starren.

Der Billardtisch stand in dem Raum über der für drei Autos ausgelegten Garage. Taylor verließ das Schlafzimmer und schloss die Tür mit einem ganz leisen Klicken hinter sich. Ein Nachtlicht erleuchtete den Weg. Sie ging den langen, breiten Flur entlang, an leeren Zimmern vorbei. Zimmer, die ein Versprechen bergen sollten, sie aber mit ihrer Leere nur verspotteten. Heirat. Babies. Klaffende Münder von schwarzhaarigen, rotlippigen Mädchen.

Zur Hölle damit. Sie joggte die letzten Stufen der Treppe hinunter und stand in dem Raum, der einen Großteil ihres alten Lebens beherbergte.

Sie betätigte den Schalter, und der Raum füllte sich mit sanftem, gelbem Licht. Leise schloss sie die Tür hinter sich, ging zum Pooltable, nahm das Laken herunter und warf es achtlos auf die Couch. Dann trat sie wieder an den Tisch, positionierte die Kugeln und nahm sich einen Augenblick, um sich noch einmal zu strecken. Die Spannung in ihrem Nacken löste sich mit einem hörbaren Knacken. Besser. So gelockert, nahm sie den Queue und schoss eine Kugel nach der anderen in die vorgesehene Tasche.

Sie ignorierte die Gesichter an den Wänden. Sie hatte den Billardraum in eine Art Büro verwandelt, einen Ort, an dem sie ihre Nächte verbringen und über die Morde nachdenken konnte, während sie versuchte, zu entspannen. Elizabeth Shaw, Candace Brooks und Glenna Wells lächelten auf sie herab. Zumindest waren sie schnell identifiziert worden. Dieses neue Opfer war noch namenlos.

Klack – Schneewittchen.

Klack – Janesicle.

Klack, klack, klack – Hochzeit, Nachahmer, vier tote Mädchen.

Die Spannung ließ nach, und sie fand ihren Rhythmus. Sie würde diesen Kerl kriegen. Das tat sie immer.

Sie war bei ihrem vierten Spiel, als die Tür geöffnet wurde.

Baldwin stand im Türrahmen, die Haare zerzaust, Abdrücke vom Kissen auf der linken Wange. Er stieß einen kleinen Pfiff aus, und sie schmolz dahin. Er sah so unglaublich, unwiderstehlich süß aus, dass Taylor nicht anders konnte. All die bösen Gedanken verließen ihren Kopf. Die Sorgen, die Frustrationen verschwanden. Sie stellte den Queue in den Halter und ging zu Baldwin hinüber. Wortlos nahm sie seine Hand und führte ihn zurück ins Schlafzimmer.