26. KAPITEL
Nashville, Tennessee
Samstag, 20. Dezember
14:00 Uhr
„Hat irgendjemand meine verdammten Schleier gesehen?“
Taylor drehte sich im Kreis und schüttelte frustriert den Kopf. Sie schob einen Stapel Kartons auseinander, hob Zeitschriften an, öffnete Schubladen. Kein Schleier. Hier gab es so viel Weiß, ihr Kleid, ihre Schleppe, die Blumen, die Stühle – einen Moment dachte sie, der Schneesturm wäre nach drinnen gekommen und hätte es sich in ihrem Hotelzimmer gemütlich gemacht.
Niemand antwortete auf ihre Frage. Wo zum Teufel konnte er sein? Sie hörte die Zwillinge Maddy und Mat schreien und Sam, wie sie versuchte, die beiden zu beruhigen. Simons Stimme hörte sie auch, aber Taylor konnte nicht verstehen, was er sagte. Sie warf einen Blick auf die Uhr. In weniger als fünfundvierzig Minuten sollte sie in der Kirche den Gang zum Altar hinunterschreiten.
Sie gab die Suche auf und ließ sich auf den Boden fallen. Ihr Kleid bauschte sich um sie wie ein Rauchpilz. Sie konnte sich gut vorstellen, was für einen Anblick sie gerade bot, dahingestreckt auf dem Fußboden, aber im Moment war ihr das vollkommen egal. Sie war hundemüde, und die ganze Aufregung wurde ihr zu viel.
Das Weinen von einem der Babies wurde lauter, und Taylor schaute in dem Moment auf, in dem Sam mit einem Kind auf dem Arm das Zimmer betrat. Ihr bodenlanges Taftkleid raschelte bei jedem Schritt. Über die Schulter hatte sie sich ein Badehandtuch geworfen wie eine Toga, um ihr Kleid vor möglichen Fremdeinflüssen, die jeden Moment oben oder unten aus ihrer Tochter kommen konnten, zu schützen. Sie schenkte Taylor ein schwaches Lächeln.
„Kolik. Perfektes Timing, was? Gott, es tut mir so leid, T. Was machst du da eigentlich auf dem Boden? Du wirst dein Kleid ruinieren.“
„Ist mir egal. Ich will sowieso nicht.“
Sam ignorierte sie. „Steh auf und lass uns dich zu Ende fertig machen.“
„Nein. Ich bin den Trubel leid. Ich will nicht vor all diesen Leuten verheiratet werden. Meine Haare sind fünf Kilometer hoch. Der Friseur war ein Idiot. Ich sehe aus wie ein Baiser. Ich würde lieber durchbrennen. Und ich kann meinen Schleier nicht finden.“
Sam biss sich auf die Lippe und versuchte, nicht zu lachen. Ohne Erfolg. Nachdem Taylor sie einen Moment unheilvoll angestarrt hatte, fiel sie in das Lachen mit ein. Gereiztheit war bei ihr immer das erste Anzeichen für Stress.
Sam schwebte durch das Zimmer und zog den Schleier aus seinem Überzug. „Er ist gleich hier, auf dem Kleiderbügel, auf dem auch dein Kleid gehangen hat. Deine Haare wurden so frisiert, dass wir den Schleier darin feststecken können, und sie sehen großartig aus. Willst du den Schleier jetzt schon dranmachen oder erst in der Kirche?“
Taylor verdrehte die Augen und stand auf. „Lieber erst in der Kirche, sonst verknittere ich ihn noch in der Limo. Ich wollte nur sichergehen, dass ich ihn nicht vergesse.“ Sie musterte das zusammengelegte Tuch; es sah aus wie ein Kilometer Stoff. „Verdammt, Sam, wie lang ist das verfluchte Ding?“
Maddy stimmte ein ohrenbetäubendes Geheul an, aber Sam antwortete trotzdem: „Ein bisschen länger als dein Kleid, damit er hinter dir herschwebt und dich einfach fantastisch aussehen lässt. Und jetzt hör bitte auf, okay? Ich muss mich kurz um dieses Mädchen hier kümmern.“
Ein weiterer Schrei entrang sich dem kleinen Wesen, ein wenig leiser als der vorhergegangene. Sams Gesicht verzog sich. Taylor tätschelte ihren Arm. „Geh und kümmre dich um sie, Süße. Ich komme schon klar. Ich bin nur nervös. Du tust jetzt, was du tun musst.“ Sam nickte und verschwand.
So, das war es jetzt also. Der Moment, von dem sie immer geträumt und nie erwartet hatte, dass sie ihn erleben würde. Ihre Gefühle waren stärker in Aufruhr, als sie gedacht hatte. Sich selbst, das wertvollste Geschenk, das sie schenken konnte, Baldwin zu geben, war ohne Zweifel ein kluger und vernünftiger Zug. Aber sie fragte sich trotzdem, warum sie dem hier zugestimmt und nicht auf einem ruhigen Strand irgendwo in der Einsamkeit bestanden hatte. Eine große kirchliche Hochzeit war nicht gerade das, was sie wollte, aber hier war sie nun. Die zwei Seelen in ihrer Brust standen in Flammen – die eine vor Nervosität, die andere vor Freude.
Ihre Aufgeregtheit war jedoch nicht das Einzige, was ihr Sorgen machte.
Sie zog das gefaltete Stück Papier aus dem BH. Trotz allem wollte sie an diesem Tag ein Stück von ihrem Vater bei sich haben. Sie konnte nicht sagen, warum. Doch anstatt ihre Gefühle zu analysieren, hatte sie akzeptiert, dass sie da waren, und entsprechend gehandelt. Der Zeitungsausschnitt war beinahe zwei Monate alt und schon ganz abgegriffen.
Vermisster Kapitalist aus Nashville vermutlich tot
St. Barthélemy, Französische Antillen (AP)
Die Suche nach dem Mann aus Nashville, der während eines Segeltörns vor St. Jean verschwunden ist, wurde zu einer Rückführungsaktion, nachdem ein Rettungsteam seine leere Yacht THE SHIVER gefunden hatte.
Die Rettungstrupps setzten die Suche am Montag fort. Bei dem Vermissten handelt es sich um Winthrop Jackson IV, 56, einen Industriellen, Unternehmer, Banker und verurteilten Verbrecher. Die Retter sagen, dass die Chancen, ihn nach zwei Tagen lebend zu finden, gering sind. Seine verlassene Yacht ist südlich vom Hotel Les îlets de la Plage in St. Jean auf Grund gelaufen; die beiden Dieselmotoren waren noch in Betrieb.
In diesem trockenen, unpersönlichen Ton ging der Artikel weiter: ein anonymer Reporter, der nur seine Arbeit machte. Taylor faltete das Blatt wieder zusammen und steckte es zurück in ihren BH: Win würde bei ihr sein, ob lebendig oder tot. Zwei Monate ohne ein Wort, seine Leiche war nie gefunden worden – es war einfach zu glauben, dass er tot war. Dass er ein paar Gin Tonics zu viel genossen hatte und über Bord gefallen war. Die französischen Behörden hatten ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie genau dieses Szenario für am wahrscheinlichsten hielten. Mit dem ihnen eigenen gallischen Flair hatten sie ihr die Schulter getätschelt und sie sich selbst überlassen. Sie kaufte es ihnen nicht ab. Er war ein zu erfahrener Segler, um sich zu betrinken und von seinem Boot zu fallen. Aber wenn er ein paar Drinks intus gehabt hatte und geschubst worden war …
Sie schaute noch einmal zur Uhr. Mist. Sie mussten los.
„Sam?“, rief sie. „Wir müssen gehen. Bist du so weit?“ Während sie sprach, ging Taylor zu dem anderen Raum der Suite. Die Babies weinten. Sam wechselte eine Windel, während Simon versuchte, einen Schnuller in Matts Mund zu stecken. Es herrschte totales Chaos. Sam schaute auf, und Taylor sah den Anflug von Panik in ihren Augen. Der Anfall der Zwillinge hätte in keinem ungünstigeren Moment kommen können.
Beim Anblick von Taylor in ihrem Hochzeitskleid verfiel Simon in ungewohntes Schweigen. Matt schrie lauter, während sein Vater den Schnuller nur Millimeter von seinem Mund entfernt hielt. Taylor hob eine Augenbraue, und er errötete, als er bemerkte, wie er seinen weinenden Sohn auf die Folter spannte. Schnell steckte er den Schnuller zwischen die zitternden Lippen des Babies und nickte Taylor dann zu.
„Hübsches Kleid, Babe. Du wirst die Schönste sein.“
„Danke, sehr freundlich von dir. Aber wir müssen jetzt los. Ich will nicht, dass Baldwin auf mich warten muss. Lass uns das endlich hinter uns bringen.“
Sie packten alles zusammen, was sie brauchten, steckten die schreienden Babies in die Kindersitze und verließen die Suite. Wie eine Karawane mit Simon als Schlusslicht trotteten sie den Flur entlang zum Fahrstuhl. Taylor warf dem Mann ihrer Freundin über die Schulter einen Blick zu und lächelte. Er brauchte Hilfe. Sie legte Sam eine Hand auf den Arm.
„Ich sag dir mal was. Willst du nicht lieber mit Simon zusammen zur Kirche fahren? Dann kannst du ihm helfen, die Babies zu beruhigen. Ich komme in der Limo auch gut alleine zurecht.“
Sam schüttelte den Kopf. „Nein. Das kann ich nicht machen.“
Dennoch spürte Taylor die Erleichterung, die ihre Freundin bei ihrem Vorschlag durchflutet hatte. „Doch, das kannst du. Mir tut es vermutlich auch ganz gut, noch ein paar Minuten alleine zu haben. Mich für das alles zu wappnen. Mich mental darauf vorzubereiten. Wie auch immer du es nennen willst. Ja, ein bisschen Zeit für mich wäre genau das, was ich jetzt gebrauchen könnte. Und die Fahrt dauert doch nur zehn Minuten. Wirklich, Sam, fahr du mit Simon zusammen.“
Sie hatten das Erdgeschoss erreicht und verließen den Fahrstuhl – weißer Satin und Seide flossen in das großzügige Hotelfoyer wie ein Fluss aus Eis. Einige Köpfe drehten sich zu ihnen um, Begeisterung zeigte sich auf den Gesichtern. Wer würde auch beim Anblick einer Braut an ihrem Hochzeitstag nicht lächeln?
Als sie die Tür erreicht hatten, war es abgemacht, dass Taylor alleine mit der Limousine fahren würde. Sam umarmte sie dankbar und wartete, bis Taylor sich und ihr Kleid im Fond des Wagens verstaut hatte. Als die Tür hinter ihr zugeschlagen wurde, tat Taylor den ersten tiefen Atemzug des Tages. Die Limousine war ganz in cremefarbenem, weichem Leder eingerichtet, und es herrschte eine wundervolle Stille. Was für ein Segen. Dankbar ließ sie sich in den Sitz sinken und schloss die Augen. Sie bekam kaum mit, wie das Fahrzeug vom Randstein ausscherte und in Richtung Kirche losfuhr.
Endlich alleine.
Taylor spürte das Adrenalin durch ihre Adern kreisen. Das war es jetzt, nun gab es kein Zurück mehr. Sie hoffte nur, dass sie nicht am Altar ohnmächtig würde. Großer Gott, ihre Hände zitterten. Was für ein toughes Mädel, bricht alleine bei dem Gedanken daran, vor so vielen Menschen zu stehen, glatt zusammen. Die ersten Anzeichen einer Panikattacke ließen ihr Herz schneller schlagen. Hör auf, rief sie sich so ernst sie konnte zur Ordnung. Er wird doch bei dir sein. Ein paar tiefe Atemzüge, und für den Moment war die Beklemmung verschwunden.
Sie öffnete die Augen und nahm die vorbeiziehende Stadt in sich auf, während die Limo durch die Innenstadt von Nashville fuhr.
Sie waren auf der Sixth Avenue, und der Fahrer bog nach Westen auf die Church Street ab. Vor der Bibliothek hielten sie an einer Ampel. Zu ihrer Rechten saßen Obdachlose in dem kleinen Park zusammen, der sich zwischen die Gebäude schmiegte, und suchten Schutz vor dem eisigen Wind. Ein Jogger überquerte die Straße und schaute verängstigt über seine Schulter, als würden die Obdachlosen ihn gleich wie eine Horde räudiger Hunde überfallen.
Sie waren schon am Morton’s vorbei. Zu ihrer Linken an der Eighth lag ein Sportgeschäft, der Ort ihrer ersten Schießerei. Der Besitzer war niedergeschossen worden, aber dank ihres schnellen Eingreifens hatte er überlebt. Der Verdächtige war nie gefasst worden. Nach nunmehr zwölf Jahren war der Fall immer noch offen. Inzwischen war der Besitzer des Sportgeschäfts eines natürlichen Todes gestorben. Neue potenzielle Opfer bedienten am Tresen.
Auf der rechten Seite tauchte das YMCA auf, und sie war überrascht festzustellen, wie viele Verbrechen auf diesem kleinen Straßenabschnitt passierten. Wie viel ihrer Geschichte als Cop hier geschrieben worden war. Genau hier hatte sie einen Mann verfolgt, die McLemore Street rauf, den Kugeln ausweichend, während er auf sie schoss, um ihr zu entkommen. Den hatte sie gefasst, und er war dafür verurteilt worden, einen zwölfjährigen Jungen am Eingang des YMCA erstochen zu haben.
Der industrielle Teil der Stadt breitete sich vor ihr aus, nackt in der Winterluft.
Als sie das NES-Gebäude passierten, verbesserte sich die Aussicht langsam. Die alten und neuen Gebiete der Stadt küssten einander und vertrugen sich, wurden zum Gesundheitsviertel, das vom Baptist Hospital beherrscht wurde. Sie flogen die Church Street hinauf auf den Elliston Place, bevor die Limo auf die West End Avenue abbog und sich stadtauswärts in Richtung Kirche bewegte. Taylor war versucht, dem Fahrer für die Tour durch ihre Vergangenheit zu danken, tat es dann aber doch nicht, sondern dachte lieber an das, was jetzt kommen würde.
Taylor konnte sich das Chaos, das sich in diesem Augenblick an der St.-George’s-Kirche entfaltete, nur vorstellen. Sie verlor sich gerade in einer idyllischen Vision davon, wie Baldwin zur Tür eilte, um sie zu empfangen und ihr zu sagen, dass sie diesen Teil einfach auslassen und direkt nach Italien fahren sollten, als ihr auffiel, dass die Limousine in West End abfuhr. Der idiotische Fahrer hatte die Ausfahrt zur 440 genommen, die kleine Querspange, die die Süd- und Westseite der Stadt umgab. Sie fuhren nach Norden; diese Straße führte in die genau entgegengesetzte Richtung zur St. George’s. Auch wenn Nashville einem Autofahrer die reizende Möglichkeit bog, sein Ziel auf fünfzehn verschiedene Arten schnell zu erreichen, würde dieser Umweg dafür sorgen, dass sie zu spät kam.
Taylor beugte sich vor und klopfte gegen das Fenster, das sie vom Fahrer trennte. Er ignorierte sie. Lachend merkte sie nun, dass das nur ein kleiner Streich war, der ihr gespielt wurde. Oh, wie witzig. Jetzt verstand sie auch, warum man sie nicht in ihr Büro gelassen hatte. Geschenke verpacken – wer’s glaubt, wird selig. Sie hatten diese kleine Eskapade mit dem Fahrer geplant. Sie stellte sich das feixende Gesicht jedes Einzelnen aus ihrem Team vor, und schwor Rache. Die Limo bog von der 440 auf die I-40 West ab. Gutes Timing. Sie klopfte noch einmal gegen die Trennscheibe.
„Okay, sehr lustig. Ich bin sicher, dass man Ihnen gesagt hat, Sie sollen mich ins Schwitzen bringen. Sie können Ihnen sagen, dass Sie die Mission erfüllt haben. Ich werde die Jungs umbringen, aber sie haben mich erwischt. So, wie wär’s also, wenn Sie jetzt die Abfahrt zur Forty-sixth Avenue nehmen und quer durch Charlotte und Sylvan Park nach West End fahren?“
Nichts. Sie schlug härter zu.
„Hey! Ich rede mit Ihnen. Lassen Sie sofort diese Scheibe runter. Der Witz ist gut, aber jetzt ist er auch vorbei. Entweder lassen Sie jetzt die Scheibe herunter, oder Sie halten auf der Stelle an.“
Endlich gehorchte der Fahrer. Er fuhr an den Fahrbahnrand und blieb dort stehen. Der Verkehr rauschte an ihnen vorbei. Die Glasscheibe rührte sich keinen Millimeter, und Taylor merkte, wie Wut sie erfasste. Das Spiel war nett gewesen, aber genug war genug.
Sie war ein Cop, um Himmels willen. Notfalls würde sie den verdammten Fahrer zwingen, die Trennscheibe herunterzulassen. Sie streckte die Hand nach dem Türgriff aus. Die Tür war versperrt. Wieder und wieder zog sie an dem Griff, aber ohne Erfolg. Sie rutschte über die breite Sitzbank und versuchte die andere Seite. Auch verschlossen.
Was zum Teufel war hier los? Ein Bus voller Kinder fuhr an ihnen vorbei, die glücklichen Gesichter klebten an den Fenstern, und mit großen Augen winkten sie der auf dem Seitenrand stehenden Limousine zu. Taylor erfuhr einen Moment Übelkeit erregende Klarheit. Ihr wurde bewusst, dass das hier kein Witz war. Ruhig rutschte sie auf die rechte Seite zurück und klopfte erneut an das Glas. Keine Reaktion.
Sie fluchte laut und ausgiebig. Die Wörter, die ihr dabei über die Lippen kamen, erstaunten sogar sie selbst und ließen sie sich ein wenig besser fühlen. Hier eingeschlossen im Fond der Limousine konnte sie nicht viel tun. Es gab eine Minibar, in der eine Flasche Champagner stand, aber jetzt etwas zu trinken schien nicht die beste Idee zu sein. Zur Rechten der Bar sah sie ein kleines grünes Licht. Eine Gegensprechanlage.
„Verdammt“, murmelte sie. Hatte er etwa alles gehört, was sie gesagt hatte? Sie rutschte auf der Sitzbank vor, drückte den Sprechknopf und bemühte sich um einen angemessenen Ton.
„Würden es Ihnen etwas ausmachen, mir zu sagen, was hier vor sich geht?“
Wieder keine Antwort. Fein. Wenn er es auf diese Art haben wollte, ihretwegen gerne. Sie wusste, dass die Trennscheibe nicht kugelsicher war.
Vorsichtig steckte sie ihre Hand in ihre Satinhandtasche. Dankbarkeit durchflutete sie, als sie sich an die Diskussion erinnerte, die sie mit Sam über das Mitnehmen dieses dummen Dings gehabt hatte. Handtaschen waren einfach nicht ihr Fall. Sam hatte ihr jedoch versichert, dass sie etwas brauchte, in dem sie ein paar Kleinigkeiten unterbringen konnte. Taylor hatte nachgegeben, vor allem weil selbst sie wusste, dass es nicht angebracht war, auf dem Gang zum Altar ein Wadenholster mit ihrer Waffe zu tragen. Die kleine .22er mit dem Perlmuttgriff, die sie vor ein paar Jahren auf einer Waffenausstellung gekauft hatte, passte perfekt in die Tasche. Mit einem kurzen Dank an die Macht, die sie dazu gebracht hatte, selbst an ihrem Hochzeitstag eine Waffe mitzunehmen, legte sie die Finger um den Griff. Dann zog sie die Hand vorsichtig heraus, um keine Aufmerksamkeit auf die Tatsache zu lenken, dass sie jetzt bewaffnet war. Es wäre aber egal gewesen, denn in diesem Moment fuhr die Trennscheibe herunter.
Der Fahrer drehte sich um und lächelte, und Taylor erlebte einen kurzen Moment, in dem sie dachte: Oh, ich habe mich geirrt, das ist doch alles nur ein Spaß.
Aus dem Augenwinkel nahm sie etwas Schwarzes wahr und warf einen Blick auf die Hand des Fahrers. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, und unwillkürlich hielt sie den Atem an. Ihr Gehirn registrierte die Situation. Es brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, aber als das Lächeln breiter wurde, wusste sie, dass sie jetzt ihre Waffe ziehen musste.
Die Bewegung war weich, elegant, blitzschnell. In einer so beengten Umgebung gab es keinen Grund, ausgiebig zu zielen. Sie musste nur den Hahn spannen und abdrücken. Ein kräftiger Druck, ein röhrender Knall. Aber ihr Körper zuckte. Schmerz schoss durch sie hindurch. Sie ließ die Waffe fallen, die Tasche, ihre Augen verdrehten sich in den Höhlen. Ihr letzter Gedanke durchfuhr sie wie ein elektrischer Schlag: Baldwin wird mich umbringen. Dann wurde es dunkel.
Der Fahrer betrachtete sein Werk mit einem Lächeln. Alles lief genau nach Plan. Jetzt musste er sie nur noch verschwinden lassen. Er wandte sich nach vorne, drehte mit seiner behandschuhten Hand den Schlüssel in der Zündung und fädelte sich wieder in den Verkehr ein. Nach kurzer Zeit bog er auf die große Straßenüberführung ab, die zum Briley Parkway führte. Ein paar Meilen weiter gab es einen Flughafen und ein Flugzeug. Das musste er erreichen, und dann wäre er frei. Alle Missionen erfolgreich ausgeführt. Sein Boss würde sehr zufrieden sein.