45. KAPITEL

Die Bibliothek war eine Sackgasse. Taylor durchsuchte die Archive, konnte aber kein Bild des Mannes finden, an den sie sich von der Party ihrer Eltern her erinnerte. Frustriert stieg sie in ihr Auto und fuhr durch die kalte Winterluft, um ihren Kopf freizukriegen. Bevor sie wusste, was sie tat, fand sie sich an dem Wohnblock wieder, in dem Frank Richardson umgebracht worden war.

Oh, wem wollte sie was vormachen? Sie wusste genau, was sie tat. Den Toten Ehre erweisen. Würde irgendjemand das auch für Charlotte tun? Gab es irgendwo eine Seele, die für sie Totenwache halten, für sie beten, sich liebevoll an sie erinnern würde?

Sie stieg die Treppe zu der Wohnung hoch und sah, dass die Tür offen war. Instinktiv zog sie ihre Waffe und drückte sich mit dem Rücken an die Wand, die linke Schulter an den Türrahmen gepresst. Dann lauschte sie eine Weile und steckte schließlich die Waffe weg. Es waren nur die Putzleute.

Was für ein grauenhafter Job. Immer dem Verbrechen hinterherreisen, das Chaos beseitigen, das entstand, wenn ein Leben endete, ein Herz aufhört zu schlagen, ob nun durch eigenes oder fremdes Verschulden. Sie waren die Verlorenen, die Unbemerkten und Unbekannten, die Kreaturen, die ständig die Zeichen des Todes ausradierten.

Taylor schaute in die Wohnung. Sie erkannte die Putzfrau, eine kräftige Frau namens Stella, die rauchte wie ein Schlot. Sie behauptete, der sie stets umgebende Tabakqualm würde den Geruch des Todes von ihrer Nase fernhalten. Taylor roch es an ihr, den unverkennbaren Duft von verbranntem Tabak. Ihr Mund wurde trocken, ein drängendes Verlangen nach einer Zigarette überfiel sie. Sie schüttelte den Kopf, um den Hunger zu vertreiben, trat dann in die Wohnung und grüßte Stella.

„Hey, Lieutenant.“ Stella klang wie ein Truckfahrer, aber Taylor wusste, dass sie eine süße, gottesfürchtige Frau war. Sie opferte ihre eigene Unbeschwertheit, nur um anderen Familien das Gefühl eines würdigen Abschlusses geben zu können, nachdem einer der Ihren gestorben war. Nun hielt sie im Schrubben inne.

„Was machen Sie hier? Ich dachte, der Tatort wäre für mich freigegeben worden.“

„Oh ja, ist er auch, Stella. Ich bin nur hier, weil ich … nun ja, weil ich mich verabschieden wollte, nehme ich an.“

„Sie kannten das Opfer, was?“ Stella richtete sich von dem blutigen Fleck auf, den sie gerade aus dem Teppich entfernte. „Ich könnte sowieso gut eine Zigarettenpause gebrauchen. Machen Sie mit?“

„Ich wünschte, ich könnte. Aber nein, ich bleibe einfach einen Augenblick hier.“

„Wie Sie wollen.“ Mit knackenden Knien stand Stella auf und schlenderte mit einem griesgrämigen Ausdruck auf dem Gesicht an Taylor vorbei. Doch im Vorbeigehen drückte sie Taylors Arm, und Taylor wusste, dass es ein Zeichen des Trostes sein sollte.

Endlich alleine, nahm sie die Szenerie in sich auf. Frank Richardsons Blut war schwarz und glänzend, einige Tage alt und für immer ein Teil dieses Ortes. All das sorgfältige Reinigen, die neuen Teppichböden, die ganze frische Farbe – all das würde niemals ganz den Hauch der Seele dieses Mannes auslöschen, der hier so brutal ermordet worden war. In diesem Zimmer würde immer etwas von ihm zurückbleiben.

Taylor sprach ein Gebet für den Mann und entschuldigte sich dann laut bei ihm. Sie wusste, dass es hier für sie nichts mehr zu tun gab, und wandte sich zum Gehen. Als sie zur Tür ging, erblickte sie neben Stellas Reinigungsmitteln einen Hefter.

„Stella, gehört der Ihnen?“

Stella stand im Treppenhaus und rief zurück: „Gehört mir was?“

„Der Hefter hier. Gehört der Ihnen?“

„Nee. Den hab ich gefunden, als ich den Luftfilter der Klimaanlage gereinigt habe. Auf dem Gitter war Blut, und als ich es abgenommen habe, ist mir das hier entgegengefallen.“ Sie tauchte im Türrahmen auf. „Wollen Sie es sich ansehen? Ich bin noch nicht dazu gekommen.“

Taylor hatte sich bereits über den Hefter gebeugt. Mit einem Kugelschreiber klappte sie das Deckblatt um. Bevor sie anfing zu lesen, wusste sie, was sie da vor sich hatte. Frank Richardsons Notizen. Das hier war der Ordner, den er ihr vor seinem Tod hatte geben wollen. Nachdem sie ein paar Latexhandschuhe übergestreift hatte, nahm Taylor den Hefter in die Hand.

„Warum grinsen Sie von einem Ohr zum anderen, Lieutenant?“

„Weil das hier, Miss Stella, das fehlende Puzzleteil ist. Danke vielmals, dass Sie es gefunden haben.“ Taylor hätte die Frau beinahe umarmt, aber Stella hob abwehrend die Hände.

„Ja, ich weiß, schon gut. Sie wollen mich nicht berühren, mein Kind, glauben Sie mir. Ich stinke. Und jetzt mach ich mich mal wieder an die Arbeit.“

Taylor ging direkt zu ihrem Auto und rief im Büro an. Marcus nahm den Anruf entgegen.

„Hey, sag mal, habt ihr Frank Richardsons letzte Bewegungen nachvollziehen können?“

„So in der Art. Wir haben sein Auto auf dem Parkplatz des Wohnblocks gefunden. Sein Handy lag noch in der Mittelkonsole, mit einer anonymen Nachricht auf der Mailbox. Der Anrufer wollte, dass Frank ihn in der Wohnung treffe. Also ist er da aus freien Stücken hineingegangen.“

„Ja, das klingt logisch. Ich habe gerade die Akte gefunden, die er uns übergeben wollte. Anscheinend ist er vor der Verabredung in die Wohnung gegangen und hat sie vorsichtshalber versteckt. Kluger Kerl. Er hat wohl gewusst, dass in seinen Unterlagen irgendetwas Großes verborgen ist. Danke, Marcus. Wir sehen uns gleich.“

Langsam fügten sich die Teile zusammen. Wenn sie jetzt nur noch die Identität des Schneewittchenkillers herausfinden könnte. In einem Winkel ihres Gehirns lauerte der letzte Fingerzeig – zusammengerollt wie eine Schlange, die darauf wartete, zuzuschlagen.