38. KAPITEL
New York, New York
Montag, 22. Dezember
22:58 Uhr
Es verstand sich von selbst, dass Taylor und Baldwin sich ein Hotel für die Nacht suchten, auch wenn die Kollegen vom 108. alle ihre Gästebetten anboten. Nach dem Abschlussgespräch hatte Eldridge persönlich sie über die Queensboro Bridge nach Manhattan gefahren. Baldwin hatte telefonisch ein Zimmer im W Hotel an der Lexington reserviert. Es war kurz vor Weihnachten und das Hotel eigentlich ausgebucht, aber irgendwie fand der Rezeptionist noch ein Zimmer für sie. Eldridge hatte ihn einen Moment lang komisch angesehen, als ob er Baldwin fragen wollte, wieso er so viel Einfluss hatte, aber dann überlegte er es sich doch anders.
Um ehrlich zu sein, hätte Baldwin Taylor viel lieber in ein Flugzeug vom FBI gesetzt und sie so schnell wie möglich nach Hause gebracht, aber es gab noch zu viele lose Enden, die sie verbinden mussten.
Baldwin warf Taylor einen vielsagenden Blick zu. Sie saß schweigend auf der Rückbank des Zivilfahrzeugs und starrte in die Nacht, während sie den East River überquerten. Er war froh, noch ein Zimmer im W bekommen zu haben. Es hatte keinen Zweck, sich mit etwas Geringerem zufriedenzugeben. Schließlich kam es nicht alle Tage vor, dass er mit seiner zukünftigen Braut einen romantischen Abend in New York verbrachte. Und er genoss es, etwas aus dem Hut zaubern zu können, was ihr Trost und Wohltat war. Zumindest hoffte er, dass es ihr guttun würde. Jesus, jetzt, wo er sie zurückhatte, wollte er sie nie wieder aus den Augen lassen.
Die Stadt war festlich geschmückt und weihnachtlich erleuchtet, aber das Wetter war umgeschlagen. Es hatte angefangen zu schneien, die Flocken kämpften um jeden Zentimeter Luftraum und schwebten sorglos zur Erde. Der Himmel zwischen den Wolkenkratzern war dunkel, tief und schmutzig. Grauweiße Wolken schwammen durch die Dunkelheit. Nebel kroch zwischen den Häusern entlang; er fühlte sich lebendig an, böse und beklemmend. Gotham City, die ihrem Ruf alle Ehre machte.
Trotz der finsteren Stimmung reichte die Schlange vor dem Whiskey Blue einmal um den Block. Gäste des Waldorf Astoria auf der anderen Straßenseite schüttelten beim Anblick der modebewussten Partygänger den Kopf. Köpfe wandten sich um, als Taylor und Baldwin aus dem Auto stiegen, aber sobald klar war, dass es sich nicht um Prominente handelte, kümmerte sich die Gruppe schnell wieder um ihr eigenes Leben.
Sie schüttelten Eldridge zum Abschied die Hand, bedankten sich für die Gastfreundschaft und verabredeten sich zum gemeinsamen Frühstück am nächsten Morgen. In der mit Marmorfußboden ausgestatteten Lobby des Hotels war es warm. Der geschmackvolle Springbrunnen, der den Eingang vom Restaurantbereich trennte, sprudelte leise vor sich hin, und Taylor verließ den Platz an Baldwins Seite, um mit zur Seite gelegtem Kopf dem fließenden Wasser zuzusehen.
Der Mann am Empfang war eisig höflich. Seine Finger huschten über die Tastatur, der Zimmerschlüssel wurde programmiert. Er fragte, ob sie irgendwelche speziellen Wünsche hätten, was Baldwin verneinte. Der Rezeptionist musste nicht unbedingt wissen, wer sie waren. Für ihn waren sie einfach nur ein weiteres Pärchen, das bei seinem Stadtbummel zu viel getrunken hatte und den langen Weg in die Vororte um diese Uhrzeit nicht mehr auf sich nehmen wollte.
Er machte sich Sorgen um Taylor. Er hatte den Ausdruck in ihren Augen gesehen, eine gewisse Abwesenheit, ein Blick, der in die Ferne ging und ihm zeigte, dass sie in ihrem Inneren nach Antworten suchte.
Auf dem Revier hatte er ihren Schilderungen der Ereignisse genau zugehört. Während sie den Mann beschrieb, der sie gefangen gesetzt und mit verschiedenen Ultimaten bedroht hatte, war er zusammengezuckt. Er hatte den Ärger und die Wut spüren können, die in ihr aufgeflammt waren, als sie erzählt hatte, wie sie der Wache das Genick gebrochen hatte und geflohen war. Er kannte ihre Gefühle: Sie war nicht so sehr darüber entsetzt, jemandem das Leben genommen zu haben, als darüber, überhaupt erst in diese Situation gebracht worden zu sein. Taylor war eine zähe Frau. Sie kannte die Risiken ihres Berufs sehr genau. Mord, Körperverletzung, das lag alles im Bereich des Möglichen. Sie wäre eine gute FBI-Agentin, denn sie konnte ihre Gefühle abspalten, tun, was für den Job notwendig war, und ohne Reue weitermachen.
Aber eine Schlacht, in der sie mit ihren eigenen Händen kämpfen musste, ein tödliches Gefecht war etwas ganz anderes.
Er hatte es nun in der Hand, ihr dabei zu helfen. Sanft führte er sie zum Fahrstuhl, sich nur zu bewusst, wie sehr sie sich zusammenriss. Er nahm an, dass sie einen Schrei ausstoßen würde, sobald sich die Türen hinter ihnen schlössen. Irgendetwas, um Spannung zu lösen, die sich so deutlich auf ihrem Gesicht zeigte.
Sie blieb stumm, wachsam, auf der Hut.
Das dezente Klingeln des Fahrstuhls zeigte an, dass sie ihre Etage erreicht hatten. Er ließ Taylor den Vortritt und ging dann neben ihr den langen Flur hinunter. Dabei zählte er innerlich mit: 1515, 1509, 1507. Das war ihr Zimmer. Er steckte die Karte in den Türschlitz, das grüne Licht flackerte auf, und die Tür öffnete sich einen Spalt. Er schob sie ganz auf und folgte Taylor in die Suite. Leise fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss.
Ein kleiner Flur führte in das Wohnzimmer, aber so weit kamen sie gar nicht.
Taylor drängte sich an ihn, sobald das Klicken des Türschlosses ihr verriet, dass sie alleine und in Sicherheit waren.
Ihre Wildheit überraschte ihn. Sie packte seinen Mantelkragen und schob Baldwin rückwärts gegen die Wand. Ihr Mund presste sich auf seinen, ihre Hände fuhren fieberhaft an seinem Körper entlang. Er war sofort bereit, und es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie sich endlich ihrer Kleidung entledigt hatten. Er hörte etwas reißen, direkt bevor er ihre samtige Haut auf seiner spürte.
Seine Klamotten gesellten sich zu ihren auf den Boden. Dann umfingen sie einander, verschmolzen, saugten, berührten sich. Baldwin hob sie hoch und wirbelte sie herum, sodass sie mit dem Rücken an der Wand lehnte.
Taylor war wie entfesselt, animalisch, ausgedörrt nach Aufmerksamkeit, hungrig nach ihm. Sie schlang ihre langen Beine um seine Taille und verlangte nach mehr. Wild biss sie ihm in den Hals, und er stieß fester zu, ihre Hüften pressten sich an seine, ihr Rücken scheuerte an der teuren Tapete entlang. Ein paar Schritte entfernt fiel ein Bild zu Boden, so erschütterte ihre hastige Vereinigung die Wände. Ein tiefer, gutturaler Schrei entrang sich Taylors Kehle, als sie den Höhepunkt erreichte. Dann brach sie in Tränen aus. Baldwin konnte auch nicht mehr an sich halten und verlor sich in ihr, verlor sich in sich selbst. Erst als er wieder zu Atem kam, merkte er, dass er Taylor so eng gegen die Wand gedrückt hielt, dass jeder Atemzug von ihr in seinen Lungen widerhallte.
Er lächelte sie an, verzweifelte Sehnsucht mischte sich mit Erleichterung. Sie erwiderte seinen Blick, sah ihm direkt in die Augen, in seine Seele, nackt, schon wieder hungrig. Verloren. So sehr verloren.
Er hob sie hoch, und ohne den Blick von ihr zu nehmen trug er sie durch das Wohnzimmer ins Schlafzimmer. Immer noch miteinander vereint, legte er sie vorsichtig aufs Bett und fing an, sich langsam in ihr zu bewegen. Ihr ungewöhnliches Einssein überwältigte ihn beinahe.
Sie nahm und nahm, und er gab alles, was er konnte. Es war nicht genug, die Dämonen ihrer Seele auszutreiben, das spürte er. Sie bewegten sich auf ungekannte Arten, verbanden sich tiefer miteinander als jemals zuvor. Während er sich anspannte, drängte Taylor ihn vorwärts, schneller, tiefer. Ihre Hände packten seine Hüften und zwangen ihn, sie härter zu nehmen. Dieses Mal schrie er auf, aber sie blieb stumm, fordernd. Als er wieder zu Atem kam, rollte er von ihr runter, zog sie in seine Arme und hielt sie fest, während sie gegen die Tränen ankämpfte.
Ein Klopfen an der Tür weckte sie. Sie lag unter dicken Decken vergraben im Bett, ein Arm unter Baldwins Körper eingeklemmt. Er schlief tief und fest. Sie dachte an ihren rasenden Sex zurück und lächelte. Das war ein ganz neuer Level für sie beide gewesen, diese verzweifelte, alles verschlingende Leidenschaft. Sie hatte es genossen, sich aber auch ein wenig schuldig gefühlt, dass ein gewaltsamer Tod in ihr so eine Wildheit verursacht hatte. Trost, dachte sie, das war alles, was ich gesucht habe.
Wieder ertönte das diskrete Klopfen. Baldwin rührte sich nicht. Sie zog ihren Arm unter ihm heraus, stand auf und ging in das marmorne Badezimmer. Dort nahm sie einen flauschigen Bademantel vom Haken an der Tür und zog ihn über. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es erst 3:48 Uhr war, also mitten in der Nacht. Wer zum Teufel klopfte um diese unheilige Stunde an ihrer Tür?
Sie nahm sich Baldwins .40er und ging zur Tür, der Lauf der Waffe lag kalt auf ihrem nackten Bein.
„Ja?“
„Ma’am, ich habe ein Paket für Sie.“
„Es ist vier Uhr morgens. Kann das nicht warten?“
„Nein, Ma’am. Der Concierge bat mich, es persönlich abzuliefern. Ich suche eine Lieutenant Taylor Jackson. Sind Sie das?“
Sie antwortete nicht. Ein Kommuniqué mitten in der Nacht. Kurz schoss ihr der nächtliche Anruf ihrer Mutter vor zwei Monaten durch den Kopf.
„Lassen Sie das Paket vor der Tür stehen.“
„Das kann ich nicht, Ma’am. Ich habe versprochen …“
„Stellen Sie es hin“, befahl sie. Sie hörte ein dumpfes Rascheln, dann Schritte, die sich entfernten.
Mit erhobener Waffe öffnete sie die Tür, schaute nach rechts, dann nach links. Der Flur war angemessen leer. Sie streckte ihre linke Hand aus und griff eine Ecke des Päckchens. Es war ein gefütterter Umschlag, wie man ihn in jedem Laden für Bürobedarf im ganzen Land fand, ungefähr in der Größe einer CD. In der Mitte war eine dickliche Erhöhung.
Wider besseres Wissen zog sie das Päckchen ins Zimmer. Nach einem letzten Blick in den Flur schloss sie die Tür, sperrte ab und legte die Kette vor.
„Was ist das?“
Sie zuckte überrascht zusammen. Baldwins schläfrige Stimme hatte sie erschreckt. Es waren die ersten Worte, die er seit dem Betreten des Hotelzimmers an sie gerichtet hatte. Dann erinnerte sie sich, was sie statt reden getan hatten, und errötete. Entschlossen schob sie die Gedanken beiseite.
„Ein Päckchen, persönlich ausgeliefert. Hol den Portier ans Telefon.“
Sie schaute sich den Umschlag näher an. Ihr Name und der Name des Hotels standen darauf. Offensichtlich wusste jemand, wo sie waren.
Baldwin kam zurück in den Flur. „Der Portier sagt, es ist vor ungefähr einer halben Stunde von einem Mann angeliefert worden. Sie haben es durch ihre Sicherheitschecks laufen lassen und geröntgt. Der Inhalt sieht aus wie ein Handy, sagen sie. Er schien nicht besorgt zu sein und meinte, die Quelle hätte eine reine Motivation gehabt, was auch immer das heißen soll. Ich würde mich wohler fühlen, wenn wir die örtliche Außenstelle dazurufen würden. Sie sollen das durch ihren Bombendetektor schicken.“
Aber Taylor hatte den Umschlag bereits geöffnet und schaute hinein. Tatsächlich ein Handy.
„Oh nein, Taylor, auf gar keinen Fall rührst du das an. Das geht definitiv ins Labor. Du hast ja keine Ahnung, was man heutzutage alles mit einem Telefon anstellen kann …“
Rrrrrinnnng.
Das Telefon summte in Taylors Hand. Sie schaute Baldwin an, dann wieder das Handy. Viermal klingeln, fünfmal, sechs, sieben. Acht. Sie atmete tief ein.
„Wenn sie mich umbringen wollten, hätten sie das im Lagerhaus getan.“
Sie klappte das Telefon auf und hielt es sich ans Ohr. Ein leichtes statisches Knistern, dann hörte sie eine Stimme. „Taylor?“
„Oh mein Gott, Daddy?“
Die Stimme erschütterte Taylor bis ins Mark. Es war lange her – drei Jahre seitdem sie ihn das letzte Mal persönlich gesehen hatte. Er war tot. Vermisst. Weg. Dieser gequälte, gebrochene Mann konnte unmöglich ihr Vater sein. Aber die Stimme ließ keinen anderen Schluss zu. Das war seine.
Und er hatte Angst.
„Taylor? Bist du da?“
„Daddy, wo bist du?“
„Taylor, ich will, dass du mir zuhörst. Du musst tun, was er sagt. Folge einfach seinen Anweisungen, und alles wird gut.“
„Aber Daddy …“
„Taylor, bist du da?“
„Ich bin da, Daddy.“
„Taylor, ich will, dass du mir zuhörst. Du musst tun, was er sagt. Folge einfach seinen Anweisungen, und alles wird gut.“
Sie warf Baldwin einen Blick zu. Die exakt gleichen Worte. Sie hörte auf zu sprechen. Die Stimme ertönte erneut.
„Taylor? Bist du da?“
Sie antwortete nicht.
„Taylor, ich will, dass du mir zuhörst. Du musst tun, was er sagt. Folge einfach seinen Anweisungen, und alles wird gut.“
Eine Aufnahme. Ihr wurde kalt ums Herz. Jesus, sie ließ sich immer noch von diesem Freak manipulieren. Sie reichte Baldwin das Telefon, damit er sich die Schleife anhörte.
Mit einem Kopfschütteln gab er es ihr zurück. Das war nicht ihr Vater. Nur eine Tonaufnahme – die jederzeit hätte erstellt werden können. Nichts an ihr verriet, dass er noch am Leben war.
Unbändige Wut baute sich in Taylors Brust auf. Sie drehte das Handy so um, dass es sie anschaute, und dann schrie sie so lang und laut sie konnte in das Mundstück. Gerade wollte sie auflegen, als sie ein Lachen am anderen Ende hörte. Sie hielt sich das Telefon ans Ohr.
Die Stimme erkannte sie. Der gleiche höhnische Tonfall wie im Lagerhaus. Er lachte sie aus.