37. KAPITEL
Long Island City, New York
Montag, 22. Dezember
20:00 Uhr
Detective 3rd Grade Emily Callahan reichte Taylor eine graue Jogginghose und ein blaues T-Shirt der New Yorker Polizei.
„Hier, das sollte passen. Die Hose wird allerdings nicht lang genug sein. Wie groß sind Sie, eins neunzig?“
Taylor schnaubte. „Eins einundachtzigeinhalb.“ Sie schob das raue weiße Handtuch von ihren Schultern, stand auf und zog die Hose an. Callahan hatte recht – sie war knapp zehn Zentimeter zu kurz, aber sie war warm und besser als nichts. Schnell streifte sie das Sweatshirt über, klaute sich ein Gummiband von Callahans Schreibtisch, band ihre nassen Haare zu einem Knoten zusammen und setzte sich wieder. Einfach nur zu duschen hatte sie vollkommen erschöpft.
Taylor hatte das Revier an der 108th Street schnell gefunden. Long Island City. Die Schweinehunde hatten sie ausgerechnet nach New York gebracht. Beim Verlassen des Lagerhauses hatte sie die Skyline sofort erkannt. Als sie sich vom Fluss entfernt hatte, fand sie sich auf der Fiftieth wieder, und das Revier kam einen Block weiter auf der rechten Seite. Ein glücklicher Zufall. So peinlich es ihr auch war, nur in Unterwäsche in ein Polizeirevier zu marschieren, war ihr ihre Sicherheit doch wichtiger als ihr Schamgefühl.
Der wachhabende Captain hatte bei ihrem Anblick gelacht und versucht, sie wegzuschicken, weil er sie für einen Freak hielt. Doch sie hatte sich nicht einschüchtern lassen und sich mit deutlicher Autorität und ihrer Kennnummer vorgestellt. Dann hatte sie darum gebeten, dass man ihren Captain informiere. Und zwar sofort.
Dem Wachhabenden wurde schnell klar, dass sie es ernst meinte, und gab ihr eine Decke. Anrufe wurden getätigt, besorgte Blicke getauscht. Es war schließlich Emily Callahan, die zu Taylors Rettung geeilt war und sie mit in ihr Büro genommen hatte. Dort hatte sie ihr was zu essen gegeben, eine Dusche organisiert und ihr ein paar warme Sachen zum Anziehen besorgt.
Callahan reichte ihr Socken und gleich danach einen Becher mit dampfendem Kaffee. „Vanille. Die Jungs hier sind wahre Gourmets.“ Sie verdrehte die Augen, und Taylor lachte.
„Davon hab ich auch ein paar. Starbucks hat uns alle für immer versaut.“
„Fühlen Sie sich in der Lage, mit dem Lieutenant zu reden? Er wartet auf Sie. Wann immer Sie mögen, keine Eile.“
Taylor trank einen Schluck Kaffee und war einfach nur dankbar für die Wärme. Er war süß, beinahe zu süß, aber sie dachte, dass Zucker ihr jetzt vielleicht ganz guttun würde. Callahan war unglaublich nett gewesen, hatte ihr Hühnersuppe gebracht, sie duschen lassen, ihr Raum gegeben, um ihre aufgewühlten Gefühle nach den Ereignissen des Tages zu sortieren. Bilder von dem Kopf des Mannes in ihren Händen überfluteten ihr Bewusstsein, das Geräusch … Sie schüttelte es ab. Flashbacks würden ihr jetzt auch nicht helfen.
Taylors Magen grummelte. Er war mit ihrer Getränkewahl offensichtlich nicht einverstanden. Stress, dachte sie und versuchte, sich abzulenken.
„Sind Sie schon lange hier?“, fragte sie.
Callahan wirkte glücklich darüber, dass Taylor sich entschlossen hatte, zu reden. „Lange genug. Ich bin seit einem Jahr in dieser Dienststelle und hoffe, bald befördert zu werden. Aber Sie wissen ja, wie das ist.“
„Ja, das stimmt.“
„Wir haben Sie es geschafft, so jung Lieutenant zu werden? Falls ich das fragen darf.“
„Ich hab mir den Hintern aufgerissen, genau wie Sie. Wie alt sind Sie? Siebenundzwanzig, achtundzwanzig?“
Callahan errötete. „Dreiunddreißig. Aber danke für das Kompliment.“
„Ich war noch nie gut im Schätzen. Machen Sie so weiter, dann wird die Beförderung kommen. Wir sind ein kleineres Büro und haben eine große Fluktuation in den höheren Rängen. Dadurch gibt es öfter eine Gelegenheit zum Aufstieg.“ Sie nippte noch einmal an dem Kaffee und zog so viel Mut aus der bitteren Süße, wie sie konnte.
„Okay, bringen wir es hinter uns.“
„Kommen Sie. Wir gehen in den Konferenzraum, da ist bereits einiges los.“
Callahan führte Taylor einen Flur entlang, an dessen Seiten dicht mit Flyern bestückte Korkwände hingen. Die Ähnlichkeit zu ihrem Büro wirkte beruhigend auf Taylor. Polizeireviere waren alle gleich, egal wo sie sich befanden.
Sie öffnete die Tür zu einem großen Raum, der von einem Konferenztisch beherrscht wurde. Der Raum war voll mit Menschen.
Callahan ging mit ihr entgegen dem Uhrzeigersinn um den Tisch und stellte sie allen vor.
„Lieutenant Tony Eldridge, Sergeant Robert Johnson, Davis Welton, D-1, Zack Brooks, D-2. Das hier ist Lieutenant Taylor Jackson, Metro Nashville Mordkommission.“
Lieutenant Eldridge entfaltete sich wie ein brünetter Kranich mit seinen langen Beinen und dem dünnen Körper. Er schüttelte ihre Hand. „Lieutenant, es tut mir leid, dass wir uns unter diesen Umständen kennenlernen. Passen die Sachen? Brauchen Sie noch mehr Kaffee?“
„Nein, danke, ich würde das hier gerne hinter mich bringen. Sind Sie am Lagerhaus gewesen?“
Mit leichter Skepsis im Blick schaute Eldridge sie an. „Ja, waren wir. Es war leer.“
„Das ging schnell“, murmelte Taylor.
„Was meinen Sie?“
„Ich meine, das waren Profis. Ich habe einen der Ihren getötet, und sie haben den Tatort so schnell geräumt? Sicher haben Sie doch irgendetwas gefunden?“
Eldridge räusperte sich. „Mein Team stellt den Laden gerade auf den Kopf. Bisher gibt es ein paar Teilabdrücke und etwas Urin auf dem Boden, mehr nicht.“
„Ich habe mindestens drei verschiedene Leute gezählt. Einer war ein knapp zwei Meter großer Riese, der andere hatte ungefähr meine Größe und war eher dünn. Hat sich Dusty genannt. Beides unheimliche, böse Typen. Dann gab es noch einen, ich nehme an, der Chef des Ganzen. Er war gut angezogen und wirkte wesentlich ruhiger und gefasster als seine Kumpane. Er war wortgewandt, mit einem Long-Island-Akzent. Allerdings trug er eine Skimaske, sodass ich sein Gesicht nicht erkennen konnte. Außer dass er blaue Augen hatte und grausame, dünne Lippen. Er hat mit mir gesprochen und meine Crew in Nashville bedroht. Er sprach über seine geschäftlichen Interessen in Nashville. Aber soweit ich weiß, haben wir ihn nicht im Blick. Seine Stimme war weich, beinahe … beruhigend. Oder das sollte sie zumindest sein. Ich habe ihn ein paarmal verärgert. Er mag es nicht, herausgefordert zu werden, vor allem nicht von einer Frau.“
Eldridge ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Vier ungläubige Gesichter starrten Taylor an.
„Was, Sie glauben, ich hätte den Verstand verloren? Hören Sie, ich bin entführt worden. Und zwar zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt, wenn ich Sie daran erinnern darf. Ich weiß nicht, welcher Tag heute ist. Also, wenn wir jetzt auf den Bullshit verzichten können, wäre ich Ihnen sehr dankbar.“
Sie setzte sich auf ihren Stuhl, verschränkte die Arme und starrte die anderen wütend an.
Callahan sprach als Erste. „Heute ist der 22. Dezember. Noch zwei Tage bis Weihnachten.“
Diese Nachricht vibrierte tief in Taylors Innerem. „Jesus. Ich war drei Tage fort? Sie müssen sich solche Sorgen gemacht haben …“
Ihre Stimme verebbte. Ein Schatten verdunkelte den Eingang zum Konferenzraum. Taylor spürte die Spannung in der Luft, und ohne sich umzudrehen, wusste sie, wer hinter ihr stand. Es wurde totenstill, und sie riskierte einen Blick.
Baldwin stand direkt im Türrahmen, eine Mischung aus Freude und Schmerz hatte sich in seine abgezehrten Gesichtszüge eingegraben. Ihre Blicke suchten und fanden sich; für eine Sekunde, für eine Stunde, sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie jetzt in Sicherheit war. Eh sie sich daran erinnern konnte, überhaupt aufgestanden zu sein, fand sie sich in seinen Armen wieder. Es gab keinen Kuss, keine Worte, nur ihre Arme umeinander und ein schwerer Herzschlag. Sie wusste nicht, ob es seiner oder ihrer war, aber er brachte sie zu ihrer Mitte zurück, erdete sie. Sie drückte ihn ganz fest. Als sie sich umdrehte, sah sie den Ausdruck auf den Gesichtern der Kollegen und merkte, dass die sich wunderten.
„Das ist Dr. John Baldwin. FBI. Er ist …“ Sie warf ihm über ihre Schulter einen Blick zu.
„Ich bin wegen Taylor hier.“ Mit zwei Schritten war er im Raum, zog Taylors Stuhl zurecht, wartete, bis sie sich gesetzt hatte, und setzte sich dann neben sie. Er nahm ihre Hand und hielt sie mit seinen beiden Händen fest. Mit einer Kopfbewegung wandte er sich an Eldridge.
„Bitte, fahren Sie fort. Was wollten Sie gerade sagen?“
Eldridge setzte an, Baldwin an Taylor vorbei die Hand auszustrecken, dann hielt er inne, als ihm auffiel, dass Baldwin sie nicht nehmen würde. Denn dazu müsste er Taylors Hand loslassen. Stattdessen legte er also seinen Zeigefinger an die Oberlippe und tippte leise dagegen.
„Ich wollte nicht sagen, dass wir Ihnen nicht glauben, Lieutenant. Sie sind an einen verdammt bösen Buben geraten und konnten ihm entkommen. Das passiert normalerweise nicht. Nicht bei dem Mann, mit dem wir es hier zu tun haben.“
„Sie wissen, wer dahintersteckt?“
„Ich habe zumindest eine ziemlich gute Ahnung.“
Taylor war erschöpft und kurz vorm Verhungern. Sie wollte einfach nur zu Hause auf der Couch zusammenbrechen und eine Woche durchschlafen, aber das konnte sie nicht. Noch nicht. Vorher musste sie noch ihre Arbeit tun. Sie beschlossen, auf die andere Straßenseite umzuziehen, damit sie etwas zu essen bekam, und ihre Unterhaltung dann fortzusetzen. Baldwin hatte ihr eine Tasche mit ihren eigenen Sachen mitgebracht. Sie nahm sich einen Pullover und eine Jeans heraus, ihre Lieblingsstiefel und den Kulturbeutel. Bevor sie gingen, zog sie sich um, putzte sich die Zähne und kämmte ihre Haare. Endlich fühlte sie sich wieder halbwegs wie ein Mensch. Neue Energie durchflutete ihren Körper.
Die Bar gegenüber vom Revier an der 108th versteckte sich in einem kleinen Reihenhaus, das rechts und links von identischen Häusern flankiert wurde. Nur die blau-weiß gestrichene Eingangstür und ein kleines Neonschild mit der Aufschrift „Dog Pound“ machten es als Bar kenntlich.
Baldwin hielt Taylor die Tür auf, und zu den Klängen von Frank Sinatra traten sie ein. Frank sang etwas über die Art, wie sie heute Abend aussah. Taylor war einfach nur glücklich, im Warmen zu sein, und die Aussicht auf etwas zu essen machte sie beinahe euphorisch. Trotz der universellen Ähnlichkeiten aller Polizeireviere fühlte sie sich hier noch mehr zu Hause.
Der lange Mahagonitresen glänzte wie frisch poliert. Bistrotische waren entlang der gegenüberliegenden Wand aufgestellt. Ein paar weißhaarige Männer saßen am anderen Ende der Bar zusammen. Sie kümmerten sich nicht um die Neuankömmlinge und setzten ihre Unterhaltung fort, ohne sich nur einmal umzudrehen.
Baldwin deutete auf einen der Tische an der Wand. Sie setzten sich, und der Barkeeper kam mit einem müden Lächeln zu ihnen.
Sie bestellten Guinness und die Speisekarte, dann lehnten sie sich zurück und verloren sich in den Augen des anderen. Baldwin schaute sie hungrig an, als ob er sie bei der kleinsten Bewegung mit einem Haps verschlingen würde. Sie fühlte sich von seinem Blick geradezu aufgespießt und wusste nicht, was sie sagen sollte. Eine Kellnerin brachte ihnen ihre Biere und ließ sie dann wieder in ihrem Schweigen versinken.
„Baldwin“, setzte Taylor an, aber in dem Moment kam die Gruppe aus dem Revier herein und unterbrach sie. Sie gesellten sich zu ihnen, gut gelaunt und voller Hoffnung.
Callahan nahm sich den Stuhl neben Taylor. Als Frankie-Boy ein neues Lied anstimmte, dieses Mal „Luck be a Lady“, beugte Callahan sich verschwörerisch vor.
„Nur zur Info, der Besitzer ist von Sinatra besessen. Hier werden Sie heute Abend keine andere Musik zu hören bekommen. Eigentlich an keinem Abend. Das ist ein ehernes Gesetz.“
„Ist das Ihr Ernst?“
„So ernst wie ein Herzanfall. Sie können gerne einen Blick auf die Jukebox werfen. Ihre Auswahl beschränkt sich ausschließlich auf Titel von Old Blue Eyes. Nach einer Weile fällt es einem aber gar nicht mehr auf.“
Taylor nahm einen Schluck Bier und zwinkerte Baldwin zu.
Sie bestellten Steaksandwiches, die, als sie kamen, unter einem Berg Paprika, Zwiebeln und Mozzarella begraben waren. Der Geruch erinnerte sie zu sehr an die Vorfälle des Tages, sodass Taylor ihres zurückgehen ließ und ein neues bestellte. Ihr eben noch drängender Hunger war vergangen, und das Essen schmeckte wie Sägespäne. Dennoch schaffte sie es, etwas davon in ihren Magen zu bekommen.
Obwohl sie im Lagerhaus keine Leiche gefunden hatten, hatten die Detectives des 108. Reviers frohlockt, als sie ihnen beschrieben hatte, was passiert war und wie sie den Mann getötet hatte. Anhand ihrer Beschreibung hatten sie den Mann wiedererkannt, der sich Dusty genannt hatte. Aber das Wissen um seine vorherigen Straftaten machte seinen Tod für sie nicht leichter.
Offensichtlich war Dusty, der Polizei als Dustin Mosko bekannt, ein Stammkunde in der Abteilung für Sexualverbrechen: Vergewaltigungen, Missbrauch, Folter. Wie ein Mann mit diesem Vorstrafenregister überhaupt auf freiem Fuß sein konnte, war ihr ein Rätsel. Aber so war das System. Lass ihn seine Zeit absitzen, entlasse ihn dann zurück auf die Straße und pumpe ihn mit Medikamenten voll, die seinen Drang unterdrücken. Es war verrückt, und offensichtlich würde niemand Mr. Dusty vermissen.
Der andere Mann, mit dem Taylor in Kontakt gekommen war, war vermutlich ein Kerl namens Atlas. Ein geborener Mörder, der dank seines Körperbaus seinen Drohungen ausreichend Nachdruck verleihen und auch Taten folgen lassen konnte. Er arbeitete als erfolgreicher Profikiller.
Beide Männer waren für einen undurchsichtigen Mann tätig, der der Polizei von Long Island als L’Uomo bekannt war. Sie mordeten in seinem Namen. Der Mann. Natürlich hatten sie auch einen anderen Namen für ihn. Edward Delglisi. Eine der Top-Unterweltgrößen. Der gleiche Name, den Frank Richardson aus Burt Mars’ Unterlagen ausgegraben hatte, bevor er getötet worden war.
Eine Überprüfung aller Verbindungen zwischen Nashville und New York hatte den Verdacht bestätigt. Burt Mars war für die New Yorker Polizei kein Unbekannter. Gerüchte besagten, dass er für Delglisi arbeitete, was wiederum Richardsons Recherchen und Mutmaßungen bestärkte. Als Taylor diese Information mitteilte, hatte Eldridge sofort zum Telefon gegriffen und angeordnet, Burt Mars für ein Gespräch aufs Revier zu bestellen.
Niemand hatte Delglisi jemals gesehen. Das alleine machte Taylors Erlebnisse der letzten Tage schon zu etwas Besonderem für die New Yorker Polizei. Auch wenn sie sein Gesicht nicht gesehen hatte, hatte sie sich mit seiner Stimme vertraut gemacht. Die gedehnten, harten Töne würden ihr noch viele Jahre im Kopf bleiben, dessen war sie sicher. Genau wie die stechend blauen Augen.
Trotzdem fühlte sich irgendetwas an der ganzen Sache immer noch nicht richtig an. Taylor kannte niemanden namens Edward Delglisi. Sie konnte sich auch nicht an ihn in Zusammenhang mit ihrer Familie, Nashville oder sonst etwas erinnern. Aber er hatte sie eindeutig gekannt.
Die Antworten waren da; Taylor konnte sie in der tiefsten Ecke ihres Gehirns lauern fühlen. Sie war nur zu erschöpft, um die Dinge klar durchdenken zu können.
Sie beschloss, es eine Weile zur Seite zu schieben. Ihre Freiheit zu genießen. Es war noch Zeit genug, über alles andere nachzudenken. Sie wollte gar nicht überlegen, was sie in Nashville alles verpasst hatte. Hochzeiten sollten nachgeholt werden, oder?
Das war ein Zeichen, das wusste sie. Selbst wenn sie das auf gar keinen Fall in nächster Zukunft Baldwin gegenüber erwähnen würde.