48. KAPITEL
Nashville, Tennessee
Dienstag, 23. Dezember
20:30 Uhr
Sie hatten das Haus umstellt. Taylor stand direkt hinter den Männern des SWAT, bereit, mit ihnen zusammen hineinzugehen. Sie hoffte auf eine einfache Festnahme, war aber auf das Schlimmste vorbereitet. Wer wusste schon, wie sich der Schneewittchenmörder verschanzt hatte? Und falls L’Uomo ihn vor einem bevorstehenden Verrat gewarnt hatte … Nein, das war nicht passiert. Wenn ihre Theorie richtig war, war Malik wütend auf Fortnight, weil der zugelassen hatte, dass sein Lehrling im Massagesalon gewütet, zwei Mädchen umgebracht und dafür gesorgt hatte, dass Fotos und Videos in die Hände der Polizei fielen. Fortnight hatte keine Bedeutung mehr für Malik. Sie hatten nichts zu verlieren.
Taylor gab das Signal zum Einsatz, und die schwarz gekleideten, menschlichen Waffen überfluteten das Gelände.
Der Lehrling hatte sich in den Büschen im rückwärtigen Teil des Grundstücks versteckt, während er versuchte, die Blutung an seiner Seite zu stillen. Es war eine einfach zu behandelnde Wunde, nicht sonderlich tief. Die Kugel hatte ihn nur gestreift, und die Intensität des Schmerzes hatte ihn überrascht. Dieser verfluchte blinde Schwachsinnige hatte auf ihn geschossen und damit seine Pläne vereitelt. Er wusste, dass er gut versteckt war. Hinter diesen toten Baumstämmen im Wald konnte ihn trotz des fehlenden Laubes niemand sehen. Die Blutung war beinahe zum Stillstand gekommen, als er den Aufruhr bemerkte. Die Autos, die leisen Schritte, die geflüsterten Befehle. Sie wussten es. Sie hatten sie gefunden. Er musste etwas tun, wenn er eine Chance haben wollte, zu entkommen.
Das Mädchen, Jane, musste sie hierher geführt haben. Schon nach der ersten Nacht hatte er gewusst, dass es ein fürchterlicher Fehler gewesen war, sie weiter am Leben zu lassen. Er hatte gebettelt, sie töten zu dürfen. Sein Lehrmeister hatte es verweigert. Mit dieser einen wollte er spielen, wollte etwas von seinem früheren Ruhm zurückerlangen. Aber er war nicht stark genug, ein Messer zu halten, geschweige denn seinen eigenen Schwanz.
Nachdem der Schneewittchenmörder erkannt hatte, wer sie war, hatte sich ihr schöner Plan in Luft aufgelöst. Und dann der Ärger mit diesem Schwulen aus New York … Er hatte gedacht, dass der alte Mann das Mädchen vielleicht als Friedensgeschenk anbieten würde. Was für eine Verschwendung. Mit einem Messer in der Kehle hätte sie ganz zauberhaft ausgesehen.
Keine wunderschön nachgestellten Szenen mehr. Keine klaffenden Lächeln und blutigen Lippen. Als Charlotte sich auf die Seite ihres Vaters geschlagen hatte, hatte sie gehen müssen.
Er beobachtete, wie einige Mitglieder des Teams sich der Rückseite des Hauses näherten. Nun war es wirklich und wahrhaftig vorbei. Es war an der Zeit, weiterzuziehen, ein anderes Meisterstück zu finden, das es wert war, nachgeahmt zu werden. Er hatte genug gelernt.
Taylor folgte dem Team in die Eingangshalle. Es gab keinerlei Widerstand. Das Haus schien verlassen, keine Bewegung auf der geschwungenen Treppe, die sich an beiden Seiten des Foyers in die oberen Stockwerke wand. Die Eingangshalle war gesichert. Sie hörte die klaren Ansagen durch die Kopfhörer, konnte sich aber trotzdem nicht entspannen. Er war hier, das spürte sie.
Einen Augenblick später wurde ihr Gefühl bestätigt.
Das Team strömte in den Flur, der zu einer geschlossenen Tür führte. Mit einem stummen „Eins, zwei, drei“ verschafften sie sich Eintritt.
Dem ersten Eindruck nach schien die Bibliothek leer zu sein, aber dann bemerkte sie, dass sich zwei Männer in dem Raum befanden. Keiner von ihnen rührte sich, als die Gruppe sich mit gezogenen Waffen näherte. Einer war blind, das war ganz offensichtlich. Der andere, ein alter Mann mit gebeugten Schultern und einem verkrüppelten Körper, saß in einem großen Ledersessel, seine verdrehten Hände lagen seltsam verschränkt auf dem elfenbeinernen Griff eines Gehstocks.
Die Zeit blieb einen Moment stehen, weil Taylor dachte, dass sie sich geirrt hatte, dass diese Kreatur niemals in der Lage war, zu töten.
Und dann sah sie den Ring, wie er von seinem Platz an einem der gebogenen Finger hell leuchtete.
„Eric Fortnight, Sie sind verhaftet.“ Sie senkte ihre Waffe nicht, sondern trat näher heran und versuchte, in die Augen eines Mörders zu schauen.
Es musste so kommen. Alles war so glattgelaufen, so ruhig. Bis jetzt. Als Taylor seinen Blick traf, sah sie die Kälte, die Leere. Das Lächeln, mit dem er sie anschaute, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Zehn Frauen waren durch seine Hände gestorben. Und weitere sechs unter seiner Führung.
Als er sich auf sie stürzte, dachte sie nicht nach, sondern drückte einfach ab.
Sein Körper zuckte unter ihrer Kugel. Innerhalb eines Herzschlags lag er am Boden, und die Hölle brach los.
Taylor stand auf der Einfahrt zu Eric Fortnights Haus und starrte blind auf die erleuchteten Fenster. Es war ein klarer Schuss gewesen, aber Price war gekommen und hatte ihr die Waffe weggenommen. Standardprozedur. Sie war so lange vom Dienst freigestellt, bis eine Untersuchung den Schuss als gerechtfertigt beurteilt und sie sich mit dem Psychiater getroffen hatte. Vielleicht war das, alles in allem betrachtet, gar keine so schlechte Idee.
Es war vorbei. Der Schneewittchenmörder war tot. Aber es gab keine Spur von seinem Lehrling. Der Blinde, der sich als Eric Fortnights Sohn Joshua entpuppt hatte, war nicht der Mann, den Taylor im Control gesehen hatte. Er war entkommen.
Die Beweise türmten sich. Mindestens zwei Rätsel waren gelöst worden. Die Emulsion aus Weihrauch und Myrrhe, die sie auf den Gesichtern der toten Mädchen gefunden hatten, war zum Haus zurückverfolgt worden. Eine kleine Dose Boswellin-Creme, ein Schmerzmittel gegen rheumatische Arthritis, hatte auf dem Tisch neben seinem Sessel gestanden. Der Schneewittchenmörder hatte die Creme an seinen Händen. Das Bild, wie sie auf die Schläfen der Mädchen gekommen war, wie der alte Mann ihre Köpfe gehalten und das harmlose Mittel dabei auf ihre Gesichter übertragen hatte, weckte in ihr den Wunsch, sich zu übergeben. Trotz seiner Gebrechen hatte er geholfen, die Mädchen zu töten, hatte sie gehalten, sie gestreichelt. Und im zweiten Stock hatten sie ein Zimmer gefunden mit Messern, Fesseln und getrocknetem Blut. Taylor war sicher, dass es drei DNA-Treffer geben würde – für Elizabeth Shaw, Candace Brooks und Glenna Wells. Sie betete, dass es nicht mehr waren.
Die Einfahrt war voller Streifenwagen. Eine kleine Gruppe Neugieriger hatte sich am Tor versammelt; Nachbarn, die sehen wollten, was los war. Taylor wandte sich vom Haus ab und beobachtete, wie sie beobachtet wurde.
Sie sah Baldwins Auto sich einen Weg auf das Grundstück suchen und war dankbar, dass er da war.
Er musste ganz am Eingang parken und die lange Auffahrt zu Fuß hochgehen. Seine Schultern waren zusammengesackt. Er war der Überbringer schlechter Nachrichten, das sah sie. Inzwischen hatte sie gelernt, ihn zu lesen.
Als er sie erreichte, packte er sie und hielt sie ganz fest. Seine Wärme war willkommen, aber Taylor fühlte nichts, noch nicht. Gerade hatte sie ein zweites Leben in ebenso vielen Tagen genommen, und es würde noch eine Weile brauchen, bis sie das verarbeitet hatte.
„Ich habe schlechte Neuigkeiten.“
Sie nickte und sah in seine grünen Augen.
„Geht es um Win?“
Einen Moment sah er sie überrascht an, dann schüttelte er den Kopf.
„Es geht um Charlotte. Ich habe ein wenig Zeit mit Jane Macias verbracht und musste dann noch was nachsehen. Charlotte war seine Tochter. Sie war Fortnights Tochter.“
„Was?“, fragte sie.
„Ich weiß. Ich habe eine eidesstattliche Aussage von Jane. Sie behauptet, dass Charlotte Fortnights Tochter war. Dass der Schneewittchenkiller zu ihr kam, ihr Details seiner Verbrechen verraten hat, als wäre sie seine Beichtmutter. Er hat ihr erzählt, dass Charlotte seine Tochter ist, dass ihre Mutter Carlotta bei der Geburt von Joshua Fortnight, ihrem Bruder, gestorben ist. Er hat Carlotta gehasst, aber auch geliebt. Als sie starb und ihn mit einem deformierten Baby und einer unkontrollierbaren Tochter zurückließ, war das für ihn der endgültige Verrat. Die Morde waren seine Art, sie zurückzuholen.“
„Wiederhol das noch mal. Das ist zu unglaublich. Charlotte war die Tochter der Fortnights?“
„Jane schwört, dass sie Charlotte bei ein oder zwei Gelegenheiten im Haus gesehen hat, wie sie mit dem Schneewittchenkiller und seinem Lehrling redete. Sie hat uns eine Beschreibung vom Lehrling gegeben, die auf den Mann passt, den du im Control gesehen hast. War er nicht hier?“ Baldwin zeigte auf das Haus.
„Nein, keine Spur von ihm. Das Haus war leer bis auf den Schneewittchenmörder, ich meine Fortnight, und seinen Sohn. Heilige Scheiße. Charlotte war seine Tochter. Gott, das erklärt eine Menge. Ich wusste, dass sie total irre war.“
Den Ausdruck in Baldwins Augen konnte sie nicht deuten. „Ich habe vorhin mit Garrett gesprochen. Er konnte Janes Aussage bestätigen. Das FBI geht gerade Charlottes persönliche Sachen und ihren Computer durch. Sie haben die Abweichungen in ihren Protokollen überprüft, aber als sie ihre Firewall geknackt hatten, schien es, als ob sie eine Falle für alle ihre Dateien eingebaut hatte. Ihr System hat sich selbst gereinigt, während sie versuchten, sich Zugriff auf ihre Daten zu verschaffen. In den nächsten Tagen gibt es da noch einiges zu tun.“
Taylor schwirrte der Kopf von all diesen neuen Informationen. Charlotte Douglas, die Tochter des Schneewittchenmörders. Das bedeutete, dass sie aus Nashville war. Taylor hatte sie noch nie zuvor getroffen. Seltsam, vor allem wenn man bedachte, dass ihre und Charlottes Eltern Freunde gewesen waren. Sie musste nach dem Tod ihrer Mutter auf ein Internat geschickt worden sein oder so. Ein Anflug von Mitleid schlich sich in Taylors Herz. Sie schob es beiseite. Damit müsste sie sich gründlich auseinandersetzen, und dazu hatte sie jetzt keine Zeit.
„Genau wie wir“, nahm sie den Gesprächsfaden wieder auf. „Der Nachahmer ist immer noch frei. Und wir müssen Malik fassen. Sobald er weiß, dass Fortnight tot ist, hat mein Vater für ihn keinen Nutzen mehr. Wir müssen also sofort mit ihm reden.“
„Dann lass uns gehen.“
Sie rannten zu Baldwins Auto. Er schleuderte aus der Einfahrt und zwang die Schaulustigen, in alle Himmelsrichtungen auseinanderzuspringen.