31. KAPITEL

Nashville, Tennessee

Sonntag, 21. Dezember

18:00 Uhr

Die Mordkommission summte nur so vor Aktivität, Fitz schüttete die Reste einer weiteren Kanne Kaffee aus und setzte eine neue auf. Die fünfte in den letzten zwei Stunden. Jeder war aufgedreht, launisch und trotz aller künstlichen Stimulanzien vollkommen übermüdet. Marcus hatte den Kopf auf die Hand gestützt und scrollte sich durch seitenlange Dokumente auf seinem Bildschirm. Baldwin telefonierte mit den Fluggesellschaften. Niemand hatte geschlafen, alle konzentrierten sich auf ihre wichtigste Spur: den Limofahrer, der irgendwo im Nirgendwo verschwunden war.

Lincoln sprach am Telefon mit seinem Kontaktmann aus Mazatlán, einem Mann, den er nur als Juan kannte. Vor vier oder fünf Jahren hatte er ihn auf einer Tagung für IT-Forensik kennengelernt. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass Juan nicht sein echter Name war, aber das war im Moment auch egal. Per E-Mail hatte er ihm einen eiligen Hilferuf geschickt. Sie brachten das übliche Vorgeplänkel hinter sich, bevor sie sich dem eigentlichen Anlass ihres Telefonats widmeten.

„¿Hola? ¿Este Juan? Es Lincoln … Sí, hombre, ha sido mucho demasiado largo … No, mi español no es mejor. No tenemos las mujeres aquí digno de practicar encendido.“

Ein derbes Lachen dröhnte durch den Hörer. „Und ich dachte, Nashville hätte eine lebendige Latinogemeinde.“ Juans Stimme war tief und kultiviert. Lincoln kannte nicht seine ganze Geschichte, aber er glaubte, dass er vielleicht eine Art argentinischer oder bolivianischer Spion war. Er war einfach zu gut vernetzt, um im regulären Polizeidienst zu stehen, selbst wenn er gerade als Polizeichef in Mexikos zersplitterter Polizei diente. Nein, ein Spion wäre eine viel romantischere Vorstellung.

Lincoln wechselte ebenfalls ins Englische, erleichtert, seine Muttersprache sprechen zu können. „Wir haben sehr viele gute Latinos, aber sie riechen mich schon auf zwanzig Schritt Entfernung. Niemand will sich mit einem Cop einlassen, weißt du.“

„Ah ja, mein Freund, das kenne ich. Aber nun zu den wichtigeren Dingen. Ich habe deinen Verdächtigen gefunden.“

Lincoln winkte, um die Aufmerksamkeit seiner Kollegen auf sich zu ziehen. „Juan, ich stelle dich mal eben auf Lautsprecher.“ Er drückte den entsprechenden Knopf, und die körperlose Stimme schwebte durch die Luft.

„Euer Verdächtiger ist am Strand gefunden worden. Um genauer zu sein, bei einer Strandhütte vor dem Pueblo Bonito Hotel. Ein sehr schönes Hotel. Sie haben unser Eindringen nicht sehr freundlich aufgenommen, das kann ich dir verraten. Aus der Entfernung sah es aus, als ob er betrunken auf einer Liege eingeschlafen wäre. Beim Näherkommen haben die Fliegen ihn dann aber verraten.“

„Er ist tot?“

„Es tut mir leid, dir das sagen müssen, aber ja. Ihm ist die Kehle durchgeschnitten worden. Kein schöner Anblick. Die Leute vom Hotel waren sehr verärgert. Sie mussten den Strand für ihre Gäste schließen. Bisher ist er nicht bewegt worden. Wollt ihr ihn zurück?“

Baldwin übernahm. „Hallo, ich bin John Baldwin. Ich kann kurzfristig ein Team vom FBI vorbeischicken, um seine Leiche abzuholen.“

„Ja, das wäre eine gute Idee. Ich möchte lieber nicht wissen, warum Sie ein Team hier in der Nähe positioniert haben. Meine Regierung ist über die ganze Angelegenheit nicht sehr glücklich. Es geht hier um Ihre Frau, hat Lincoln mir erzählt?“

Baldwin trat einen Schritt näher ans Telefon. Seine Stimme brach kaum vernehmbar. „Ja. Dieser Mann war unsere einzige Spur.“

„Es wird noch andere Spuren geben, amigo. Verlieren Sie bloß nicht die Hoffnung.“

Baldwin ließ sich schwer auf den Stuhl neben Lincolns Schreibtisch fallen. Lincoln warf ihm einen Blick zu, dann nahm er den Hörer in die Hand und beendete damit die Lautsprecherverbindung. „Danke für deine Hilfe, Juan. Ich weiß das sehr zu schätzen.“

„Ich bin mir sicher, dass es eine Gelegenheit geben wird, mir diesen Gefallen zurückzuzahlen. Adíos, mi amigo. Espero que encuentres las conchas dulces y calientes.“

Lincoln brauchte einen Moment. Er wiederholte ein paar der Worte laut. Baldwin sah ihn an, und zum ersten Mal seit Stunden zeigte sich ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht. Juan hatte ihm warme und feuchte sexuelle Erfahrungen gewünscht.

Nachdem Lincoln endlich den Sinn von Juans Worten verstanden hatte, lachte er laut und legte auf. Er schaute zu Baldwin hinüber, der an seinen ursprünglichen Platz zurückgekehrt war und den Kopf in die Hände stützte.

„Ich wusste nicht, dass du Spanisch sprichst.“

„Ich stümpere in mehreren Sprachen herum. Nur damit du es weißt, dein Freund ist kein Mexikaner.“ Sein Ton machte klar, dass er das Thema nicht vertiefen wollte. Lincoln verstand den Hinweis und schlug einen anderen Kurs ein.

„Das habe ich schon eine ganze Weile lang vermutet. Gibt es jemand Bestimmten, mit dem ich mich in Verbindung setzen soll, um die Sache zu regeln?“

Baldwin hob den Kopf, ein leichtes Glitzern in den Augen. „Nein, ist schon okay. Ich erledige das. Ich kenne den Teamleiter da unten, er arbeitet an dem Juarez-Fall. Über Weihnachten ist er auf Urlaub in Puerto Vallerta und kann das diskret für uns erledigen.“ Er stand auf und machte eine entschuldigende Geste in Richtung von Taylors Büro. Niemand sagte etwas. Was gab es auch zu sagen? Baldwin nickte langsam, ein verdammter Mann. Er ging in ihr Büro und schloss die Tür hinter sich.

Er weigerte sich, zusammenzubrechen. Sie wäre so unglaublich wütend auf ihn, wenn er jetzt aufgeben würde. Er setzte sich auf die Besucherseite ihres Schreibtischs; er brachte es einfach nicht über sich, ihren Stuhl zu nehmen. Das Büro roch nach ihr, nach Zitronengras und Waffenöl. Er schüttelte das Gefühl ab, das ihn zu ersticken drohte, und wählte eine Handynummer. Garrett Woods antwortete beim ersten Klingeln.

„Baldwin, gibt es was Neues?“

„Nichts Gutes. Wir haben den Fahrer der Limousine aufgespürt. Er liegt tot am Strand von Mazatlán. Mit durchschnittener Kehle. Meinst du, du kannst das für mich regeln? Burke Webb ist unten in Puerto Vallarta, er kann das sicher managen. Es ist das Pueblo Bonito Hotel.“

„Natürlich, ich kümmere mich sofort darum.“ Durch den Hörer drang das Kratzen von einem Stift auf Papier, dann ein Fingerschnippen. Woods’ Stimme sank eine Oktave tiefer. „Wie geht es dir? Ernsthaft. Wie hältst du dich?“

Es hatte keinen Zweck, Garrett was vorzumachen. „So gut es geht. Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass sie wirklich weg ist. Ich muss weiter hoffen, dass sie irgendwo da draußen ist. Den Gedanken, dass sie verwundet, verletzt ist, kann ich ertragen, aber nicht den, dass es sie nicht mehr gibt. Daran will ich nicht einmal denken.“

„Gut. Dann tu es auch nicht. Irgendetwas stimmt hier nicht, und ich bin mir nicht sicher, was. Es gab eine ganze Reihe seltsamer …“

Es gab einen lauten Schrei, dann flog die Tür zu Taylors Büro auf. Marcus stand im Türrahmen, ein dickes Grinsen im Gesicht. „Wir haben etwas!“

„Garrett, ich muss los. Ich melde mich wieder.“ Trotz Garretts Protest legte er auf und ignorierte das sofort darauf folgende Klingeln seines Handys.

„Was habt ihr?“

„John C. Tune Flughafen. Einer der Mechaniker hat es eben erzählt. Er wusste nichts davon, dass Taylor vermisst wurde, und hat es gerade erst aus den Nachrichten erfahren. Er sagt, dass gestern Abend ein Mann und eine Frau eine Cessna bestiegen haben. Normalerweise ist das keine große Sache, aber ihm ist aufgefallen, dass die Frau bewusstlos war. Der Mann hat sie über seiner Schulter getragen und einem der anderen Mechaniker erzählt, sie sei betrunken. Aber jetzt kommt’s, Baldwin. Er sagt, er erinnert sich daran, dass sie etwas Weißes angehabt hatte.“

„Dann nichts wie los. Ich will mit ihm reden. Und zwar sofort.“