14. KAPITEL
Taylor löste ihren Pferdeschwanz, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und band sie dann wieder zusammen. Es war beinahe Mitternacht, sie hatte Hunger und Durst und war fürchterlich müde. Sie nahm ihre leere Dose Cola light und schüttelte sie leicht, als ob sie das Metall dadurch anregen könnte, sich wieder zu füllen und ihr somit einen weiteren Weg zum Getränkeautomaten zu ersparen.
Nachdem das kleine Machtspielchen im Konferenzraum vorüber gewesen war, hatte sich Charlotte Douglas als durchaus fähige Profilerin erwiesen. Ihre Bombe hatte sie alle umgehauen. Fünf Städte, fünf verschiedene Nachahmungsszenarien. Aber nur ein Nachahmer. Ein Meisterimitator.
In Los Angeles hatte er den Santa-Ana-Mörder aus den Fünfzigerjahren kopiert, einen entsetzlichen Verrückten, der die Körper der von ihm getöteten Frauen zerstückelt und in der Wüste verteilt hatte. In Denver war es der LoDo, der Lower Denver Killer, der Prostituierte erdrosselte und ihre Leichen in auffälligen Posen an Straßenecken ablegte. In Minneapolis konnte man seine Taten nicht von denen des Kleinanzeigenmörders aus den Siebzigern unterscheiden, ein durchgedrehter älterer Mann, der seine Opfer dadurch fand, dass er Anzeigen für eine Sekretärin in der Star Tribune schaltete. In New York City schließlich gab er eine Variation des Prospect-Lake-Mörders, der seine Opfer erdrosselte und dann im Prospect Lake Park auf Long Island entsorgte. Mörder, Mörder, Mörder, Mörder, Mörder. Um fünf Uhr hatte Taylor überlegt, ob sie sich nicht den Medien-Thesaurus kaufen sollte. Die Presse war grauenhaft darin, kreative Namen zu entwickeln, und leider musste sie zugegeben, dass das FBI nicht viel besser war.
Es gab einen großen Unterschied zwischen den vorherigen Nachahmungstaten und dem Schneewittchenfall. Alle anderen Mörder waren gefasst und zu Gefängnisstrafen verurteilt worden. Auf zwei von ihnen war sogar die Todesstrafe angewendet worden.
Das Wort von vorhin kam Taylor wieder in den Sinn, selbst wenn sie wusste, dass es nicht hundertprozentig auf alle Fälle passte. Ein Auszubildender. Ein Student des Mordes. Und er hatte seine beste Imitation für den Mörder aufgehoben, der niemals gefasst worden war. Ein Gedanke regte sich in ihrem Hinterkopf. Wenn er so vertraut mit den Nashville-Morden war, kannte er dann vielleicht die Identität des wahren Schneewittchenmörders? Sie notierte sich den Gedanken und schrieb noch einen weiteren Hinweis daneben: Siegelring.
Der Ring war aus den Beweisen verschwunden. Wenn er an einem Tatort auftauchen würde, wäre das durchaus interessant.
Den Nachmittag verbrachten sie damit, die Akten durchzugehen und zu versuchen, die einzelnen Teile zu einem Ganzen zusammenzufügen. Die DNA-Proben passten zu allen Tatorten, befanden sich aber sonst nicht im System, was bedeutete, dass der Täter innerhalb der letzten drei Jahre nicht verhaftet worden war. Ansonsten wäre seine DNA automatisch ins System eingepflegt worden. Es bedeutete nicht, dass er niemals mit der Polizei in Berührung gekommen war, sondern nur, dass er nie in Gewahrsam genommen wurde. Vielleicht gab es irgendwelche anderen Vorwürfe in seinen Akten, die nur darauf warteten, ins System eingegeben zu werden; dann könnten sie ihn sofort identifizieren. Doch im Moment hatten sie ziemlich wenig, um damit zu arbeiten.
In Taylors Kopf rasten die Gedanken nur so durcheinander. Es gab keine Spur von Jane Macias. Wenn er sie sich geschnappt hatte, würde sie Opfer Nummer fünf werden. Wenn der Nachahmer dem Originalmuster der Schneewittchenmorde folgte, würde es noch fünf weitere Opfer geben.
Der Zusammenhang mit den achtzehn anderen Morden, die ebenfalls dem Nashville-Killer zugeschrieben wurden, war eine zu heiße Geschichte, um sie unterm Deckel zu halten. Die Gerüchte begannen sofort, die Runde zu machen. Mitchell Price und Dan Franklin kümmerten sich um die Medien, blieben dabei aber strikt bei den in Nashville verübten Morden. Frage um Frage leiteten sie ans FBI weiter und überließen ihnen die Antwort darauf, wie ein solcher Blutrausch hatte unbemerkt bleiben können. Natürlich, einige der Originalmorde waren in den Fünfzigern, Sechzigern und Siebzigern passiert, und obwohl jede Stadt wusste, dass sie es mit einem Verrückten zu tun hatte, hatten alle, inklusive des FBI, übersehen, dass es einen Zusammenhang gab. Bis Charlotte Douglas einen Blick auf die Akten geworfen hatte. Es war einer dieser stolzen Tage für die Strafverfolgungsbehörden.
Taylor erschrak, als die Tür zum Konferenzraum geöffnet wurde. Sie war wohl ein paar Minuten weggenickt … Schnell setzte sie sich gerade hin, wischte sich mit der Hand übers Gesicht und sah, wie Baldwin sie anschaute.
„Du bist wunderschön“, sagte er.
„Du brauchst ‘ne Mütze voll Schlaf“, erwiderte sie. „Wie geht’s Charlotte?“ Sie hob eine Hand. „Entschuldige bitte, Dr. Douglas.“ Taylor zog die Silben in die Länge und ahmte Charlottes arroganten Tonfall perfekt nach.
Baldwin lächelte. „Sie ist im Hotel und trinkt – natürlich umringt von einer Schar Songwriter – Cosmopolitans an der Bar. Irgendeine Band, die da übernachtet. Sie ist also vollkommen in ihrem Element.“
Taylor überlegte einen Augenblick. Wer spielte diese Woche? Sie wusste, es war jemand Bekanntes … „Bitte sag mir, dass es nicht Aerosmith ist.“
„Dünner Kerl, breiter Mund, schriller Schal. Mehr konnte ich nicht sehen.“
„Jesus. Wie zum Teufel bist du nur an diese Frau geraten?“
Baldwin zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Er rieb sich über die Stirn, als wenn er damit die Erinnerung auslöschen könnte. „Wir haben gemeinsam an einem Fall gearbeitet. Lange Abende, zu viele Drinks … verdammt, du willst das nicht hören. Es war vorbei, ehe es überhaupt angefangen hatte. Sie macht mir Angst. Sie hat nicht einen anständigen Knochen im Leib.“
„Nun, sie hat sich jedenfalls nicht gescheut, dir klarzumachen, dass sie deine Knochen in ihrem Körper jederzeit willkommen heißt. Also halt dich von ihr fern.“
Baldwin lächelte. „Ist das ein Befehl, Lieutenant?“
Taylor stand auf und ging zu ihm hinüber. Sie ließ sich auf seinen Schoß sinken und legte ihre Arme um seinen Hals. „Ja. Weil du und ich in ein paar Tagen eine Verabredung haben, und ich will nicht, dass sie uns das vermasselt. Verstanden?“
Er vergrub seine Nase in ihrem Haar. „Verstanden, Sugar. Außerdem weißt du doch, dass du die einzige Frau für mich bist. In dem Moment als ich dich an dem Tag an deinem Schreibtisch habe sitzen sehen, bis zu den Ohren in Akten und Cola light vergraben, war ich verloren.“
Dieser Augenblick hatte sich auch in ihr Gehirn eingebrannt. „Na ja, ich glaube, ich fand dich auch nicht so schlecht.“ Sie gab ihm einen schnellen Kuss, dann seufzte sie. „Ich weiß nicht, wie viel wir heute Nacht noch erreichen können. Ich bin müde und hungrig und unleidlich. Wollen wir Schluss machen und uns was zu essen besorgen?“
„Auf jeden Fall.“
Sie holten ihre Mäntel und löschten die Lichter im Büro. Baldwin hielt ihre Hand, als sie über den Parkplatz zu ihrem Auto gingen. Die bittere Kälte ließ ihre Nase laufen.
„Worauf hast du Lust?“, fragte er. „Barbecue? Wir könnten kurz bei Rippy’s vorbeifahren.“
Der Gedanke, sich jetzt in die drängende Menge zu stürzen, behagte ihr nicht. Rippy’s war ein legendärer Laden Ecke Broadway und Fifth, ein echter Honky-Tonk mit Blick aufs Partyleben von Nashville und dem besten Pulled Pork in der Stadt. Eine fröhliche, gut besuchte Bar mit Livemusik und einer sorglosen Atmosphäre.
„Nein, mir ist nach etwas Ruhigerem. Wir wäre es mit Radius 10?“
„Oh, gute Wahl. Die haben letzte Woche ihre Weinliste geändert. Lass uns schauen, was sie nun Gutes haben.“
Baldwin fuhr, und Taylor beobachtete das an ihrem Fenster vorbeiziehende Leben. Sogar zu dieser späten Stunde waren die Bürgersteige voller Menschen. Auf der Second Avenue trieben sich Gangmitglieder und leichtsinnige Highschool-Schüler herum, die versuchten, mit gefälschten Ausweisen in die Clubs zu kommen. Die alten Bars waren inzwischen alle verschwunden. Ihr Lieblingsrestaurant, das Mère Bulles, hatte zusammengepackt und sich in einer ruhigeren Gegend in Brentwood niedergelassen, zwanzig Minuten südlich der Stadt. Stattdessen dröhnten nun Pop und Techno in die Nacht. Die rund um die Uhr geöffneten Bars zwangen die Polizei, stete Präsenz zu zeigen. Sie war traurig, diese Gegend so verloren, so anders zu sehen als zu ihrer Jugendzeit.
Baldwin bog auf den Broadway ab. Sie fuhren den Lower Broadway entlang, in dem die Country-Bars und Kneipen gefüllt waren mit Leuten, die hofften, jemanden zu entdecken, den sie kannten. Hier trieben sich die Songwriter herum – Menschen, die es nicht schafften, eigene Platten zu machen, aber für die erfolgreichsten Sänger schrieben, und Musiker, die auf gut Glück einen Abend mitspielten und hofften, entdeckt zu werden. Sie alle drängten sich in den Bars der Lower Broad und gingen ihrem Gewerbe nach.
An der Union Station bogen sie erneut ab, fuhren am Flying Saucer vorbei, ordneten sich links auf die McGavock ein und hielten direkt vor dem Radius 10. Baldwin warf dem Parkjungen die Autoschlüssel zu, und von dem Lärm und dem Chaos der Straße traten sie in den kühlen, großzügigen Raum mit seinen frei liegenden Balken und der L.A.-Ästhetik – geradezu repräsentativ für das Phänomen „Nouveau Nashville“.
Über die letzten Jahrzehnte hatte Nashville sich einer gewissen Schizophrenie anheimgegeben. Der Ruf als kleines Atlanta war wohlverdient – obwohl die Country-Musik-Szene immer noch den Ton angab, gab es mittlerweile viele Alternativen, sich zu amüsieren. Die unglaubliche Schermerhorn Symphony Hall und das First Art Center zogen die etwas gebildetere Klientel an, um die sich ebenfalls die überall neu eröffnenden esoterischen Restaurants und anspruchsvollen Bars bemühten. Taylor liebte diese Plätze. Es waren für sie Rückzugsorte von ihrer manchmal zu profanen Welt.
Sie aßen gut – gebratenen Zackenbarsch für Taylor, Osso buco für Baldwin – und teilten sich eine Flasche Shiraz. Satt und zufrieden lehnten sie sich in den Stühlen zurück und sprachen mit leiser Stimme über den Fall.
„Ich mache mir solche Sorgen um Jane Macias.“ Taylor spielte mit ihrem Weinglas. Die rubinrote Flüssigkeit drehte sich träge, als sie den Stiel zwischen ihren Finger schwenkte. „Ich hasse das, Baldwin. Ich will sie nicht so auffinden wie die anderen. Habe ich dir erzählt, dass Giselle St. Claires Großeltern mich heute angerufen haben? Sie waren so … süß. Bedankten sich für die nette Befragung durch Marcus und machten uns Komplimente dafür, wie wir den Fall handhaben. Sie sind überwältigt vor Trauer um ihre tote Enkelin, und dennoch rufen sie an, um uns zu unterstützen und uns wissen zu lassen, dass sie für uns beten. So etwas erlebe ich nicht allzu oft.“
„Habt ihr Giselles letzte Aktivitäten schon nachvollziehen können?“
„Das wird langsam zu einem echten Albtraum. Marcus ist in einer Sackgasse gelandet. Giselle und ihre Großeltern waren in Gatlinburg Ski fahren. Sie haben dort zu Abend gegessen und sind dann gemeinsam zurück nach Nashville gefahren. Weil sie morgens früh aufgebrochen waren, waren sie am Abend entsprechend erschöpft. Sie wollten nur noch heim und ins Bett. Als sie Giselle das letzte Mal sahen, saß sie im Wohnzimmer und las ein Buch. Erst als sie am nächsten Morgen aufgestanden sind und sich Frühstück machten, merkten sie, dass sie fort war. Wir haben sie gefunden, bevor sie überhaupt vermisst wurde. Das Muster ist das gleiche wie bei den anderen Mädchen. Sie verschwinden aus ganz normalen Situationen, und niemand vermisst sie, bis es zu spät ist. Vielleicht haben wir wenigstens mit Jane eine Chance. Wenn wir nur wüssten, wo wir suchen müssen.“
„Das ist immer das Problem, Taylor. Hast du inzwischen was von Giselles Mutter gehört?“
„Sie dreht gerade einen Film in Polen und kann erst morgen zurückkommen. Mit der Medienmeute, die ihr folgt, kann sie uns das Leben ganz schön schwer machen. Gott verhüte, dass sich jemand zwischen eine Kamera und Remy St. Claire stellt. Aber wir kriegen sie schon in den Griff. Mich stört etwas anderes. Dieser verdammte Siegelring. Warum fehlt gerade dieses eine Stück aus der Asservatenkammer?“
„Er kann einfach verloren gegangen sein. So etwas passiert“, sagte Baldwin. Er nahm die Karaffe und goss ihnen noch einen Schluck Wein ein.
„Ich weiß. Aber irgendetwas daran nagt an mir. Du wirst mich sehr wahrscheinlich für verrückt erklären, wenn ich dir erzähle, warum.“
„Mir was erzählst? Lass mich raten. Dein Dad hatte einen Siegelring.“
Sie schaute ihn genervt an. „Woher weißt du das?“
„Ich weiß es nicht, ich habe einfach geraten.“
„Nein, er war bestimmt nicht der Mörder. Ich denke, er hat einen Ring getragen, als ich jünger war, aber das war ein Schulring. Ich erinnere mich, dass er den verloren hat. Er war so wütend darüber. Nein, lass es mich erklären. Hab einen Moment Geduld, okay?“
„Okay.“ Baldwin lehnte sich bequem zurück.
„Ich habe immer wieder diese … Vision, könnte man es wohl nennen. Von damals, als ich noch ganz klein war. Wir waren gerade erst in das große Haus gezogen …“
„Taylor, das war kein großes Haus. Das war ein verdammter Palast.“
„Ach, nun übertreib mal nicht.“
„Süße, du hattest Personal, das in dem Haus gewohnt hat.“
„Das war nicht mein Personal.“
„Und ich nehme an, dass du ganz viele Sachen selber machen musstest. Wäsche waschen, Geschirr spülen und so.“
„Das ist nicht fair. Es ist ja nicht so, dass ich um den Lebensstil meiner Eltern gebettelt hätte, und das weißt du auch.“
„Ich weiß, Sweetie, ich zieh dich nur gerne auf. Sieh der Sache ins Gesicht, du warst eine kleine Prinzessin.“
„Ja, die Prinzessin auf der Erbse. Nur dass die Erbse in meinen Fall der Vater war, der in den Knast ging, weil er einen Richter geschmiert hatte, oder meinen Geburtstag vergaß, weil er und Mom irgendwo in Europa waren.“
„Wenigstens hattest du Eltern.“ Baldwin schaute in sein Weinglas, und Taylor streckte die Hand aus und berührte seinen Arm.
„Ich weiß. Du hast recht. Aber manchmal überlege ich, ob es nicht besser wäre, geliebt und verloren zu haben, als ignoriert worden zu sein.“
„Das würde ich wirklich niemandem wünschen, Taylor. Als ich meine Eltern verlor … nun, so etwas möchte ich nicht noch einmal durchmachen. Es ist unmöglich zu verstehen, wenn man so jung ist und auf einmal keinen Halt mehr hat. In der einen Minute sind sie da, in der nächsten nicht mehr, und du wirst sie nie mehr wiedersehen. Das war hart.“ Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln. „Egal, wir sprachen ja gerade über Versailles.“
„Oh, halt den Mund. Es war ein großes Haus, okay? Zufrieden?“
„Ja, Liebste. Erzähl mir von deiner Vision.“
Sie schloss ihre Augen und versuchte, sich die Szene ins Gedächtnis zu rufen. „Es ist nicht so sehr eine Vision als vielmehr eine Erinnerung. Jedes Jahr zu Silvester gaben meine Eltern eine große Party mit Motto, aufwendigem Catering und so weiter. In dem Jahr, in dem wir in das Haus gezogen sind, war es ein Kostümball. Kitty verkleidete sich als Marie Antoinette. Ich erinnere mich in allen Einzelheiten an das Kostüm, von dem weit ausladenden Kleid bis zu der turmhohen Perücke. Vier Mann mussten ihr beim Anziehen helfen. Verrückt. Egal, ich hatte mich oben an der Treppe versteckt und beobachtete das Treiben. Es gab da diese kleine Nische, in die ich gerade so hineinpasste, und manchmal saß ich da und schaute den Partys zu.“
„Wie in ‘Meine Lieder – meine Träume’.“ Baldwin lachte.
„Was?“ Sie öffnete die Augen. Er sprudelte beinahe über vor Fröhlichkeit.
“Kennst du das nicht? Meine Lieder – meine Träume? Die Trapp-Kinder, die darin dieses kleine Lied sangen – ‘So long, farewell …’“
„Auf Wiedersehen, good night. Ja, ich verstehe. Wobei, da ich ein Einzelkind war, verstehe ich den Bezug eigentlich doch nicht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wenn du mich weiterhin unterbrichst, werden wir nie zum Punkt kommen.“ Sie schloss erneut die Augen und überließ sich der Erinnerung.
„Ich schaute von der Treppe aus zu. Ich erinnere mich, meine Eltern an dem Abend mit einer Gruppe von Freunden im Foyer gesehen zu haben. Mein Vater musste von den Männern ganz schön was einstecken wegen des neuen Hauses, und irgendwas war mit einem von ihnen. Ich kann meinen Finger nicht drauflegen, aber jedes Mal, wenn ich an den Siegelring denke, sehe ich dieses Bild der lachenden und scherzenden Männer vor mir, von denen einer husten muss und sich die Hand vor den Mund hält. Aber das ist alles, an mehr erinnere ich mich nicht.“
„Du meinst, dass einer der Männer einen Siegelring getragen hat?“
Sie öffnete die Augen. „Ja, vielleicht. Vor allem im Zusammenhang mit dem, was Martin Kimball gesagt hat: dass er immer dachte, der Mörder wäre ein Klient von Burt Mars gewesen, weil der Brief auf dessen Drucker ausgedruckt worden war. Burt Mars war der Buchhalter meines Vaters.“
„War er korrupt?“
„Autsch.“ Was für ein Erbe, einen Vater zu haben, bei dem jeder, wenn sein Name oder der eines seiner Bekannten fiel, sofort an Korruption dachte.
„Entschuldigung, so war das nicht gemeint.“
Taylor beließ es dabei. „Ich weiß nicht, ob er korrupt war oder nicht. Aber wenn er mit meinem Vater zusammengearbeitet hat und der Mörder Mars gut genug kannte, um sich Zugang zu seinem Computer zu verschaffen und darauf einen Brief an die Polizei zu schreiben, dann stelle ich mir die Frage, ob es da vielleicht, ganz vielleicht eine Verbindung gibt.“
„Lass mich das mal kurz rekapitulieren. Du glaubst, dass dein Vater den Schneewittchenmörder zu seiner aktiven Zeit vielleicht gekannt hat?“ Baldwin lehnte sich vor, der Wein und die Witze waren vergessen.
„Ich sagte doch, dass es verrückt ist. Mein Dad war vieles, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er einfach zusieht, wie solche Dinge geschehen. Nein, wenn er ihn kannte, dann nur oberflächlich, er war ganz bestimmt kein enger Freund von ihm.“
„Bist du dir da sicher?“
„Ich bin mir in diesem Fall bei gar nichts sicher. Ich würde allerdings wirklich gerne herausfinden, was mit diesem Siegelring passiert ist. Das könnte Antworten auf ein paar Fragen liefern. Ob es bei der Lösung des Falles helfen würde, weiß ich nicht.“
„Zu schade, dass dein Dad im Moment nicht greifbar ist, sonst hätten wir ihn fragen können.“
Ja, zu schade. Taylor schenkte Baldwin ein schwaches Grinsen und trank ihr Weinglas aus.
„Entschuldigen Sie bitte.“
Der Mann vom Parkservice trat mit ihren Schlüsseln an den Tisch. Er reichte sie Baldwin. „Meine Schicht endet jetzt. Ich habe Ihr Auto schon vorgefahren, es steht direkt vor der Tür.“
Taylor schaute auf ihre Uhr. Es war beinahe zwei.
„Oh, das tut mir so leid. Wir haben gar nicht bemerkt, wie spät es schon ist.“
Baldwin zog sein Portemonnaie hervor und gab dem jungen Mann einen Zehner. Der nickte dankend und ging dann in Richtung Küche, vermutlich, um sich ein paar Reste einzupacken als zusätzliche Bezahlung für den Abend.
„Wir sollten dann auch mal los.“ Baldwin stand auf und streckte sich.
„Ja. Schnappen wir uns ein paar Stunden Schlaf und fangen morgen mit frischem Kopf neu an.“
Sie suchten ihre Sachen zusammen, stiegen ins Auto und fuhren in gedankenverlorenem Schweigen nach Hause.