43. KAPITEL
Nashville, Tennessee
Dienstag, 23. Dezember
13:00 Uhr
Bei strahlend blauem Himmel landeten sie in Nashville. Eine steife Brise erwartete sie. Baldwin legte Taylor seinen Kaschmirblazer um, damit sie nicht fror. Er hatte ihr zwar alles Mögliche an Sachen mitgebracht, allerdings ihren Mantel vergessen. Sie hatte sich geweigert, in New York einen zu kaufen, weil sie zu Hause genügend Mäntel und Jacken hatte. Außerdem brauchte sie für die Autofahrt zum Flughafen keinen Mantel; so kalt war es in New York auch nicht gewesen. Anders als in Nashville. Dank einer seltsamen atmosphärischen Inversion war es hier viel kälter als beim nördlichen Nachbarn. Minus sieben Grad. Sie schlüpfte in Baldwins Blazer und war dankbar für die Wärme.
Sie stiegen eine kleine Metalltreppe hinauf, die zum Flughafenterminal führte. Als sie durch die Tür ins Warme traten, fing eine kleine Gruppe Presseleute an zu rufen, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Je näher sie kamen, desto mehr klangen die Reporter wie ein Bienenschwarm.
„Lieutenant, können Sie uns sagen, wo Sie gewesen sind?“
„Stimmt es, dass Sie vom Mob entführt wurden?“
Taylor erblickte Fitz und Sam, die etwas abseits standen. Die Reporter ignorierend, ging sie direkt auf sie zu. Fitz zog sie in eine feste Umarmung. Das Hintergrundgeräusch aus surrenden Kameras und klickenden Fotoapparaten war beinahe laut genug, um danach zu tanzen.
„Es tut verdammt gut, dich zu sehen, Mädchen. Du hast mir ein paar Sorgen gemacht.“
Sie erwiderte die Umarmung einfach nur und wandte sich dann Sam zu. Ihre beste Freundin hatte Tränen in den Augen. Am Tag zuvor hatten sie am Telefon miteinander gesprochen, sodass es jetzt keiner Worte bedurfte. Sam umarmte Taylor, und beide klammerten sich aneinander, als hinge ihr Leben davon ab. Ihr ging ein Gedanke durch den Kopf, der ihr den Magen zusammenzog. Wenn Sam wie geplant mit ihr in der Limousine zur Kirche gefahren wäre, wäre sie jetzt sehr wahrscheinlich tot. Taylor drückte noch ein bisschen fester und stieß ein stummes Dankgebet an denjenigen aus, der an dem Tag seine wachende Hand über sie beide gehalten hatte.
Baldwin ging währenddessen auf die Presseleute zu. Taylor hörte, wie er etwas sagte, sie für ein öffentliches Statement auf später vertröstete. Sie und Sam ließen einander los und hakten sich recht und links bei Fitz unter. Gemeinsam gingen sie den Flur entlang, der nach draußen führte. Fitz fing sofort an, sie aufzuziehen.
„Ich kann einfach nicht glauben, dass du unsere Pläne ruiniert hast. Wir wollten eine Ziege in eure Hochzeitssuite bringen.“
„Oh, hör auf, das wolltet ihr nicht.“
Fitz nickte, und Sam kicherte. „Doch, das hatten wir wirklich vor. Du erinnerst dich an Alfred Turner, Taylor? Er ist vor ein paar Jahren in Ruhestand gegangen und hat in Williamson County einen Bauernhof mit Streichelzoo eröffnet. Alfred wollte uns eine seiner Süßen leihen.“
„Will ich wissen, was wir damit hätten tun sollen, oder ist es besser, wenn ich unwissend bleibe?“
Fitz schüttelte den Kopf und fing Sams Blick auf. Ihre Augen funkelten fröhlich. „Nö, das willst du nicht wissen.“
„Ich werde sehen, was ich tun kann, um die Sache neu zu organisieren, damit ihr eure Scherze noch machen könnt.“ Taylor boxte ihm leicht in die Schulter.
Sie erreichten die Tür und traten in die eisige Luft hinaus. Vier Übertragungswagen standen am Bürgersteig aufgereiht. Fitz zeigte auf sie.
„Du wirst irgendwann mit der Presse reden müssen.“
„Ja, später, wenn ich die ganze Sache verarbeitet habe.“
Sam drückte ihren Arm. „Ich muss zurück ins Büro. Ich wollte nur sichergehen, dass es dir gut geht.“
„Ja, mir geht es gut. Geh nur.“
Sam nickte und eilte quer über den Vorplatz, um im Parkhaus zu verschwinden.
Fitz hielt Taylor die Tür zu seinem Dienstfahrzeug auf, dann stieg er selber ein, startete den Motor und stellte die Heizung an. Taylor war noch dabei, Baldwins Blazer auszuziehen, als Baldwin selber auch schon auf die Rückbank schlüpfte. Kurz darauf waren sie auf dem Weg in die Stadt.
Sie fuhren direkt ins CJC. Fitz sprach mehr über alles und jedes als über irgendetwas etwas Wichtiges. Weder zur Ballistik in den Fällen Richardson und Gonzalez noch zum Aufenthaltsort von Jane Macias gab es etwas Neues. Nur auf hartnäckige Nachfrage erzählte er ihr von den ausführlichen Such- und Bergungsarbeiten nach ihrem Verschwinden, und Taylor schwor, den Namen jeder einzelnen Person herauszufinden, die auf der Suche nach ihr die Nacht und den Tag an dem eiskalten Fluss verbracht hatte. Für ihre Mühen würde sie sich persönlich bedanken. Der Gedanke machte sie sprachlos. Baldwin hatte nicht viel gesagt, außer dass er nicht hatte glauben können, dass sie fort sei, und sich geweigert hatte, die Suche nach ihr aufzugeben. Fitz hingegen nannte ihr alle Einzelheiten, und sie spürte die Tränen in den Augenwinkeln, als sie an den Schmerz dachte, den sie allen verursacht hatte.
Die zweite Hälfte des Fluges war Baldwin sehr still gewesen, und bei der Landung hatte er abgelenkt gewirkt, sodass Taylor ihn sich selbst überlassen hatte. Sie hatte die Zeit genutzt, um ihr Gehirn nach dem Namen des Mannes mit dem Siegelring zu durchforsten. Aber er wollte ihr einfach nicht einfallen. Sie brauchte die Bibliothek, die Gesellschaftsseiten ihrer Kindheit. Damals waren eine Menge Fotografen auf der Feier gewesen. Die Presse von Nashville war auf den Abendgesellschaften ihrer Eltern immer anwesend. In der Bibliothek würde sie den dreißig Jahre alten Societyklatsch bestimmt noch finden. Sie hasste es, Zeit darauf zu verschwenden, aber sie hatte keine andere Wahl.
Am CJC hatte sich ein regelrechtes Begrüßungskomitee eingefunden. Lincoln und Marcus standen in ihre Mäntel gehüllt auf der obersten Treppenstufe und hüpften auf der Stelle, um sich warm zu halten. Captain Price stand direkt hinter der Tür und wartete darauf, ihr einen Kuss auf die Wange zu geben.
Sie wurde mit Umarmungen begrüßt und Baldwin mit kräftigem Händeschütteln und Rückenklopfern. Lange hielten sie sich allerdings nicht mit den Feierlichkeiten auf. Schließlich mussten sie einen Mörder fassen.
Baldwin nahm Lincoln beiseite und sprach mit ihm außer Hörweite der anderen. „Ich habe eine Bitte.“
„Immer raus damit.“
„Ich würde mich gerne mit deinem südamerikanischen Freund unterhalten. Juan. Kannst du das arrangieren?“
„Natürlich. Ich rufe ihn gleich an. Soll er dich hier oder auf deinem Handy zurückrufen?“
„Handy wäre gut. Danke, Lincoln.“
„Kein Problem. Hast du …? Vergiss es. Ich ruf ihn jetzt an.“
Baldwin ging zurück in Taylors Büro, schloss die Tür hinter sich und ließ sich in einen Stuhl fallen.
„Ich habe eine Theorie“, fing er an, aber da klingelte ihr Telefon. Entschuldigend hob sie eine Hand und nahm den Anruf entgegen.
„Taylor? Kleines, bist du das?“
Die Stimme wieder. Dieses Mal tiefer, voller. Keine Aufzeichnung. Taylor versuchte, nichts zu sagen, aber das Wort entschlüpfte ihr doch. „Daddy?“
„Ja, Taylor, ich bin’s, Daddy. Win.“ Er flüsterte: „Du hast mir das Leben in den letzten Tagen ein bisschen schwer gemacht, Süße.“
„Nenn mich nicht so. Ich bin nicht deine Süße.“
„Taylor, hör mir zu. Du musst Mr. Delglisis …“
Leise drückte sie den Knopf für den Lautsprecher. Baldwin beugte sich vor, um zuzuhören. „… Anweisungen folgen. Sorg einfach dafür, dass die Massagesalons verschwinden. Taylor, das tut mir alles so leid. Ich versuche, es wiedergutzumachen. Ich weiß, dass ich es vermasselt habe, aber ich …“
Ihr Blut fing an zu kochen. Das vertraute Gefühl, es nicht fassen zu können, kroch in ihr hoch. Ihr Vater war nicht tot. Er lebte, arbeitete für einen verdammten Gangsterboss und wollte, dass sie die Augen vor seinen illegalen Aktivitäten verschloss. Absolut niemals nicht.
„Stopp. Halt einfach den Mund. Was glaubst du, wer ich bin, Dad? Du scheinst zu vergessen, dass ich eine vereidigte Polizeibeamtin bin. Ich arbeite für die guten Jungs, Win, nicht für die bösen. Nicht für deinesgleichen.“
„Taylor, hör schon auf. Du hast keine Ahnung, in was für einer Situation wir uns befinden. Du musst mit ihm kooperieren, Taylor. Wenn nicht, dann …“
„Dann was, Win? Mit was kannst du mir dieses Mal drohen? Reicht Entführung dir nicht? Jetzt wirst du dafür sorgen, dass man sich um mich kümmert?“
Ein lautes Getöse drang durch den Hörer. Es klang wie eine Mischung aus Schlägen und Schreien. Dann ertönte eine andere Stimme durch die Leitung.
L’Uomo lachte. Ein höhnischer, herabsetzender Klang. „Oh Win. Ich hätte wissen müssen, dass ich dir nicht trauen kann. Kaum lässt man dich eine Sekunde allein, versuchst du, dein kleines Mädchen zu warnen. Hallo, Lieutenant. Schön, mal wieder mit Ihnen zu sprechen. Ich wünschte nur, es wäre unter anderen Umständen.“
„Was haben Sie mit meinem Vater gemacht?“
„Noch nichts. Aber ich werde ihn töten, wenn Sie nicht kooperieren. Und zwar schön langsam und qualvoll.“
Taylor merkte, wie sie blass wurde. Die gemischten Gefühle – sie hasste ihren Vater, aber sie liebte ihn auch. Verdammt. Beide Männer waren Scheißkerle. Sie biss die Zähne aufeinander und spuckte die Worte aus, als hinterließen sie einen bitteren Geschmack in ihrem Mund.
„So wie Sie es mit Burt Mars gemacht haben? Ich schwöre Ihnen, Sie Schweinehund, wenn Sie ihm irgendetwas antun, werde ich Sie persönlich zur Strecke bringen.“
„Nein, ganz bestimmt nicht. Weder Sie noch Ihr Verlobter haben so viel Macht, also brauchen Sie gar nicht erst zu ihm zu rennen. Mars war ein Kollateralschaden. Ich tue, was getan werden muss, Lieutenant. Vergessen Sie das nicht. Jetzt ist es aber an der Zeit, mit dem Spielen aufzuhören. Sie müssen mir jetzt ein für alle Mal zuhören: Ich biete Ihnen einen Deal an.“
„Einen Deal? Mit einem Verbrecher? Ich glaube nicht.“
„Oh, ich glaube, Sie werden mitspielen, wenn Sie erfahren, was ich anzubieten habe. Etwas, um Ihnen das Ganze etwas zu versüßen. Sie drehen meinen Interessen in Nashville den Rücken zu, und ich werde nicht nur Ihren Vater am Leben lassen, sondern Ihnen auch den Schneewittchenmörder präsentieren.“
Taylor erwiderte nichts, sondern sah nur Baldwin an. Er schrieb etwas auf einen Zettel und reichte ihn über den Tisch. Sie las die Nachricht: Beruhige dich.
Taylor nickte und versuchte, gefasster zu klingen.
„Delglisi, das kann ich nicht tun. Ich kann meine Augen nicht vor illegalen Aktivitäten verschließen.“
„Doch, das können Sie. Und das werden Sie auch. Sie halten das Leben Ihres Vaters in Ihren Händen. Den Kopf des Schneewittchenmörders auf einem Silbertablett, Lieutenant. Ich denke, das ist ein großzügiges Geschenk.“
Mit erhobenen Augenbrauen sah sie Baldwin an und beschloss, das Risiko einzugehen, den Gauner aufs Kreuz zu legen.
„Ja, da stimme ich zu. Sehr großzügig. Ihr Angebot hat nur einen Haken. Ich weiß, wer der Schneewittchenmörder ist. Also funktioniert Ihr kleiner Deal nicht. Sie müssen meinen Vater gehen lassen.“
Das Lachen, das durch den Hörer tönte, ließ Taylor einen Schauer über den Rücken laufen. „Sie wissen nicht, wer er ist, sonst hätten Sie ihn schon längst verhaftet. Letzte Gelegenheit, Lieutenant. Ich gebe Ihnen ein paar Stunden, um darüber nachzudenken.“
Damit legte er auf. Taylor vergrub das Gesicht in den Händen. Baldwin streichelte ihren Arm, bis sie schließlich ihren Kopf hob.
„Und nun?“, fragte sie.
„Ich warte auf einen Anruf. Wenn meine Theorie stimmt, können wir ihn zu Fall bringen. Es gibt da jemanden, der eventuell ein bisschen mehr über seine Aktivitäten weiß und uns sagen kann, ob er nur blufft. Und wir müssen den Schneewittchenkiller fassen. Das ist unsere einzige Verhandlungsmasse.“
„Verhandlungen? Ich hoffe, du denkst nicht daran, mit diesem Verbrecher einen Handel abzuschließen.“
Baldwin lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Ich dachte, du wolltest, dass ich alles in meiner Macht Stehende tue, um ihn davon abzuhalten, deinem Vater wehzutun.“
„Er wird ihm nichts tun. Sie stecken da gemeinsam drin, das spüre ich. Außerdem habe ich einen leisen Verdacht bezüglich Delglisi. Lincoln hat gesagt, dass in Jane Macias’ Notizen der Name Malik direkt neben Delglisi stand, oder? Was, wenn Anthony Malik der liebe Edward Delglisi ist? Das würde vieles erklären. Eldridge sagte, sie wissen, dass Delglisi nicht L’Uomos richtiger Name ist.“
Baldwin nickte. „Das klingt logisch.“
“Und sie sind seit Jahren befreundet. Daran erinnere ich mich. Mars, mein Dad, der Typ, von dem ich denke, dass er der Killer im Schneewittchenfall ist, alle feiern fröhlich gemeinsam Silvester. Wenn ich tiefer in meine Erinnerung eintauchen und die Stimme des vierten Mannes hören könnte, bin ich sicher, dass es Malik war. Der Name des Schneewittchenmörders fällt mir noch nicht ein, aber wenn ich die Gesellschaftsseiten aus der Zeit durchgehe, werde ich bestimmt ein Foto von ihm und dem verdammten Siegelring finden. Wenn es auch einen Schnappschuss von Malik gibt, gelingt es mir vielleicht, alles zu verbinden und Delglisi als Malik zu identifizieren. Dann hätten wir einen echten Beweis.
Aber verdammt soll ich sein, wenn ich auf die Anweisungen einer Gruppe alter Krimineller höre, die versuchen, sich gegenseitig zu übertrumpfen. Kranke Scheißkerle. Mein Vater wird sich um sich selber kümmern müssen. Aus diesem Schlamassel werde ich ihm nicht raushelfen.”
Es klopfte an ihrer Tür. „Herein“, rief sie.
Marcus öffnete die Tür. Im Licht der fluoreszierenden Deckenlampe sah er sehr blass aus. Wie angewurzelt stand er im Türrahmen, und seine Stimme zitterte ein wenig, als er sprach.
„Wir haben ein weiteres Opfer.“