6. KAPITEL

Taylor hob beide Daumen und reckte die Hände in einer Siegergeste gen Himmel. „Ja! Gute Arbeit, Marcus. Lass uns alle im Einsatzraum zusammenrufen. Giselle St. Claire. Wieso kommt mir der Name nur so bekannt vor?“

In dem Moment, wo sie es sagte, fiel es ihr ein. Sie stöhnte laut auf.

„Oh Mist. Marcus, du holst besser Price ans Telefon. Er wird das wissen wollen.“

„Wer ist sie? Warum sagt mir der Name nichts?“

„Bring mir einfach Price, okay? Ich erzähl’s dir in einer Minute.“

Er trat zurück, und sie wandte sich an Baldwin. „Weißt du, wer das ist?“

„Ist sie nicht die Tochter von jemand Berühmten?“

„Das könnte man so sagen. Sie ist die Tochter von Remy St. Claire. Das ist es auch, was mich die ganze Zeit so irritiert hat. Sie sieht aus wie eine dunkelhaarige Version von Remy. Verdammt, sie kann nicht älter sein als …“ Taylor rechnete nach. Mann, sie wurde langsam alt. „Ich denke, Giselle war so um die fünfzehn, auch wenn sie älter aussah. Oh verdammt. Das ist nicht gut. Remy und die Presse werden hinter uns her sein wie ein Rudel Füchse hinter den Hühnern. Verdammt, verdammt, verdammt.“

Remy St. Claire. Taylor wusste nicht, was sie von ihr halten sollte. Sie war Schauspielerin, aber nur noch selten in tragenden Rollen zu sehen. Stattdessen zog sie unablässig ihre Kreise und sonnte sich in ihrer Rolle als „Charakterdarstellerin“. Sie war häufiger Gast im Talkshow-Zirkus. Dass sie sich wie eine Schmeißfliege benahm, machte sie zum gefundenen Fressen für die Klatschreporter. Vor Jahren hatte sie Nashville verlassen und eine Weile Erfolge in Hollywood gefeiert, bevor sie langsam in der Versenkung verschwunden war. Sie war mit zwei verschiedenen Männern dreimal verheiratet gewesen und hatte von einem von ihnen ein Kind bekommen. Taylor konnte sich nicht mehr erinnern, von wem. Ein kleines Mädchen namens Giselle mit dunklen, fließenden Haaren.

Als die kleine Giselle größer wurde, verursachten die sie umschwirrenden Paparazzi ihrer Mutter Kopfschmerzen. Remy war nicht glücklich mit dieser überbordenden Aufmerksamkeit, die ihr einziges Kind bekam, und schickte es fort zu seinen Großeltern, weit weg vom Glanz und Glamour Hollywoods. Giselles Großeltern schrieben sie sofort in die Alma Mater ihrer Mutter in Nashville ein – in die Father Ryan Highschool. Sie nahmen an, dass die erstklassige katholische Schule das Beste für ihre geliebte Enkeltochter wäre, und die Abwesenheit ihrer Mutter wollten sie mit grenzenloser Liebe kompensieren.

Taylor und Remy waren auf der Father Ryan Freundinnen gewesen, wenn auch nur kurz. Sie waren keine Feinde geworden, sondern hingen nur irgendwann einfach nicht mehr in denselben Cliquen herum. Die Frau war eine Drama-Queen, nur zufrieden, wenn sie im Mittelpunkt stand und alle Aufmerksamkeit bekam. Wenn sie herausfand, dass ihr einziges Kind während der Schicht ihrer ehemaligen Klassenkameradin ums Leben gekommen war, würde die Hölle losbrechen.

Taylor lehnte sich gegen die Wand und verdammte sich dafür, nicht auf den Rat ihres alten Freundes Fitz gehört zu haben. Sie hätte einfach das Gebäude verlassen und die nächsten drei Tage damit verbringen sollen, sich über Porzellan und mit Monogrammen versehene Handtücher Gedanken zu machen. Trotz der ausdrücklichen Erklärung, dass sie keine Geschenke haben wollten, stapelten sich die Hochzeitspräsente bereits im Haus. All die noch ungeschriebenen Dankeskarten ließen Taylor an ihre Mutter denken. Kitty war für die Hochzeit nicht abkömmlich, Gott sei Dank. Wenn sie allerdings wüsste, dass Remy St. Claires Tochter ermordet worden war, wäre sie in null Komma nichts aus Gstaad zurück. Eine noch so kleine Begegnung mit einer Prominenten würde Kitty für Wochen beflügeln, selbst wenn sie mit erhobener Nase so tun würde, als bedeutete es ihr gar nichts. Guter Gott, ihre Mutter war so eine Zicke.

Baldwin lehnte sich neben ihr an die Wand und spielte mit dem Ende ihres Pferdeschwanzes.

„Evanson hat angerufen. Die offizielle Anfrage ist genehmigt worden. Mein Team in der Außenstelle steht dir jederzeit zur Verfügung. Wie willst du die Sache angehen, Taylor?“

Sie schätzte seine Art, ihr seinen Respekt zu zeigen. Baldwin hätte jederzeit darum bitten können, in die Ermittlungen einbezogen zu werden, aber er hatte sich zurückgehalten und den örtlichen Behörden erlaubt, den Fall auf ihre Art anzugehen. Bis jetzt war er nur am Rande an den Ermittlungen beteiligt gewesen. Die aktive Einbindung des FBI würde die Dynamik verändern, aber sie brauchten die Unterstützung. „Lass uns erst einmal abwarten, was Price zu sagen hat.“

Marcus winkte ihnen aus dem Konferenzraum zu. Taylor nahm einen tiefen Atemzug, dann betrat sie den Raum und setzte sich an den langen Tisch. Der Lautsprecher war an.

„Hey, Cap. Was macht Florida?“

Captain Mitchell Price war gerade in seinem längst überfälligen Urlaub. Oder versuchte es zumindest. Ihn in Florida anzurufen war ein sicheres Zeichen dafür, dass hier in Nashville die Hütte brannte. Er hielt sich gar nicht erst mit ihrem Vorgeplänkel auf.

„Was ist los?“

„Abgesehen davon, dass unser fröhlicher kleiner Schneewittchenmörder sich entschieden hat, Remy St. Claires Tochter zu töten, nicht viel. Wie beißen die Fische?“

Taylor musste beinahe ein Lachen unterdrücken, als das tiefe Stöhnen durch den Lautsprecher drang.

„Muss ich zurückkommen?“

„Nun, ich denke, wir schaffen das alleine, aber wenn Remy in die Stadt einfällt und die Kameras in Position fahren, muss der Chief involviert werden.“

„Ich habe einen Anruf aus Quantico erhalten. Ist Baldwin da?“

„Ja, er steht hier. Ich habe ihn heute Morgen um Unterstützung gebeten – die offizielle Anfrage ist gerade genehmigt worden. Der gestrige Mord hat zwei interessante Dinge ans Licht gebracht. Die Substanz, die wir schon seit einiger Zeit versuchen zu identifizieren, ist eine Verbindung aus mehreren Ölen, unter anderem Weihrauch und Myrrhe. Wir sprechen gerade darüber. Die zweite Sache ist, dass er brutaler und unbeherrschter vorgeht. Er hat das Mädchen am Fundort umgebracht und die Halswunde mit Lippenstift nachgezogen.“

Der Fluch kam laut und klar durch den Lautsprecher, und Taylor stellte sich vor, wie der Schnurrbart ihres Gegenübers im Takt der Worte auf und ab zuckte. Das machte die Unterhaltung beinahe erträglich.

Als er fertig geflucht hatte, seufzte er.

„Ich komme mit dem nächsten Flug.“

Baldwin tippte Taylor auf die Schulter, dann sprach er. „Hey, Price, dafür gibt es keinen Grund. Ich schicke dir unser Flugzeug.“

„Danke, Baldwin, das ist sehr nett von dir. Ich liebe es, das FBI bei meinen Fällen zu haben. Wir sehen uns heute Abend. Jetzt informieren wir erst einmal Mrs. St. Claire und bringen den Ball ins Rollen. Verdammt, was für eine Art, jemandem die Ferien zu versauen.“

Er legte auf, und Taylor schaute Baldwin an. Er konnte die Frage in ihrem Gesicht so gut lesen, als stünde sie auf ihrer Stirn geschrieben. Er antwortete jedoch nicht, und so fragte sie: „Sollen wir …?“

Baldwin schüttelte den Kopf. „Nein, nein, nein, wir werden die Hochzeit nicht absagen.“

„Das könnte schlechte Presse bringen. Die leitenden Ermittler machen sich in die Flitterwochen aus dem Staub …“

„Scheiß auf sie. Nein. Wir sagen nicht ab.“

Sie tätschelte seinen Unterarm. „Okay, Süßer, okay. Ich wollte nur die verschiedenen Möglichkeiten abklopfen. Ich werde jetzt mal die Polizei von Santa Barbara anrufen und nett fragen, ob sie einen Geistlichen losschicken können, um Remy zu informieren. Und ich muss gucken, ob Father Ross Zeit hat, mit den Großeltern zu sprechen, weil sie ja die hauptsächlichen Bezugspersonen waren. Wir müssen sie sowieso befragen, vielleicht wissen sie was über Giselles letzte Schritte. Du bist jetzt dabei. Rüste dich also für das, was jetzt auf uns zukommt.“

Taylor, Fitz, Marcus und Lincoln saßen am Konferenztisch und gingen noch einmal die Fakten im Schneewittchenfall durch. Taylors Magen hatte sich wieder beruhigt. Es gab Sandwiches von Panera, einem bekannten Delikatessenladen, und eine Runde Früchtetee – eine typische Südstaatenkombination. Baldwin hatte die Einladung zum Lunch dankend abgelehnt und war stattdessen losgezogen, um das Flugzeug für Captain Price zu organisieren. Schweigend aßen sie ihr Mahl; sie brauchten die Energie für den langen Tag, der vor ihnen lag. Die Luft im Raum summte beinahe vor Anspannung.

Vier tote Mädchen, jedes auf schlimmere Weise umgebracht als das vorherige. Ein Serienmörder, der jahrelang untätig gewesen war. Zwischen den Sandwichtüten lagen die ausgebreiteten Fallakten, wie zu Mahnmalen eingefroren.

Nashville hatte keine große Erfahrung mit Serienmördern. Es gab viele Serienvergewaltiger und Aufmerksamkeit erregende Morde, aber einen ähnlichen Fall wie den des Schneewittchenmörders hatte es nie wieder gegeben. Das Entsetzen, die Auswirkungen auf die Öffentlichkeit, die grausamen Tatorte – die Schneewittchenfälle waren bis heute das Schlimmste, was ihre Stadt je gesehen hatte. Zehn Mädchen. Jetzt waren es vier mehr. Sehr wahrscheinlich nicht von der Hand des eigentlichen Schneewittchenkillers umgebracht, aber von jemandem, der ihm sehr nahestand.

Die Beweismenge aus den früheren Morden war überwältigend. Zehn Mordbücher, zehn Beweisakten und die entsprechenden Schlussfolgerungen, die nach jedem Fall gezogen worden waren. Die schiere Masse an Papier war atemberaubend, aber Taylor war jedes einzelne Blatt durchgegangen. Mehr als einhundert Kisten waren an der rückwärtigen Wand des Konferenzraums gestapelt worden, sodass sie jederzeit Zugriff darauf hatten, wenn nötig. Über den Kisten hingen die Fotos der Opfer. Je ein Porträtfoto und ein Foto vom jeweiligen Fundort. Die Ähnlichkeiten waren verblüffend. Taylor erwischte sich dabei, wie sie auf die Bilder starrte und dachte, mein Gott, zwanzig Jahre. Das ist eine lange Zeit, um seine Arbeit ruhen zu lassen. Wo bist du in der Zwischenzeit gewesen?

Taylors Blick schweifte durch den Raum, hielt bei jedem Opfer kurz inne, ein schweigender Tribut. Das machte sie seit zwei Monaten jeden Morgen.

Der erste Mord war im Januar 1986 passiert. Nach einem Abend mit Freunden war eine junge Frau verschwunden. Ihre Leiche wurde eine Woche später gefunden, vergewaltigt und mit durchschnittener Kehle. Ihr Name war Tiffani Crowden. Die Lippenstiftmarke konnte als Chanel Coco Red identifiziert werden. Dieses Mädchen war der erste bestätigte Mord des Schneewittchenmörders. Jeder folgende Fundort wies große Ähnlichkeiten auf, auch wenn er die Leichen niemals zweimal am gleichen Ort ablegte.

Die nächsten Opfer waren Ava D’Angelo, eine achtzehnjährige Kellnerin, und Kristina Ratay, die die renommierte Mädchenschule Harpeth Hall besuchte. Im späten Oktober 1986 wurde Colette Burich umgebracht; sie arbeitete als Kindermädchen für eine reiche Familie.

Anfang des Jahres 1987 wurde Evelyn Santana, eine Studentin der Belmont, deren Eltern angesehene Ärzte waren, tot aufgefunden. Im Spätsommer fand man Danielle Seraphin und Vivienne White, beides französische Austauschstudentinnen, gemeinsam im Centennial Park: ein Doppelmord.

1988 gab es drei weitere Morde. Allison Guiterez, Abigail McManus und Ellie Walpole. Alle Mädchen wurden mit durchschnittener Kehle in verschiedenen Parks in und um Nashville gefunden.

Und dann hatte es aufgehört. Taylor wünschte, sie wüsste, warum. Und auch, warum es dann wieder angefangen hatte.

Das Ritual erfolgreich zu Ende gebracht, wandte Taylor ihre Aufmerksamkeit wieder dem Tisch zu. Jeder von ihnen hatte einen Stapel Papiere vor sich. Obenauf lag der Schlüsselbeweis der früheren Morde – der Brief, den der Schneewittchenmörder 1988 geschrieben hatte. Ein freundliches „Fickt euch, ihr werdet mich nie fangen“ an die Polizei. Mit jedem Bissen, den Taylor nahm, wurde ihr Blick von diesem Brief angezogen. Sie wusste anhand des Instinkts, der in jedem guten Detective steckte, dass irgendetwas in den Worten des Mörders ihnen helfen konnte, den Fall zu lösen. Es musste irgendetwas in den alten Akten geben, das die ermittelnden Beamten damals übersehen hatten.

Dieser Punkt stand als Nächstes auf Taylors Liste. Sie wollte mit dem verantwortlichen Detective von damals reden. Er hieß Martin Kimball und war ein Jahr bevor Taylor zur Mordkommission gekommen war, in Rente gegangen. Sie musste mit ihm sprechen, alles aus seiner Erinnerung kitzeln, was irgendwie wichtig sein konnte. Sie hoffte, dass diese Erinnerungen noch greifbar und intakt waren.

Taylor schluckte ihren Hühnchensalat herunter und überlegte. Sie musste auch mit dem Reporter sprechen, der damals über die Fälle berichtet hatte. Sie hatte schon versucht, den Mann zu erreichen, aber leider erfolglos. Er war derzeit in Europa. Morgen sollte er zurückkommen, und er würde die dringende Nachricht erhalten, dass sie sofort mit ihm reden musste. Das waren die nächsten Schritte. Mit Martin Kimball und Frank Richardson, dem Reporter des Tennessean, sprechen.

Sie legte ihr Sandwich ab und nahm sich eine Handvoll Chips.

„So“, sagte sie mit vollem Mund. „Der Fundort war sauber. Keine neuen Beweise. Sagt, was ihr denkt. Warum sind wir so sicher, dass es sich nicht um den Schneewittchenmörder handelt?“

„Das haben wir doch schon eine Million Mal durchgekaut“, grummelte Fitz.

„Ich will nur alle Informationen auf dem Tisch haben. Also sprich, alter Mann.“

„Nee, ich fang an. Er hat noch ein halbes Sandwich übrig.“ Marcus schenkte dem älteren Kollegen einen seiner berühmten Welpenblicke, und Fitz nickte ihm dankbar zu.

„Ja, lass den Kleinen ran“, zog Lincoln ihn auf.

Marcus erwiderte ein halbherziges „Halt den Mund“. Die beiden erinnerten Taylor an zwei grundverschiedene Brüder, die es liebten, einander aufzuziehen. Ihr gesamtes Team agierte mit einer gewissen Familiendynamik: Die Geschlossenheit ihrer Einheit steigerte ihre Erfolgsrate. Taylor beaufsichtigte die gesamte Mordkommission, Fitz war ihr Sergeant – der Mann, dem die Truppen berichteten. Aber diese Kerngruppe von vier Menschen war verantwortlich für eine sechsundachtzigprozentige Aufklärungsrate; ein bisher unerreichter Rekord bei der Metro Police.

Marcus fasste den Fall noch einmal zusammen. “Okay, was wissen wir bisher mit Bestimmtheit? Unser Schneewittchenmörder war Linkshänder. Er hat von hinten angegriffen und an den Haaren der Mädchen gezogen, um die Kehle zu entblößen. Das Messer ist von rechts nach links über den Hals der Mädchen geglitten, wobei es erst die äußere, dann die innere Halsschlagader durchtrennt hat. Die Messerwunden waren am Ende der Wunde tiefer als am Anfang, und zwar bei allen Opfern.

Unser neuer Mörder ist Rechtshänder, auch wenn er versucht, wie ein Linkshänder zu wirken. Das Messer tritt in die rechte Seite des Halses des Opfers ein, fährt quer rüber, verletzt beide Halsschlagadern. Aber der Schnitt ist am Anfang tiefer als am Ende. Daraus kann man mit einiger Sicherheit schließen, dass dieser neue Mörder Rechtshänder ist.”

„Das ist ein wichtiger Punkt, stimmt. Noch was?“ Taylor steckte sich den letzten Kartoffelchip in den Mund und schob den Teller von sich.

„Der DNA-Bericht ist noch nicht zurück, aber die Blutgruppen passen. Die Seilfasern, die von den Hand- und Fußgelenken der Opfer genommen wurden, stimmen nicht mit den Fasern der früheren Opfer überein, die Knoten sind jedoch beinahe identisch. Offensichtlich hat der originale Schneewittchenmörder auch keine Geschenke in den Mumus der Opfer hinterlassen.“

Taylor unterdrückte ein Lachen. „Mumus? Ist irgendetwas mit dem klinischen Begriff nicht in Ordnung?“

Lincoln und Fitz brachen in Lachen aus, als Marcus errötete.

„Nein, ich mag das Wort nur nicht. Es klingt so, ich weiß nicht. Egal. Er hat keine Zeitschriftenartikel in den Vaginen der Opfer zurückgelassen. Jetzt zufrieden?“

„Ja, sehr. Noch was?“

„Die toxikologischen Untersuchungen der ersten drei neuen Opfer zeigen einen hohen Level an Rohypnol sowie erhöhte Blutalkoholwerte. Also haben sie alle gepanschte Drinks zu sich genommen. Das hat der Ursprungskiller auch nicht gemacht.“

Taylor fischte ein Blatt Papier aus ihrem Stapel. „Mach alle vier daraus, Giselles Tests zeigten das gleiche Ergebnis. Er macht sie betrunken, um ihre Hemmschwelle zu senken.“

Fitz meldete sich zu Wort. „Du hast recht. Ich war noch in Uniform, als die ersten Fälle sich zugetragen haben. Damals sagte die Mordkommission, dass der Täter ein Charmeur sei, der die Mädchen umgarnte, statt sie mit Drogen vollzupumpen. Alle Berichte sprachen dafür, dass er sich ihnen in sicherer Umgebung genähert hat und jemand war, dem sie vertrauen konnten. Heutzutage sind die Mädchen nicht mehr so vertrauensvoll, sie brauchen schon einen kleinen Anreiz, um einem Fremden willig zu folgen.“

Taylor nickte zustimmend. „Wir kennen jetzt auch die Zusammensetzung der cremigen Substanz von ihren Schläfen. Arnika, Weihrauch und Myrrhe. Was hat es damit auf sich?“

„Ich denke, dass wir es mit einem religiösen Spinner zu tun haben. Denk nur an die Geschenke der drei Weisen aus dem Morgenland – Gold, Weihrauch und Myrrhe. Die Römer benutzten auch Myrrhe-Öl, um den Geruch der Toten zu überdecken. Ich habe mal nachgeschaut, wo es heutzutage Anwendung findet: Parfüms, Entzündungshemmer, homöopathische Mittel zur Senkung der Cholesterinwerte – es gibt Millionen von Anwendungen. Aber die häufigste ist in Kirchen und Synagogen. Es ergibt mehr Sinn, dass es von irgendeiner Wichtigkeit für den Mörder ist. Und die Platzierung auf den Schläfen weckt den Eindruck, dass er sie salbt.“

„Lincoln hat recht. Vielleicht gibt es eine religiöse Komponente an diesem Fall. Das sollten wir im Hinterkopf behalten.“

Marcus spielte mit seinen Kartoffelchips. „Vielleicht hat er damals aufgehört zu morden, weil er von Gott gerufen wurde. Ihr wisst schon, er hat den entgegengesetzten Weg eingeschlagen und versucht, Buße zu tun. Wer weiß, vielleicht ist er sogar Priester oder so geworden. Und dann ertrug er es nicht mehr, ist ausgebrochen und hat wieder angefangen, zu morden.“

Sie schwiegen alle für einen Augenblick und dachten über diese Möglichkeit nach.

„Ich wünschte, wir hätten einen DNA-Vergleich. Das würde uns zumindest verraten, ob wir es mit demselben Mann oder einem Nachahmer zu tun haben“, merkte Fitz an.

„Das stimmt, Fitz.“ Abwesend zwirbelte Taylor eine Strähne ihres Pferdeschwanzes um ihren Finger. „Ohne DNA kommen wir nicht viel weiter.“

„Hast du eine Ahnung, woran es hängt? Ich weiß, dass das Labor vom TBI voll ist und es nach Quantico weitergereicht hat, aber trotzdem. Das hier sollte für sie ein Fall von oberster Priorität sein.“

„Ich weiß, Fitz, ich weiß. Jetzt, wo Baldwin dem Fall zugeteilt wurde, werde ich ihn bitten, die Laborarbeiten mit der entsprechenden Dringlichkeit behandeln zu lassen. Erinnere mich nachher bitte daran, ja?“

„Wann kommt Price zurück?“, fragte Lincoln.

„Irgendwann heute Abend. Baldwin hat ihm das Flugzeug geschickt. Lasst uns zur Zusammenfassung zurückkehren, Jungs. Der Lippenstift. Giselle St. Claires Halswunde ist mit rotem Lippenstift nachgezogen worden. Die Testergebnisse liegen noch nicht vor, aber ich werfe mal die Annahme in den Raum, dass es der gleiche Lippenstift ist, der auf den Lippen aller Opfer gefunden wurde. Chanel Coco Red. Soweit wir wissen, ist das etwas Neues, etwas, das er bei den anderen Opfern nicht gemacht hat. Dazu kommt, dass dieses Mal der Fundort auch der Tatort war. Irgendwelche Ideen dazu?“

Marcus nickte. „Da muss irgendetwas Pathologisches hinter dem Lippenstift stecken. Irgendetwas aus der Vergangenheit des Schneewittchenmörders, das ihn dazu brachte, die Mädchen zu beschmutzen, sie anzumalen. Er verändert damit ihr natürliches Aussehen. Vielleicht etwas, das seine Mutter getan hat? Aber der neue Mörder kopiert seinen Vorgänger nur. Also könnte der Lippenstift auf Giselles Hals einfach seine Art sein zu sagen, das hier ist mein Mord. Hierfür bin ich verantwortlich. Es schreit beinahe ‘meins’.“

„Das ist ein guter Anfangspunkt, Kleiner. Warum hat er es bei den ersten dreien nicht gemacht?“

„Weil er wusste, dass wir spätestens jetzt herausgefunden hätten, dass er ein Nachahmer ist. Er wusste, dass wir DNA-Proben zum Vergleich hätten, und er wusste auch, dass wir wissen, dass er Rechts- und kein Linkshänder ist. Er ist bereit, als eigenständiger Täter anerkannt zu werden.“

Lincoln zeigte mit dem Finger auf Marcus. „Aber wir haben noch keine Ergebnisse der DNA-Untersuchungen, also können wir nicht mit absoluter Sicherheit sagen, dass es nicht die Arbeit des ursprünglichen Killers ist. Es gibt welche, die sich jahrelang zurückziehen, ihr Leben leben, sich einen Namen in ihrer Gemeinde aufbauen. Das könnte auch hier der Fall sein. Wenn er der originale Mörder ist, was würde ihn dann an den Punkt bringen, wieder aktiv zu werden? Was würde ihn veranlassen, wieder zu morden?“

Taylor nickte. „Das Übliche. Irgendein Verlust. Wir müssen herausfinden, was der Auslöser war. Ich bin für alle Ideen offen.“

Niemand antwortete; alle vier schüttelten langsam den Kopf. Fitz fing an, das Papier, in das sein Sandwich eingewickelt war, zusammenzuknüllen, und Taylor beschloss, das Meeting zu beenden.

„Okay, das ist für den Moment alles. Konzentriert euch auf Giselle St. Claire. Ich will wissen, was sie getan hat, wohin sie wollte und warum sie zum Opfer wurde. Wusste er, dass sie die Tochter einer Berühmtheit war, oder war das Zufall? Lasst uns dann heute Nachmittag noch einmal zusammensetzen. Ich werde jetzt Baldwin wegen der DNA-Tests nerven gehen.“ Sie wandte sich zum Gehen und blieb dann noch einmal stehen.

„Fitz? Weißt du was? Lass uns gemeinsam zu Martin Kimball gehen, anstatt weiterzuwarten. Kannst du in einer halben Stunde fertig sein?“

„Jupp. Ich treffe dich dann draußen.“

Sie verließen den Raum, nicht ohne sich weiter gegenseitig aufzuziehen. Ein solides Team, sich seiner Fähigkeiten sicher, einen weiteren großen Fall zu lösen und das Unrecht dieses grauenhaften Mörders zu rächen. Taylor sah ihnen nach. Ein Gefühl von Stolz gemischt mit einem kleinen Hauch von Hoffnung erfüllte sie. Sie gehörten zu ihr, und sie liebte sie.

Auf dem Weg zu Martin Kimballs Haus übernahm Fitz das Steuer. Er wollte Taylors neues Auto ausprobieren und hatte den Allradantrieb zugeschaltet, um den Truck über die vereisten Straßen zu lenken.

Sie sprachen teils über den Fall, teils über die bevorstehende Hochzeit. Taylor war Fitz gegenüber immer ehrlich. Er war mehr ein Vater für sie, als es ihr eigener gewesen war. Sie musste sich bei ihm nie Gedanken über ihr Image machen, war nie besorgt, dass er ein Problem damit hatte, der ältere Mann zu sein, der zweite in der Reihe hinter der jungen Frau. Fitz näherte sich immer mehr dem Rentenalter. In letzter Zeit verkündete er oft, dass er es kaum erwarten könnte, sich zur Ruhe zu setzen. Taylor hoffte, dass dieser Besuch bei Martin Kimball seine Meinung ändern würde. Vielleicht wäre Kimball gelangweilt und depressiv, und das würde reichen, um Fitz zu überzeugen, noch ein wenig länger an Bord zu bleiben.

Sie hielten vor dem Bungalow in der Granny White Pike. Das Grundstück selber war mindestens eine halbe Million wert, das Haus noch einmal weitere 200.000 Dollar. Die Häuser links und rechts von Kimballs waren abgerissen und als wahre Monstrositäten neu errichtet worden. Ein aus Steinen und Holz errichteter Pseudo-Tudor-Palast zur Linken und ein roter Backsteinbau mit Säulen zur Rechten. Jedes davon wäre locker für 800.000 Dollar zu verkaufen. Beide hatten aufwendig gestaltete Gärten, die die kleinen Grundstücke größer aussehen ließen, und schmiedeeiserne Tore, die ihre schmalen Einfahrten versperrten. Diese Gegend war im Kommen, und das Häuschen der Kimballs, obwohl es noch mit dem ursprünglichen Plan für diesen Stadtteil übereinstimmte, wirkte mittlerweile vollkommen fehl am Platz.

Diese Neuigkeiten hatten die Kimballs jedoch noch nicht erreicht. Weihnachtslichter bedeckten jeden Quadratzentimeter der Hausvorderseite. Eine festliche Girlande aus immergrünen Zweigen war mit roten Bändern über der Haustür befestigt. Der Weg war sorgfältig geräumt und mit einer dünnen Schicht Splitt bestreut worden, damit mögliche Besucher nicht ausrutschten. Taylor und Fitz nahmen diesen Weg. Ihre Stiefel quietschten auf dem verbliebenen Schnee. Taylor klopfte an der frisch gestrichenen, knallroten Tür. Es war vielleicht nicht das größte Haus in der Straße, aber es war gepflegt und gut erhalten.

Die Tür wurde geöffnet, und ein kleines Gesicht schaute heraus. „Frohe Weihnachten. Willkommen im Haus der Kimballs. Kann ich Ihnen helfen?“

Taylor unterdrückte ein Lachen. Die Göre konnte nicht älter als sieben oder acht sein, aber was für eine Ausstrahlung sie schon hatte.

„Ja, Miss. Können wir mit Ihrem Großvater sprechen?“

„Haben Sie einen Termin?“

„Er weiß, dass wir kommen.“ Taylor ging ein wenig in die Knie, um auf Augenhöhe mit dem kleinen Mädchen zu sprechen. „Ich bin Taylor, das hier ist Fitz. Und wie heißt du?“

„Sabrina.“ Das kleine Mädchen streckte ihre Hand aus, die Taylor mit angebrachtem Ernst nahm und schüttelte. Sabrina nickte ihr zu, als ob sie sie gemustert und für würdig befunden hätte, dann öffnete sie die Tür ganz.

Die Räume des Hauses strahlten nur so vor Freude und Liebe. Ein warmes Feuer prasselte im Kamin, und das ganze Haus war in Rot und Grün dekoriert – Popcorn- und Cranberry-Ketten, Girlanden, Luftschlangen. Sabrina ging voraus in die Küche, wo der Duft von Kürbispie und Lebkuchen in der Luft hing. Sie kündigte die Besucher den beiden Menschen in der Küche an.

„Gran, Grampy, das sind Taylor und ihr Freund Fitz. Grampy, sie sagen, sie hätten eine Verabredung mit dir. Bist du bereit, sie zu empfangen?“

Martin Kimball drehte sich mit einem amüsierten Funkeln in den Augen zu seiner Enkeltochter um. Er streckte eine Hand aus, packte das Mädchen um die Hüften und hob sie in seine Arme, während er aufstand. Dann lächelte er seinem alten Freund Fitz zu und schenkte Taylor ein freundliches Lächeln.

„Sieh an, sieh an, was die Katze da hereingebracht hat. Pete Fitzgerald und sein reizender Lieutenant. Was kann ich für euch an diesem schönen Tag tun? Wir haben eine Menge Kuchen, und wir bauen gerade ein Lebkuchenhaus für Sabrina. Eine Menge Weingummi, das verarbeitet werden will. Habt ihr Lust, mitzumachen?“

Ein wehmütiger Ausdruck huschte über Fitz’ Gesicht; Taylor wusste, dass seine Schwäche für Süßigkeiten gegen seine Willensstärke kämpfte. Dann riss er sich zusammen, ein Bild von Stärke und Zurückhaltung. Wenn Pensionierung bedeutete, ein warmes, liebevolles Heim und eine glückliche Familie zu haben, war das keine schlechte Aussicht. Aber Fitz hatte nie geheiratet, besaß nicht ein Umfeld wie dieses, um ihm einen ruhigen, zufriedenen Lebensabend zu bereiten.

„Ich wünschte, wir könnten, Marty. Aber wir müssen mit dir reden. Hast du einen Platz, an den wir uns zurückziehen können?“

„Sicher, wir können in mein Arbeitszimmer gehen. Du bleibst bei Grandma, okay, mein Schatz?“ Er setzte das Mädchen ab und schob sie sanft zu seiner Oma, einer fröhlich aussehenden Frau mit roten Wangen und einem runden Kinn.

„Macht aber nicht zu lang, Marty. Der Lebkuchen ist beinahe fertig.“

Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn, tätschelte den Kopf des Mädchens und bedeutete Fitz und Taylor, ihm zu folgen. Sie durchquerten die Küche und traten durch eine Schwingtür in einen kleinen Flur. Das erste Zimmer auf der rechten Seite war ein kleines, gemütliches Büro, dessen blau-weiße Zugbordüre auf halber Höhe an der Wand seinen ursprünglichen Zweck als Kinderzimmer verriet. Es gab eine weiche, schokobraune Chenille-Couch und einen dunklen Kirschholztisch mit zwei Holzstühlen auf jeder Seite. Drei abgegriffene Wellpappkartons standen auf dem Tisch, eindeutig als private Beweisakten zu erkennen. Alle ermittelnden Beamten hatten die eine oder andere solche Kiste.

Taylor und Fitz nahmen auf der Couch Platz, Kimball lehnte sich gegen den Tisch. Taylor nutzte die Gelegenheit, den Mann eingehend zu betrachten.

Kimballs Haar war militärisch kurz geschnitten. Ein schwermütiger Ausdruck hatte sich in sein Gesicht gegraben, der von seinem Hundeblick noch verstärkt wurde. Seine Kleidung war altmodisch, sprach vom Geschmack einer früheren Generation. Er war nicht alt, aber er tat definitiv nichts, um jünger zu wirken als seine vierundsechzig Jahre.

Er war ein sanfter Mann, und Taylor stellte sich vor, dass er früher sicher auch schüchtern gewesen war, mit seinen großen Ohren und dem langsamen, traurigen Lächeln. Die Pensionierung hatte ein wenig den Druck von ihm genommen, aber die Jahre im Dienst waren unverkennbar. Er hatte zu viel gesehen, zu viele schlimme Verbrechen bezeugt, um noch eine weiche, sorgenfreie Seite zu haben. Er stand leicht gebeugt, und Taylor fragte sich, ob es das Gewicht all dessen, was er über die Jahre gesehen hatte, war, das ihm so schwer auf den Schultern lastete.

Fitz hatte Taylor erzählt, dass Kimball früher in der Mordkommission derjenige gewesen war, der auf jedes noch so kleine Detail geachtet, jede Schwingung und Stimmung eines Falles mitbekommen hatte. Er war der unscheinbare Typ, der Mann, dem jedes Opfer vertraute, der Mann, bei dem jeder Täter irgendwann gestand.

Nun lehnte dieser Mann am Tisch und wartete darauf, dass sie anfingen zu sprechen. Genau wie in den alten Tagen, nahm Taylor an. Kein Grund, eine Sache anzuschieben, wenn sie eh zu einem kam.

Zufrieden, dass sie in guten Händen waren, fing Taylor an. „Wir würden mit Ihnen gerne über die Schneewittchenmorde sprechen. Die frühen. Wir sind uns ziemlich sicher, dass diese neuen Morde von einem Nachahmungstäter ausgeübt wurden, aber Sie sind der Einzige, der uns das mit Sicherheit bestätigen kann. Die Ergebnisse der DNA-Untersuchungen sind noch nicht zurück, aber Sie kennen den Mörder. Sie können uns sagen, ob er für diese Verbrechen verantwortlich ist oder jemand anders.“

„Okay.“ Kimball trat hinter sie und schloss die Tür. Auf keinen Fall wollte er seine Enkeltochter aufregen, wenn es nicht sein musste. Fitz stand auf und betrachtete leise pfeifend das Bücherregal seines Freundes.

Kimball nahm seinen Platz wieder ein. „Was wollen Sie wissen?“ Er hob eine Hand. „Nein, lassen Sie mich erst eine andere Frage stellen. Warum glauben Sie, dass es sich um einen Nachahmer handelt?“

„Nun, zum einen weil die Wunden inkonsistent sind. Der Schneewittchenmörder war ein Linkshänder, das bestätigen die originalen Autopsieberichte. Dieser Kerl hier sieht jedoch nach einem Rechtshänder aus, der versucht, sich als Linkshänder auszugeben. Er schneidet sie von vorne anstatt von hinten. Es gibt zwei weitere große Unterschiede: die Zeitungsausschnitte, die in den Vaginen der Mädchen versteckt werden, und die Creme auf den Schläfen der Mädchen. Es sieht aus, als handele es sich um Arnikacreme, die Anteile von Weihrauch und Myrrhe enthält. Wir können bisher nicht mit Sicherheit sagen, ob die Inhaltsstoffe einzeln oder kombiniert aufgetragen sind, aber egal wie, stellen sie eine große Abweichung zu den früheren Morden dar. Im Moment spielen wir mit der Idee, dass es sich um eine Art religiöses Ritual handelt.“

„Es gibt also keine haarigen Beweise?“

„An den Fundorten? Nein, da war nichts.“

„Nein, ich meine, das Haar der Mädchen ist nicht an den Wurzeln herausgezogen worden wie bei den ersten Opfern?“

Taylor und Fitz schauten sich an. „Nicht dass wir wüssten“, erwiderte Fitz dann.

Kimball ging zu den Kartons auf seinem Tisch, öffnete den Deckel des mittleren und setzte eine goldgerahmte Lesebrille auf. Er blätterte die Akten durch und zog schließlich einen Umschlag mit der Beschriftung „Fotos“ hervor. Auch hier blätterte er eine Weile, bis er das Gesuchte fand. Er hielt es Taylor hin.

„Das Bild ist von Vivienne Whites Hinterkopf. Sehen Sie die kleine kahle Stelle? Wir haben immer angenommen, dass er ihre Köpfe so hart nach hinten zieht, dass er die Haare an den Wurzeln herausreißt. Es war das Gleiche bei allen zehn Mädchen. Ein kahler Fleck, direkt am Haaransatz. Ich weiß nichts von irgendeiner Creme, die auf den Leichen gefunden wurde, aber das fehlende Haar war für uns ein wichtiger Hinweis.“

Taylor schürzte die Lippen. „Davon stand nichts in den Akten.“ Sie sah Kimball an. Ein gemeiner Gedanke nagte an ihr. Sie hasste es, das Schlimmste anzunehmen, aber es war schon vorher passiert.

„Kimball, kann es sein, dass uns hier etwas entgeht? Sind unsere Akten unvollständig?“

Er hob eine Augenbraue. „Die Frage kann ich nicht beantworten. Deshalb habe ich ja diese Kisten vorsichtshalber aus der Garage geholt. Sie wissen doch, wie das ist. Im Laufe der Jahre gehen Akten verloren. Der Fall ist zwanzig Jahre alt. Aber Sie dürfen sich hier gerne bedienen, wenn Sie mögen.“

„Das weiß ich sehr zu schätzen, vielen Dank.“

Kimball umrundete den Tisch und setzte sich auf einen Stuhl. Er zog eine Pfeife hervor und fing an, sie zu stopfen. Der Geruch erinnerte Taylor an ihren Großvater, einen Mann, den sie nicht sonderlich gut gekannt hatte. Wenn sie in den Spiegel schaute, erkannte sie eine gewisse Ähnlichkeit, und wenn sie spürte, wie ihr Temperament mit ihr durchzugehen drohte, wusste sie, dass sie das von ihm geerbt hatte.

„Noch etwas, das ganz oben auf Ihrer Liste steht?“

Taylor lächelte. Der Mann schien noch genauso blitzgescheit wie früher.

„Mich würde interessieren, warum er der Schneewittchenmörder genannt wurde.“

Kimball erwiderte ihr Lächeln. Dann stand er auf und trat ans Bücherregal. Er fuhr mit dem Finger an den Buchrücken auf dem dritten Regal von unten entlang, das gerade hoch genug war, dass er sich nicht bücken musste, um die Titel zu lesen. Dann hatte er gefunden, was er suchte. Ein abgegriffenes, abgenutztes Buch, das sehr alt aussah.

Er wandte sich wieder ihnen zu. „Ich fürchte, das war meine Schuld. Meine Tochter Stacy, Sabrinas Mutter, war noch ein kleines Mädchen, als der erste Fall bekannt wurde. Ich las ihr abends immer eine Geschichte vor, bevor ich sie ins Bett brachte. Ich versuchte, dieses Ritual auch beizubehalten, wenn ich Spätschicht in der Mordkommission hatte. Ich las ihr vor, brachte sie ins Bett und ging dann zur Arbeit.“

Er betastete das Buch. Taylor sah, dass es einen Goldschnitt hatte.

„Tja, das hier war die Geschichte, die ich ihr an jenem Abend vorlas. Es schneite ganz fürchterlich, und ich bin mit dem Gedanken zur Arbeit gefahren, dass wir eine ruhige Nacht vor uns hätten. Stattdessen wurden wir zu dem Gelände hinter der alten Schütte gerufen, wo die Schwulenbars an der Melrose sind. Sie wissen, wo ich meine, direkt neben der Franklin Road? Heute ist da alles zugebaut.“

Taylor nickte.

„Das war Tiffani Crowdens letzte Ruhestätte. Ich kam an den Tatort und sah sie da im Schnee liegen. Sofort kam mir das Märchen in den Sinn.“

Er schlug das Buch auf. Es brauchte kein Lesezeichen, um an der gewünschten Stelle aufzublättern. Die Worte, die er las, jagten Taylor einen Schauer über den Rücken.

„Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab, da saß eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte, und nähte. Und als sie so nähte und nach dem Schnee aufblickte, stach sie sich mit der Nadel in den Finger, und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee. Und weil das Rote im weißen Schnee so schön aussah, dachte sie bei sich: “Hätt’ ich doch ein Kind so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie das Holz an dem Rahmen.“ Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, das war so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz, und wurde darum das Schneewittchen genannt. Und als das Kind auf der Welt war, starb die Königin.

Kimball schloss das Buch und räusperte sich leicht. „Wirklich passend.“

Sie schwiegen einen Moment lang. Taylor war die Erste, die das Wort ergriff. „Wow. Ich hatte keine Ahnung.“

Kimball gab ihr das Buch. Sie nahm es und betrachtete den Einband. Die Märchen der Gebrüder Grimm.

„Das ist noch mein Exemplar aus der Zeit, als ich ein kleiner Junge war.“

Taylor fing Kimballs Blick auf und gab ihm das Buch zurück. „Danke. Das war eine große Hilfe. Haben Sie jemals gedacht, dass der Täter das Märchen gelesen hatte und versuchte, die Szene nachzustellen?“

„Sicher. Das schien mir logisch. Zu logisch. Ich habe immer gedacht, dass da mehr hintersteckte. Hass. Lust. Macht. Alles exzellente Motive. Aber warum entwickelt ein Mörder seinen Modus Operandi? Vielleicht hat seine Mutter ihm immer vorgelesen, bevor sie zur Arbeit ging. Vielleicht hatte er jemanden, dem er vorgelesen und den er irgendwann verloren hat? Das Unerreichbare erreichen ist immer eine reiche Quelle der Motivation. Wir werden es nicht wissen, bis wir ihn nicht geschnappt haben und befragen können.“

„Darf ich Sie nach dem Brief fragen, den er Ihnen geschickt hat? Ich bin einfach neugierig.“

„Kluges Mädchen, ich wette, das sind Sie.“ Taylor akzeptierte das Kompliment und erkannte, dass sie es genossen hätte, mit diesem Mann zusammenzuarbeiten.

Er zog an seiner Pfeife, sog das Feuer in den Tabak und paffte. „Der verdammte Brief. Ich schwöre, ich bin ihn wieder und wieder durchgegangen. Wir hatten zwar noch nicht die ganzen modernen Tests, die einem heute zur Verfügung stehen, aber auch so haben wir damals einiges zustande bekommen. Die Computer waren jung, und es gab nur wenige Druckermodelle. Alleine die Tatsache, dass der Brief auf einem Computer verfasst worden war, erzählte uns eine ganze Menge. Der Kerl war begütert. Der Brief stammte von einem IBM 8580, PS/2 Modell 80 386, einem der frühen Desktopcomputer, und der Drucker war ein Hewlett-Packard Deskjet Inkjet.“

Fitz schüttelte den Kopf. „Das weißt du noch auswendig?“

„Ja.“

Taylor fing an, Kimballs Reputation als Mann für Details zu verstehen. Er fuhr in seiner Aufzählung fort.

„Das war ein top moderner Drucker. Diese Dinger kosteten über tausend Dollar, als sie auf den Markt kamen. Damals gab es nicht viele Leute in dieser Stadt, die einen hatten. Wir haben ihn zurückverfolgt bis zu einem Typen in Green Hills, ein Mann mit dem Namen Mars. Er war nicht der Mörder, aber der Brief war auf seinem Computer geschrieben und auf seinem Drucker gedruckt worden.“

Burt Mars. Taylor kannte den Namen. Er war ein Freund ihrer Eltern. Ein Buchhalter, wenn sie sich recht erinnerte.

„Aber es war nicht Mars, der den Brief geschrieben hatte, richtig?“

„Wir konnten es ihm nie beweisen. Haben es aber auch nie wirklich geglaubt. Er schien nicht fähig zu sein, etwas so Ausgeklügeltes wie zehn Morde auf die Beine zu stellen. Ich gebe zu, dass er Uncle Sam bestimmt um den einen oder anderen Dollar betrügen konnte, aber wir sind immer davon ausgegangen, dass es einer seiner Klienten gewesen war. Jemand, der Zugang zu seinem Büro hatte.“

„Warum ein Klient? Wieso nicht ein Angestellter?“

Kimball betrachtete sie einen Moment und lächelte dann Fitz zu, der wieder neben Taylor auf der Couch Platz genommen hatte. „Weil, wer auch immer der Mörder war, er hatte Geld. Mars war zwar ein großzügiger Mann, aber so großzügig nun auch wieder nicht. Seine Angestellten hatten nicht das nötige Kleingeld, über das der Schneewittchenmörder verfügte. Nein, es war einer von Mars’ Klienten. Jemand, der andere Leute dafür bezahlte, seine Arbeit zu tun. Dessen war ich mir immer sicher.“

„Warum? Was war so besonders an ihm, dass Sie dachten, er wäre reich?“

„Das Siegel.“

Taylor schüttelte den Kopf. „Was?“

„Der Siegelring. Meine Güte, stand davon auch nichts in den Akten?“

„Ich weiß zumindest nichts davon. Du etwa, Fitz?“

„Ich kann mich an nichts bezüglich eines Ringes erinnern.“

„Wir haben ihn an einem der letzten Tatorte gefunden. Lass mich überlegen, ich glaube, bei Ellie Walpole. Als sie die Leiche umdrehten, verfing der Ring sich in ihren Haaren. Es war ein goldener Ring mit einem eingravierten Schriftband und einem großen F im Wappen. Das war alles, nur ein F. Wir haben Mars’ Akten penibelst durchgekämmt, haben jede einzelne Person befragt, deren Name mit einem F anfängt oder aufhört. Hat alles nichts gebracht. Aber das will nichts heißen. Der Ring hätte auch den Eltern oder Großeltern des Mörders gehören können – verdammt, sogar einem Cousin oder Freund, nach allem, was wir wissen. Er sah alt aus, als würde er schon seit Generationen vererbt, wissen Sie?“

„Tja, also davon steht definitiv nichts in den Akten, das weiß ich ganz sicher. Ich bin vor drei Wochen noch einmal alle Beweise einzeln durchgegangen, als wir uns die Kisten für die aktuelle Untersuchung herangezogen haben. Kein Wort von einem Siegelring. Und auch in den Befragungen taucht er nicht auf.“

„Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, Lieutenant. Er war da. Ich habe ihn mit meinen eigenen Augen gesehen. Viele der Berichte habe ich selber geschrieben – darum weiß ich auch, dass sie existiert haben. Ich habe das Gefühl, dass Sie hier nicht mit dem vollen Kartendeck spielen.“

Taylor schaute Fitz an. Das war ein Problem.

Kimball zog noch einmal an seiner Pfeife, klopfte sie dann in einem selbst gemacht aussehenden Aschenbecher aus und stand auf.

„Sie können die Akten gerne mitnehmen, aber sorgen Sie dafür, dass ich sie alle zusammen wiederbekomme, okay? Ich möchte jetzt zu Sabrina zurückgehen. Wir sehen sie nicht so oft, wie ich es gerne hätte, und sie wächst so schnell. Bald schon wird sie keine Lust mehr haben, mit ihrem alten Großvater ein Lebkuchenhaus zu bauen, wissen Sie?“

Fitz trug zwei Kartons, Taylor einen. Kimball führte sie durch die Küche, wo Mrs. Kimball und Sabrina sie aufhielten und ihnen in Folie eingewickelte Kekse auf die Kartons legten. Eine Belohnung für später. Kimball brachte sie zur Tür und sah ihnen mit einem traurigen Lächeln nach, als sie ins Auto stiegen und davonfuhren.

Taylor war neunzig Zentimeter groß und passte perfekt in die Lücke zwischen dem Geländer und der obersten Stufe, leicht verdeckt durch eine dorische Säule, die an das Geländer grenzte. Unter ihr war der Ball in vollem Gange. Es schienen Hunderte von Leuten zu sein, alle in die aufwendigsten Kostüme gehüllt. Heute war Silvester, und ihre Eltern veranstalteten auch in diesem neuen Haus ihren traditionellen Maskenball. Das hier war Taylors zweites Zuhause, aber das einzige, an das sie sich erinnerte.

Die Musik war laut, und die Menschen wirbelten herum wie Marionetten. Champagnerflöten wurden in schwindelerregender Geschwindigkeit geleert, in Smoking gekleidete Kellner zogen ihre Kreise durch das Foyer und den Ballsaal und achteten darauf, dass niemand zu kurz kam.

Eine Frau mit einer ausladenden Marie-Antoinette-Perücke, gepudertem Gesicht und einem verrutschten Schönheitsfleck, der eigentlich an der Oberlippe kleben sollte, sich nun aber unschön in ihrem Mundwinkel festgesetzt hatte, ließ sich schwer auf die unterste Treppenstufe fallen – ganze siebenundvierzig Stufen von Taylor in ihrem kleinen Versteck entfernt. Ihre Mutter war auch als Marie Antoinette verkleidet, aber das war nicht ihre Mutter. Taylor fühlte die Erschütterung des Beinahe-Falls der Frau, roch den Alkoholdunst, der die Stufen hinaufwaberte und in den sich ein anderer, pudriger, moschusartiger Geruch mischte.

Drei Leute eilten zu der Frau, um sich zu versichern, dass es ihr gut ging, aber sie kicherte nur und scheuchte sie davon, versicherte ihnen, dass sie sich nur hingesetzt hatte, um ihre müden Füße ein wenig auszuruhen. Nachdem drei Kellner ihr aufgeholfen hatten, watschelte sie davon, wobei ihr Kostüm gefährlich ins Rutschen geriet.

Dann war es für ein paar Augenblicke ruhig, bevor ihr Vater und ihre Mutter mit einem Gefolge von mehreren Leuten ins Blickfeld kamen.

Die Frauen alberten miteinander herum, und die Männer sprachen laut und vom Alkohol beflügelt miteinander.

„Win Jackson, du hast offensichtlich einen Vertrag mit dem Teufel geschlossen“, rief ein dunkelhaariger Mann.

„Ja, Win, dein eigenes kleines Manderley, nicht wahr? Was hast du in deinem letzten Leben angestellt, dass du in diesem so viel Glück hast? Der Richter hätte dich in den Knast werfen sollen anstatt die Klage abzuweisen.“ Der blonde Mann mit der dicken schwarzen Brille gab ihrem Vater einen kräftigen Klaps auf die Schulter. Win lachte.

„Manderley? Verdammt, lass uns nur hoffen, dass das Haus nicht auf die Grundmauern niederbrennt. Kitty würde mir den Kopf abreißen.“

Und so ging es weiter, sie hielten sich gegenseitig zum Besten, bis Taylors Gouvernante sie fand, aus ihrem Versteck zerrte und zurück ins Kinderzimmer schleifte.

Taylor kniff die Augen zu und versuchte, den genauen Moment zu erinnern, an dem sich einer der Männer umgedreht hatte …

„Verdammt, Taylor, pass doch auf!“, rief Fitz.

Für einen Moment desorientiert, öffnete sie die Augen und sah die Straße vor sich, ihre Hände am Lenkrad, und ein kleines Auto, das direkt auf sie zuschlitterte. Der Ballsaal war verschwunden. Sie lenkte ganz leicht nach rechts, rutschte ein wenig und schob sich an dem Camry vorbei, der sich in dieser Sekunde fing und langsamer wurde. Sie sah ihn in ihrem Rückspiegel davonschleichen.

Irgendetwas ist da, dachte sie. Irgendetwas ist da. Aber die Erinnerung verblasste im blendend weißen Schnee.