46. KAPITEL

Jane Macias erwachte. Ihr war kalt. Ein Riss in der Wand direkt neben dem Platz, wo sie lag, ließ kalte Luft von draußen herein. So eine Schlamperei hätte ihr Vater nie geduldet. Das Haus eines Mannes war unantastbar, war sein Wahlspruch. Und ein Mann von Format hatte eine gewisse Verantwortung. Zeige der Welt, wie sehr du dich um sie kümmerst, und im Gegenzug wird sie sich um dich kümmern.

Ihr Vater. Gott, sie vermisste ihn. Nie würde sie das Bild aus ihrem Gedächtnis löschen können, blass und zitternd auf dem harten, kalten Boden. Er war beinahe tot, das Licht in seinen Augen fast erloschen, als sie ihn fand. Sie hielt ihn und wiegte ihn in ihren Armen; sein Blut sickerte in den Stoff ihres Hemdes. Mit seinen Lippen formte er den Namen, kurz bevor er starb, gerade als die Rettungssanitäter erschienen und versuchen wollten, sein Leben zu retten. Es war zu spät, aber sie wusste alles, was sie wissen musste. Es zu beweisen war eine ganz andere Geschichte. Sie war beinahe so weit. Und jetzt wurde sie gefangen gehalten. Sie würde ihren Vater schon wieder im Stich lassen.

Dieser Mann, diese Kreatur, der sie gefangen hielt, würde sie bald töten, das fühlte sie. Das Katz-und-Maus-Spiel näherte sich dem Ende. Er war zu gebannt vom Fleisch und Blut ihres jungen Körpers, um sich Gedanken über die altersschwachen Steine des Dachbodens Gedanken zu machen, die kalte Luft in die kleine Mansarde ließen, wo sie ihr Dasein fristete. Es war besser als das Loch, in dem sie vorher gewesen war, ein Raum, der nach Sex und Blut roch. Sie war erleichtert gewesen, als man sie hierher gebracht hatte.

Das Monster, das über ihrem Körper gesabbert hatte, das mit seinen Lippen über ihren Hals gefahren und ihr versprochen hatte, ihr Leben zu nehmen, war fort.

Sie versuchte sich umzudrehen und stellte fest, dass die Fesseln wieder da waren, die ihre Hände und Füße wie in einem Schraubstock festhielten. Der Jüngere fesselte sie jede Nacht aufs Neue. Die letzten beiden Nächte war er gekommen, hatte sie losgebunden, die Treppe hinuntergetragen, weil ihre Beine aufgrund mangelnder Bewegung ganz taub waren, und sie in einen Stuhl in der Bibliothek der Kreatur gesetzt. Er nahm die Augenbinde immer erst ab, wenn er hinter ihr stand, sodass sie niemals sein Gesicht sah. Danach hatte er den Raum verlassen, und der Verkrüppelte hatte angefangen zu reden. Er erzählte ihr grauenhafte Geschichten, berichtete in allen Einzelheiten über das Sterben seiner Seele. Er berührte sie, war aber nicht in der Lage, sich selber zu befriedigen. Er zwang sie, ihn zu berühren, aber das half auch nicht.

Sie wusste, wer er war. Dieses gebeugte, missgebildete Ding war der Schneewittchenmörder.

Er war einmal zu ihr gekommen, alleine und schwitzend. Sie hatte seinen angestrengten Aufstieg die Treppe hinauf gehört, hatte mit angespannten Nerven darauf gelauscht, dass er schwer atmend die Tür erreichte. Er war zu erschöpft, um ihr wehzutun, auch wenn der Glanz in seinen Augen ihr verriet, dass er genau das tun wollte. Er nahm ihr die Augenbinde ab. Sie sah das verrückte Verlangen, das sein Gesicht von innen erstrahlen ließ, als würde eine Taschenlampe direkt unter die Oberfläche seiner papierdünnen Haut gehalten. Hungrig starrte er sie an, leckte sich die Lippen. Dann fuhr er die Linie ihres Wangenknochens mit einem knotigen Finger nach. Ihre Fantasie ging mit ihr durch, als hätte die Berührung seines Fingers eine Schmutzspur auf ihrer Wange hinterlassen, die sie nie wieder loswürde. So schnell, wie er aufgetaucht war, war er wieder verschwunden. In dieser Nacht hatte sie das erste Mal geweint.

Ein Geräusch brauchte sie in die Gegenwart zurück. Sie hörte Schritte, die sich ihr näherten. Das war nicht der Jüngere, dessen war sie sich sicher. Seine Schritte waren unverkennbar, schwer und zielgerichtet. Nein, das hier war jemand Leichteres, der langsam näher kam. In einem halb -hysterischen Moment sah sie eine riesige Spinne durch den Raum auf sich zukrabbeln, die sie in ihr seidiges Netz einspann und ihr langsam das Leben aussaugte. Schnell schüttelte sie den Gedanken ab. Das hier waren menschliche Schritte. Doch trotz der Augenbinde, die eng um ihren Kopf lag, presste sie vor Angst die Augen fest zu.

Eine Hand berührte ihr Gesicht. Sie konnte nicht anders, sie zuckte zusammen. Aber sie schrie nicht auf.

Zu der Hand gesellte sich eine zweite, und zehn Finger tanzten träge über ihr Gesicht. Sie spürte nichts Böses in dieser Berührung, nur eine sanfte Neugierde. Genauso langsam zogen sich die Hände wieder zurück.

„Du bist wunderschön“, flüsterte eine Stimme an ihrem Ohr.

„Wer bist du?“, fragte sie.

Er arbeitete jetzt an ihren Fesseln. Der Besitzer der Stimme zuckte leicht mit den Schultern, eine so beredte Bewegung, dass Jane sie spüren konnte. Eine wegwerfende Geste, die ihm in Fleisch und Blut übergegangen war. „Niemand. Ich bin gar keiner.“

Janes Hände waren jetzt frei, und er machte sich an ihren Füßen zu schaffen. Sie streckte die Arme über ihrem Kopf aus und erfreute sich an der Bewegung. Dann nahm sie die Arme wieder runter und fing an, die Augenbinde zu lösen.

„Nicht. Bitte.“

Das Flehen in der Stimme berührte sie, und sie hielt inne. Sie spürte, dass dieser Mann keine Bedrohung war. Der Anflug eines Lispelns schenkte ihr Trost und machte sie gleichzeitig nervös. Lispelten die Psychopathen in den Filmen nicht immer? Sie fing an, von ihm wegzurutschen, und spürte, wie er sich versteifte. Also hörte sie auf und ließ ihn die Knoten an ihren Knöcheln lösen. Nach Minuten, die ihr wie eine Unendlichkeit vorkamen, spürte sie, wie das Seil von ihr abfiel und ihre Beine nicht länger aneinandergepresst waren. Er nahm ihre Hand und half ihr, aufzustehen und das Blut in ihre Beine zurückzumassieren.

„Kannst du ssstehen?“

Jane probierte beide Beine aus. Ein Brennen und Kribbeln, aber sie funktionierten. „Ja.“

„Leg deine Hand auf meine Ssschulter. Ich werde dich zur Tür bringen. Dann kannst du die Augenbinde abnehmen.“

„Wer bist du?“, fragte Jane erneut. „Hast du nicht wenigstens einen Namen?“

„Ich habe viele, aber keiner davon wird dir etwas sssagen.“

Jane hörte ein leises Klirren, dann ein Tippen. Er ist blind, dachte sie erstaunt. Der Gedanke ließ sie kichern. Der Blinde führt die Blinde. Das war verrückt. Ihre Hände griffen wieder zu der Augenbinde, aber er blieb sofort stehen.

„Bitte. Es geht schnell, das verspreche ich. Es gibt viele Wege durch das Haus.“

Der Ton in seiner Stimme ließ sie innehalten. „Okay“, sagte sie und meinte es auch so.

Nach weiteren langen Minuten, in denen sie hinter ihm herschlurfte, gingen sie zwei Treppen hinunter. Jane nahm den Geruch von Brot wahr. Eine Küche? Bevor sie darüber nachdenken konnte, lag ihre Hand auf einem Türknauf.

„Hier kommst du durch den Garten. Geh nach Sssüden für einhundert Schritte, dann wende dich nach rechts, zum Garten der Nachbarn. Bitte, lass dich von irgendjemandem mitnehmen und schau nicht zurück.“ Die Tür wurde geschlossen, und Jane riss sich die Augenbinde ab und schaute über ihre Schulter. Alles, was sie sah, als die Tür hinter ihr zuging, war ein Gesicht, das aussah wie eine alte Kerze, die vom häufigen Gebrauch geschmolzen war. Sie war froh, dass sie es nicht ganz gesehen hatte.

„Danke“, flüsterte sie.