PROLOG
Würde der Bastard jemals anrufen?
Rauch stieg von dem Aschenbecher auf, in dem eine feine Cohiba unbeachtet vor sich hin glühte. Mehrere ausgebrannte Stummel lagen kreuz und quer in der gläsernen Schale. Der Mann schaute auf seine Uhr. War es geschehen?
Er zerdrückte die Zigarre in dem Aschenbecher aus geschliffenem Kristall. Sie schwelte noch eine Weile vor sich hin, während er durch sein Büro wanderte. Der Mann trat ans Fenster, schmutzige Scheiben, die von einer leichten Frostschicht überzogen waren. Mit einem behandschuhten Finger malte er ein X in den Raureif. Er starrte hinaus in die Nacht. Obwohl es beinahe Mitternacht war, war die Skyline hell erleuchtet, und Lärm drang an seine Ohren. Irgendein Festival auf dem Cheekwood-Gelände: viel Gelächter, eine großartige Stimmung. Wenn er die Augen zusammenkniff, konnte er die Scheinwerfer der Autos ausmachen, die von überbezahlten Parkwächtern um die Kurven des Boulevards kutschiert wurden.
Er tippte mit dem Finger gegen die Scheibe und wischte seine Zeichnung mit einer schnellen Bewegung fort. Langsam drehte er sich um die eigene Achse und ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. So leer. So dunkel. Geister lauerten in den finsteren Ecken. Die Schatten wurden größer, bedrohlicher. Sein Atem ging schneller, und er schaltete die Schreibtischlampe an. Er schnappte nach Luft, zog sie so tief in seine Lungen, wie er konnte. Die fluoreszierende Glühbirne scheuchte die Panik davon. Das Licht verlor sich in dem höhlenartigen Raum, aber es war immerhin Licht. Einige Dinge änderten sich nie. Nach all den Jahren hatte er immer noch Angst vor der Dunkelheit.
Auf dem Tisch lag Asche verstreut. Er war leer, bis auf das feine Rosenholzkästchen, den Aschenbecher und das nun schweigende Telefon. Auch der Raum selber war spartanisch ausgestattet, seine Eintönigkeit wurde nur durch den einfachen Tisch, einen hochlehnigen Lederstuhl auf Rollen und drei Klappstühle unterbrochen. Der Mann öffnete den Humidor und holte eine weitere Jubiläums-Cohiba heraus. Konzentriert folgte er dem Ritual – schnitt die Spitze ab, hielt das Feuerzeug ans Ende, drehte die Zigarre langsam in der Flamme, bis der Tabak Feuer fing. Er nahm einen tiefen Zug und ließ den Rauch in seine Lungen strömen. Ja. Das war schon besser.
Die Isolation war notwendig. In seinem jetzigen Zustand wollte er nicht gesehen werden. Es war besser, wenn man ihn als den starken, fähigen Mann in Erinnerung behielt, der er gewesen war, nicht als diese verkrüppelte Kreatur, diese dunkle Wesenheit mit den knorrigen Händen und dem gebeugten Rücken. Wie könnte dieses Bild Angst auslösen?
Nun würde es nicht mehr lange dauern. Die Angst würde sein bleiches Pferd sein, geritten auf den Rücken rotlippiger Mädchen. Seine Duplikate. Sein Stellvertreter. Seine Werkzeuge.
Das Klingeln des Telefons schreckte ihn auf. Endlich. Er antwortete mit einem brüsken „Ja?“ Einen Moment hörte er zu, dann legte er den Hörer auf.
Ein langsames Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Das erste dieser Nacht. Es war an der Zeit. Zeit, neu anzufangen, wieder aufzutauchen. Ein neues Gesicht, ein neuer Körper, eine neue Seele. Mit einem letzten Blick aus dem Fenster drückte er die Zigarre aus, schloss den Humidor und stellte sich den Schatten. Resoluten Schrittes ging er in Richtung Tür und verschwand in der Finsternis.
Das Telefon klingelte. Irgendwo tief in ihrem Gehirn erkannte sie den Klang, wusste, dass sie rangehen musste. Aber verdammt, sie hatte gerade einen so schönen Traum. Ohne ihre Augen zu öffnen, streckte Taylor Jackson den Arm über den warmen Körper neben sich aus, nahm den Hörer ans Ohr und murmelte ein verschlafenes „Hallo?“
„Taylor, hier ist deine Mutter.“
Taylor öffnete ein Auge und versuchte, die leuchtende Uhrzeit auf dem Wecker zu erkennen – 2.48 Uhr.
„Wer ist gestorben?“
„Meine Güte, Taylor, musst du immer so grob sein?“
„Mutter, es ist mitten in der Nacht. Warum rufst du mich um diese Uhrzeit an? Weil du irgendwelche schlechten Neuigkeiten hast. Also, wenn du sie einfach ausspucken könntest, damit ich wieder einschlafen kann, würde ich das sehr zu schätzen wissen.“
„Na gut. Es geht um deinen Vater. Er ist verschwunden. Von der THE SHIVER.“
Die unterschiedlichsten Gefühle wirbelten durch Taylor, und sie setzte sich auf und schwang die Beine über den Rand des Bettes. Win Jackson. Winthrop Thomas Stewart Jackson IV, um genau zu sein. Ihr glorreicher Vater war verschwunden? Taylor ließ den Kloß in ihrer Kehle sich setzen und blinzelte die für sie untypischen Tränen zurück, die sich in ihren Augen sammelten.
Ihr Vater. Die Brust wurde ihr eng. Oh Mann, sie wollte nicht einmal daran denken, was das bedeuten konnte. Vermisst. Das war gleichbedeutend mit tot, wenn man von einem Boot auf hoher See verschwand, oder?
Vater. Erstaunlich, wie ein einziges Wort eine solche Lawine der Bitterkeit auslösen konnte. Sie hörte die Gerüchte wie Zugvögel durch ihren Kopf schwirren. Daddy hat seinem kleinen Mädchen einen Platz in der Akademie besorgt. Daddy hat seinem kleinen Mädchen eine Versetzung von der Streife zum Morddezernat gekauft. Daddy hat dem Bürgermeister eine große Wahlkampfspende zukommen lassen und damit seinem kleinen Mädchen den Rang eines Lieutenants verschafft. Der gute alte Win Jackson. Heuschrecke, Investmentbanker, Anwalt, Politiker. Ein Gauner durch und durch, mit einem herzhaften Lachen in einer trügerisch gut aussehenden Verpackung. Win war eine Legende in Nashville. Eine Legende, von der Taylor sich so weit wie möglich fernhielt.
Auf der Bettkante in ihrem dunklen Schlafzimmer sitzend, brachte alleine der Gedanke an ihn den schweren Duft seines teuren Aftershaves in ihre Nase. Seitdem er es einmal in London gekauft hatte, bestand er darauf, jedes Jahr zu Weihnachten eine neue Flasche zu importieren.
Sie hörte ihre Mutter nach ihr rufen.
„Taylor? Taylor, bist du noch da?“
„Ja, Mutter, ich bin hier. Was hatte er überhaupt auf der THE SHIVER zu suchen? Ich dachte, er segelt nicht mehr.“
„Du kennst doch deinen Vater.“
Nein, tue ich nicht.
„Er hat sich entschlossen, die Jacht nach St. Barts zu bringen. Oder St. Kitts? Saint ach was weiß ich. Eine der karibischen Inseln auf jeden Fall. Ich bin sicher, dass er eine kleine Schlampe bei sich hatte, mit der er in den Sonnenuntergang gesegelt ist. Und nun sieht es so aus, als wenn er über Bord gegangen wäre.“
Kitty Jacksons Stimme verriet keine Emotionen. Kein Gefühl, keine Liebe, kein gar nichts. Manchmal fragte Taylor sich, ob das Herz ihrer Mutter schon aufgehört hatte, zu schlagen.
„Wurde die Küstenwache benachrichtigt?“
„Taylor, du bist doch diejenige bei der Strafverfolgungsbehörde. Ich weiß die Antwort darauf ganz sicher nicht. Außerdem verlasse ich das Land. Ich werde in Gstaad überwintern.“
„Was?“
„Skifahren. Von Oktober bis Januar. Erinnerst du dich nicht? Ich habe dir den Reiseplan geschickt. Auf jeden Fall habe ich keine Zeit, mich mit deinem Vater zu beschäftigen. Ich muss packen.“
Beim gereizten Ton ihrer Mutter stellten sich Taylor die Nackenhaare auf. Kittys erste Sorge hatte immer nur Kitty gegolten. Mein Gott, ihr Ehemann wurde vermisst. Vielleicht war er über Bord gegangen, war tot … aber so war Kitty nun mal. Immer eine eigene Leidensgeschichte parat.
„Danke, dass du mich informiert hast, Mutter. Ich werde mich darum kümmern. Genieß deine Ferien. Auf Wiederhören.“
Taylor legte auf, bevor ihre Mutter etwas erwidern konnte.
Verdammt, Win. In was für einen Schlamassel hast du dich denn jetzt wieder geritten?
Taylor war gerade dabei, sich wieder unter die Decke zu kuscheln, um wenigstens noch eine Stunde zu schlafen, als das Telefon erneut klingelte. Wer war das denn jetzt? Sie schaute auf das Display und erkannte die Rufnummer. Mit professionellerem Ton als bei ihrer Mutter nahm sie den Anruf entgegen.
„Taylor Jackson.“
„Ich habe hier ein totes Mädchen, das du dir ansehen musst.“
„Ich bin gleich da.“