9. KAPITEL

Nashville, Tennessee

Dienstag, 16. Dezember

22:30 Uhr

„Möchtest du noch ein Corona, Jane?“

Jane Macias warf einen Blick auf die klare Glasflasche mit dem Limonenschnitz im Hals. Mehr als ein halber Schluck war nicht mehr drin. „Ja, gerne, Jerry.“

„Kein Problem, Kleine.“

Der Barkeeper ging zu der Kühltruhe zu seiner Rechten, steckte seine Hand ins Eis und zog eine weitere Flasche Bier heraus. Er entfernte den Kronkorken und stellte die Flasche vor Jane hin. Dann schob er einen kleinen Limonenschnitz in den Flaschenhals.

„Voilà.“

„Wer hätte gedacht, dass du so sprachgewandt bist, Jerry? Danke.“ Sie schenkte dem älteren Mann ein warmes Lächeln. Er war nett zu ihr gewesen. Hatte weder neugierig gefragt, noch versucht, sie anzumachen. Er hatte ihr nur ihr Bier gebracht und sie alleine gelassen: also genau das, was sie jetzt wollte.

Jane wandte sich wieder ihrem Buch zu. Alleine in einer Bar zu sitzen und zu lesen hatte etwas Erschreckendes, aber sie brauchte die Pause, und heute Abend gab es das Bier zum halben Preis. Der riesige, Football spielende Freund ihrer Mitbewohnerin war heute Abend bei ihnen – er saß bei den Tennessee Titans auf der Bank, und Jane wusste, dass sie in ihrem kleinen Apartment heute Nacht keine Ruhe finden würde.

In letzter Zeit war sie immer öfter in die Bar neben dem VIBE Stripclub geschlüpft. Das Control, wie die Bar hieß, war normalerweise recht leer, und irgendwie hatte die Atmosphäre etwas Gemütliches an sich. Okay, nebenan dröhnten die Bässe, und die Lichter flackerten im Takt der nicht besonders hübschen Mädchen, die sich auf kleinen Plexiglasbühnen um Stangen wanden, aber hey, es könnte schlimmer sein. Sie könnte eine von ihnen sein. Stattdessen saß Jane im Halbdunkel der anonymen Bar nebenan und genoss die Wärme und das leicht beschwipste Gefühl von dem kalten Bier und versuchte, den Lärm zu ignorieren. Die Klientel war außerdem perfekt für den Roman, den sie in Gedanken schrieb. Sie brauchte Inspiration, und hier gab es davon mehr als genug.

Das Control bot ihr außerdem den Vorteil der Anonymität. Hier lief sie kaum Gefahr, auf Leute von der Arbeit oder aus ihrem Wohnhaus zu treffen. Es war gut zu wissen, dass sie alleine sein konnte. Auch wenn Jerry ihren Vornamen kannte, wechselte das Publikum an einem Abend so häufig, dass kaum jemand den ganzen Abend über blieb. Die Leute schauten kurz rein, wenn sie aus dem VIBE kamen, um zu sehen, ob hier was los wäre, aber nur wenige von ihnen fanden, dass es wert war, ein Weilchen zu bleiben. Sie hätte sich einen netten Coffeeshop suchen sollen, in dem sie abhängen konnte. Bestimmt gab es irgendwo in der Nähe einen Starbucks, aber da würde Skip sie finden. In die Nähe dieser Bar würde er sich jedoch in einer Million Jahren nicht verirren, lag sie doch im gleichen Haus wie die Sündenfabrik.

Skip Barber. Was für ein armer Tropf. Ein sich abquälender Songwriter, der Jane durch ganz Nashville folgte und dachte, sie würde groß rauskommen. Als sie ihren Wunsch äußerte, lediglich zur Arbeit zu gehen und keinen Plattenvertrag landen zu wollen, dachte Skip, sie würde Witze machen.

Er hatte sie in einem schwachen Moment erwischt, im Tootsie’s in der Innenstadt. Dort hatte sie leicht angetrunken Karaoke gesungen, als wenn ihr Leben davon abhinge. Janes Stimme war süß und klar, perfekt fürs Singen am Mikrofon. Seit sie nach Nashville gekommen war, hatte man ihr schon öfter gesagt, dass sie das nutzen sollte, um die neue Julie Roberts oder Faith Hill zu werden. Jane hatte immer nur gelächelt und genickt. Sie hatte kein Verlangen danach, auf der Bühne zu stehen. Stattdessen war sie mehr als zufrieden, ihre Wörter auf Papier gedruckt zu finden, auf dass sie von anderen gelesen wurden. Eine Sängerin? Oh nein. Schreiben war ihre Berufung. Sie wollte einen Pulitzerpreis gewinnen. Einen George Polk. Sie wollte die Welt mit ihren Gedanken und Einsichten auf den Kopf stellen.

Es machte ihr nichts aus, dass das geschriebene Wort totgesagt wurde. Dass das Internet angeblich den traditionellen Journalismus zerstörte und die Menschen für die neuesten Nachrichten zu ihrem Laptop statt zu einer Zeitung griffen. Das war egal. Sie würde immer einen Weg finden, ihre Story der Öffentlichkeit zu präsentieren.

Aus diesem Grund hatte sie auch den Job beim Tennessean angenommen. Er war eine der letzten Bastionen puren investigativen Journalismus. Die Tennessean-Reporter Nat Caldwell und Gene Graham hatten für die Aufdeckung der Machenschaften bei den United Mine Workers den Pulitzerpreis gewonnen. David Halberstram und Tom Wicker hatten dort gearbeitet. John Seigenthaler war lange Jahre der Herausgeber gewesen. Sie alle waren großartige Männer, die es nachzuahmen lohnte.

Nur Skip wollte, dass sie andere Ziele verfolgte, Sängerin wurde und eine Platte herausbrachte. Einen Teufel würde sie tun. Sie hatte ihn gebeten, nach Hause zu gehen, sie mit seinen Träumen für sie in Ruhe zu lassen, aber er war immer noch überzeugt, dass er sie umstimmen könnte. Er wollte die Worte schreiben, die sie singen sollte. Gemeinsam würden sie reich und berühmt werden. Ja, klar.

Ihr Handy klingelte, und sie warf einen Blick auf das Display. Großer Gott, es war Skip. Würde er die Fingerzeige denn niemals verstehen? Sie ignorierte den Anruf. Im Moment war sie einfach nicht in der Stimmung, sich mit diesem Mann zu beschäftigen. Sie wollte einfach nur ein paar Stunden in Ruhe lesen.

Sie hatte sich gerade in ihr Buch vertieft, als eine Gruppe Frauen lachend und kichernd in die Bar einfiel. Ein Junggesellinnenabschied von nebenan, dachte Jane. An einem Dienstagabend. Wann war es eigentlich auch für Frauen Usus geworden, an ihrem Junggesellinnenabschied in einen Stripclub zu gehen? Mit gezieltem Blick erspähte die Anführerin der Gruppe drei leere Stühle direkt neben Jane. Mist.

Die drei angeheiterten Feiernden kamen auf leicht unsicheren Beinen herüber. Offensichtlich war das hier nicht ihr erster Zwischenhalt an diesem Abend. Kreischend und lachend kletterten sie auf die Hocker, als wären sie noch nie vor der Tür gewesen. Die Anführerin rief nach Jerry.

„Tschuldigung, Barkeeper? Hier werden ein paar Drinks benötigt.“

Sie drehte sich um und musterte Jane. Ihre dunklen Augen blickten kühl. Jane konnte sehen, was in ihr vorging. Konkurrenz? Nein. Ohne einen zweiten Blick wurde Jane als uninteressant verworfen. Sehr gut.

Aber sie waren laut und angetrunken, und Jane konnte nicht umhin, ihre Unterhaltung mitzubekommen.

Die mittlere Frau, die zukünftige Braut, wie es schien, war betrunkener als ihre Freundinnen. Als Jerry ihre Bestellung aufnehmen wollte, lehnte sie sich über die Bar, wobei die falsche Tiara aus ihren erdbeerblonden Locken rutschte, und lallte: „Hey, bist du nicht einer von Gilligans Insel?“

Ihre Freundinnen lachten sich tot, und Jerry, der Bob Denver ein klitzekleines bisschen ähnlich sah, verdrehte gutmütig die Augen.

„Was kann ich den Damen denn bringen?“

Die Brautjunger zur Linken, eine dürre Blondgefärbte, bei der die Ansätze zu sehen waren, verkündete, dass sie alle Cosmopolitans wollten.

Dann drehten sie sich alle zu der nahezu leeren Bar um, und die Braunhaarige stellte sie alle mit großer Geste vor.

„Juhu, ihr alle. Ich bin Coco, die Rothaarige dahinten ist Barbie, und diese wunderschöne, zauberhafte Kreatur in der Mitte ist Sierra. Sierra wird bald heiraten, wisst ihr. Also spendiert uns einen Drink.“ Für sich genommen waren die Namen alle ungewöhnlich und hübsch, aber im Zusammenhang mit dieser Gruppe wirkten sie wie Varieté-Pseudonyme, eine Zusammenstellung von „Finde deinen Pornonamen heraus“ – eine Kombination aus dem Vornamen deines ersten Haustiers mit dem Mädchennamen deiner Mutter. Jane fragte sich, ob die drei wohl ganz normale Nachnamen hatten oder welche, die ähnlich exotisch waren.

Jerry machte sich daran, die gewünschten Cocktails zu mixen, und die Frauen drehten sich wieder um, wobei sie ihren Blick auf der Suche nach einem verfügbaren Mann durch den Raum schweifen ließen. Jane schaute über ihre Schulter und sah, dass die Bar nur zwei weitere Gäste hatte. Einen einsamen älteren Mann, der seit einer guten Stunde in sein Bierglas starrte, und einen gut aussehenden, militärisch wirkenden Typen mit Ehering. Jane lächelte. Er schien ein netter Kerl zu sein. Sie nahm an, dass seine Freunde sich alle nebenan befanden und er seiner Frau treu sein wollte.

Eine etwas blutleere Auswahl für die Junggesellinnen. Vielleicht würde das dafür sorgen, dass sie schneller wieder verschwanden.

Aber nein. Vollkommen ungerührt vom Mangel an männlicher Begleitung wurden die Mädels immer lauter. Jerry brachte ihnen die Drinks, die sie herunterkippten wie die Profis, um sofort eine neue Runde zu bestellen. Coco, Barbie und Sierra schien es nicht zu kümmern, dass es hier keine wirklichen Zielpersonen für ihr Verhalten gab; sie wandten sich einfach einander zu und kamen sich dabei näher, als normale Freundinnen sich kommen sollten. Die Brünette holte eine Packung wie Penisse geformte Zigaretten hervor, was die anderen beiden in einen hysterischen Lachanfall trieb. Wie die Wasserbüffel keuchend, saugten kurz darauf alle drei an den eklig stinkenden Zigaretten. Laute, rauchende Betrunkene. Nicht gerade das, was Jane sich für heute Abend vorgestellt hatte.

Sie wurde es leid, neben den Frauen zu sitzen, und rutschte näher zu dem Soldaten. Er schien sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern, vielleicht ließ er sie ja auch in Ruhe.

Aber sobald sie sich setzte, breitete sich ein konspiratives Lächeln auf seinem Gesicht aus.

„Ich wusste gar nicht, dass man, wenn man lange genug im Stripclub arbeitet, den Dienstagabend freibekommt.“

„Autsch“, erwiderte Jane. „Das war böse.“

Der Mann errötete, und Jane fühlte sich schlecht. „Böse, aber lustig. Das ist schon ein Trio … Ich hoffe, dass ich mich niemals so peinlich in der Öffentlichkeit benehmen werden, sollte ich mal heiraten.“

Der Mann strahlte förmlich. „Du bist nicht verheiratet?“

„Nein, Süßer, aber du.“ Sie sah demonstrativ auf seinen Ehering.

„Ja, na ja, stimmt. Irgendwie. Sie hat mich verlassen. Ich bin gerade erst nach Hause gekommen und habe es erfahren.“

„Nach Hause? Von wo?“

„Oh, weißt du, da kann ich nicht drüber reden. Er wurde wieder rot. “Sorry, ist eines dieser Dinge.“

„Natürlich, ich verstehe.“

Jane beendete die Unterhaltung, indem sie ihre Nase wieder in ihr Buch steckte. Vielleicht würde er gehen. Er war süß, aber sie brauchte nicht noch eine männliche Katastrophe in ihrem Leben. Sie hatte bereits Skip, der ihr hinterherhechelte und es nicht kapierte. Keine Karriere als Sängerin, keine Freundin für Skip. Er glaubte es nur nie.

„Troy.“

Genervt merkte Jane sich die Stelle im Buch, an der sie war, und hob den Blick. „Wie bitte?“

„Mein Name. Ich heiße Troy.“

„Schön, dich kennenzulernen, Troy. Aber wenn es dir nichts ausmacht, würde ich jetzt gerne …“

„Oh, klar, sicher. Versteh ich total. Weißt du was, lass mich dir ein Bier spendieren.“

Jane schaute ihre Flasche mit gerunzelter Stirn an. Hups, sie war fast leer. Sie musste sie ausgetrunken haben, während sie dem Junggesellinnenalbtraum zugesehen hatte. Sie warf einen Blick zur Bar. Barbie, nein, es war die zukünftige Braut, Sierra, hatte angefangen, die Bänder an ihrem Neckholder-Top zu lösen. Sie versuchte, sich herauszuwinden und wärmere Gefilde anzusteuern: den Schoß von Jerry, dem Barkeeper. Sie wirkte, als hätte sie gerade erst festgestellt, dass ihr Aufzug für diese Jahreszeit wirklich unangebracht wäre. Jane konnte ob der schieren Lächerlichkeit der Situation ein Kichern nicht unterdrücken.

„Sicher, Troy, du kannst mir ein Bier spendieren. Aber danach muss ich mich wieder um meine Studien kümmern.“ Studien. Beinahe wäre sie errötet. Sie las einen Nackenbeißer, den sie sich auf dem Weg zur Wohnungstür im Vorbeigehen geschnappt hatte. Er schaffte es kaum, ihre Aufmerksamkeit zu erhalten.

„Großartig. Ich bin sofort zurück.“

Jane sah zu, wie Troy zu Jerry ging, zwei Finger hob und sich dann mit einem Blick, der sagte: „Ich bemerke die drei halb nackten, betrunkenen Frauen, die um mich herum auf der Bar herumkrabbeln, gar nicht“, an den Tresen lehnte. Er lächelte Jane an, aber die drei Frauen stürzten sich sofort auf ihn, und Jane schüttelte den Kopf. Es konnte wohl ein bisschen dauern, bis Troy mit dem Bier zurückkäme.

Jane versuchte, das Lächeln zu erwidern, aber sie fühlte sich auf einmal so benebelt. Meine Güte, wie viele Biere hatte sie denn gehabt? Sie erinnerte sich an zwei, aber ihr Kopf fühlte sich an, als wäre sie sturzbetrunken. Wow, ihr Gleichgewichtssinn war weg. Eine kleine Stimme in ihrem Inneren flüsterte ihr zu, aufzustehen und wegzulaufen, aber ihr Körper gehorchte nicht. Sie fühlte etwas Klauenartiges, eine Hand unter ihrem Arm, sah den vagen Umriss eines Gesichts und stellte fest, dass der ältere Mann zu ihrer Rettung geeilt war.

Danke, es geht schon wieder, wollte sie sagen, aber die Worte purzelten als nichtssagende Laute aus ihrem Mund.

Einen kurzen Moment lang wusste sie, dass das nicht gut war, dass sie nach Troy rufen sollte. Er war groß und stark und konnte diesen unheimlichen Mann mit seinen dünnen Haaren davon abhalten, sie mitzunehmen, konnte ihr helfen, sich zu befreien, aber der Moment ging vorüber, und sie schwamm davon und fühlte nichts mehr.