Behutsam legte Loéys Inanis Körper neben Janiel nieder. Gemeinsam zerfielen ihre Hüllen zu Erde. Dann konzentrierte sie sich auf das Körbchen, in dem sich die Haare ihrer beiden Großeltern mischten, und erfüllte Inanis letzte Hoffnung. Nur wenig Mühe kostete es, mit Hilfe ihrer Kräfte aus den Flechten einen silbergrauen Umhang zu weben. Er würde jedem den Tod bringen, der ihn sich umlegte, außer Loéys selbst. Auf diese Weise würde die Magie erhalten bleiben, auch wenn das Lebenswerk dieser beiden so außergewöhnlichen Menschen längst geehrt war.

„Ruhet bei den göttlichen Geschwistern, niemand hat es mehr verdient als ihr“, sagte sie, traurig und glücklich zugleich. Jetzt, wo sie wahrhaftig wusste, wer in ihr wiedergeboren war, verstand sie die tiefe Zuneigung, die Inani ihr stets entgegen gebracht hatte.

„FINDE, WAS NIEMAND SIEHT! BEWAHRE, WAS NIEMAND KENNT! GLAUBE, WAS NIEMAND WEISS! GEHE DORTHIN, WO ES KEINE PFADE GIBT. DU BIST MEIN, LOÉYS.“

Diese Worte hatte Pya zu ihr gesprochen. Fast dieselben Worte, die bereits Corin gesagt worden waren. Die gleiche Aufgabe. Loéys lächelte. Sie fand vieles von Corin in sich, und noch viel mehr, was so vollkommen anders war.

„So ist es, Loéys. Du bist ein einzigartiger Mensch, auch, wenn deine Seele bereits einmal gelebt hat. Corin war durch und durch sanft, eine Taube, eine Kundschafterin. Du bist mehr wie Inani: eine Kriegerin, bereit, ein neues Zeitalter zu beginnen.“

Verwundert lauschte sie der Stimme in ihrem Kopf. Sie erkannte sie so gut, obwohl sie diese Stimme noch niemals selbst gehört hatte, sondern sich nur durch Inani an sie erinnerte.

„Ich bin Maondny, und keine Sorge, ich werde mich dir nicht aufdrängen. Verzeih mir meine Neugierde, auch für mich ist es immer wieder aufregend, wenn sich das Gleichgewicht einer ganzen Welt bewegt.“

„Ich fühle mich geehrt, dass du mit mir sprichst, Traumseherin. Begleite ruhig mein Schicksal. Neugier ist eine Tugend, nicht wahr?“

Die Elfe lachte leise, antwortete aber nicht mehr.

Loéys seufzte, sie musste nun ihr Werk beginnen. Genug der Trauer und des Abschieds! Sie nahm die gewaltige Chronik zur Hand, in der Inanis gesamte Erinnerung enthalten war, Zeugnis eines Zeitalters, das nun unwiderruflich enden musste. Nach kurzer Überlegung schickte sie es erst einmal an den Rand der Nebelpfade, wo sie es leicht wiederfinden würde. Es gab niemandem in ganz Enra, nicht einmal ihre Mutter, dem sie dieses Buch anvertrauen konnte, also musste sie ein geeignetes Versteck dafür finden.

Den magische Umhang legte sie in ihr leeres Körbchen, und verwandelte sich dann in ihr Seelentier: Ein großer Falke, stark genug, den Korb zu tragen und dabei lautlos durch die Nacht zu fliegen, auf den Königspalast zu.

Der amtierende König war kein Nachfahre von Thamar, er galt als schwacher Herrscher, der sich mehr um Vergnügen, Jagd und Pferdezucht kümmerte als um sein Volk. Grausam war er nicht, im Gegenteil; darum lehnte sich niemand gegen ihn auf. Loéys erkannte aus Inanis Erinnerungen, dass es sich um Ceros Blutlinie handelte. Nun, die würde heute Nacht enden, unwiderruflich. Das Gleichgewicht hatte zum Stillstand geführt. Vor Inanis Geburt hatte Ti vorgeherrscht. Jetzt musste Pya an die Macht gebracht werden. Zeit, Roen Orm eine neue Königin zu bescheren!

Loéys landete auf dem Dach des Palastes und blickte in ihrer Falkengestalt kurz auf zum Tempel der Sonne. Auch dort würde sie heute Nacht ihr Werk vollbringen.

Eine Hexe hatte zahllose Pflichten, und sie wollte nicht länger müßig sein.

 

 

Finis

Roen Orm 4: Herrscher der Elemente
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