17.
„Wenn du im Kampf stirbst, dann sollte man sich an deinen Mut erinnern. Da nichts von dir zurückbleibt als die Geschichten, die man sich von dir erzählt, wäre es erbärmlich, wenn diese Geschichten von Feigheit, Tränen und Betteln um ein gnädiges Ende berichten, nicht wahr?“
Ehrenkodex aller kriegerischen Völker
„Inani?“, sagte er verunsichert und starrte konzentriert auf ihr von Illusionen überdecktes Gesicht.
Pya, NEIN! Er erkennt meine Aura! Die Götter verfluchen dich, warum bist du hergekommen?
Stumm vor Entsetzen blieb sie stehen, unfähig zu reagieren, irgendetwas zu sagen. Sie spürte, wie alle Anwesenden Cero anstarrten, hörte, wie ihr Name geflüstert wurde – ein bekannter Name am Hofe, auch, wenn er nicht zu ihrem jetzigen Gesicht gehörte. Der Name einer Hexentochter.
„Verzeiht, ich wollte nicht stören. Man sagte mir im Tempel, dass der Erzpriester hier zu finden ist, die Bediensteten haben mich hereingelassen“, sagte Cero verwirrt und trat in den Saal hinein. Sein Blick glitt über alle Anwesenden und blieb an der Dame im Mittelpunkt hängen.
„Corin? Was …?“ Ihm dämmerte offensichtlich, dass die Dinge nicht so waren, wie sie sein sollten und schwieg, doch zu spät: Seine Worte waren gehört worden und nicht mehr rückgängig zu machen.
Rynwolf reagierte als Erstes.
„Du kennst sie?“ Er schlug Kythara nieder, packte Corin am Arm und schüttelte sie durch. „Also ist sie auch eine Hexe, eine verfluchte Dunkle Tochter! Aber das ist nur möglich, wenn …“ Er wirbelte zu Janiel herum, der bereits sein Schwert gezogen hatte, das Sonnenpriester selbst in Anwesenheit des Königs tragen durften. „Du paktierst mit den Hexen! Du, dem ich vertraut habe wie meinem eigenen Sohn!“, brüllte er und riss sein eigenes Schwert heraus. Corin warf sich gegen ihn, brachte ihn zum Stolpern, und da war auch Inani heran; sie stellte sich zwischen Rynwolf und Janiel.
„Fass ihn nicht an!“, fauchte sie.
Auf einen Blick von ihr postierten ihre Hexenschwestern und die Leopardin sich so, dass die Leibgarden der Fürsten nicht angreifen konnten. Ihr Kopf ruckte herum, als sie die Gefahr spürte, doch zu spät: Ilat stand hinter Janiel, er umklammerte ihren Geliebten mit stählerner Faust, presste ihm ein Messer an die Kehle. Sein triumphierender Gesichtsausdruck ließ Inanis Blut gefrieren.
„Das ist also der Mann, den du liebst?“, wisperte er. Seine Hand wühlte durch Janiels dunkles Haar, drückte seinen Kopf leicht zur Seite, ohne das Messers zu lösen. „Ein Jammer. Weißt du, was ich traurig finde?“, flüsterte er in Janiels Ohr. Er ließ dabei Inani keinen Moment aus den Augen, die darum kämpfte, sich nicht auf ihn zu stürzen und ihn mit bloßen Händen zu zerreißen. „Ich hasse es, zu verlieren. Jeden anderen Mann, Janiel, absolut jeden anderen, hätte ich gefoltert, gequält, getötet, ohne mit der Wimper zu zucken. Nur, um Macht über deine Liebste zu gewinnen. Dich kann ich nicht umbringen. Du erinnerst mich zu sehr an meinen Bruder.“ Er gab Janiel frei, drehte ihn dabei gewaltsam zu sich um. „Trotzdem wirst du sterben, Kleiner.“ Mit diesen Worten stieß er Janiel von sich, auf Rynwolf zu. Janiel reagierte blitzschnell, warf sich rechtzeitig herum und entging dem Hieb des Erzpriesters. Mittlerweile kochte der Saal: Melliare, Ellenar, Niomé und Kythara kämpften gegen Gardisten und Leibwächter, einige der mutigeren Kronratsmitglieder hatten ebenfalls Waffen gezogen. Die Leopardin attackierte jene Bediensteten und Gardisten, die in den Saal hineindrängten und hielt so den Hexen den Rücken frei. Corin hatte ihr Samtkleid zerrissen, damit sie bewegungsfähig war und entwaffnete dann einen der Fürsten, um mitkämpfen zu können. Inani wollte zu Janiel eilen, der von Rynwolf bedrängt wurde, doch fand sich plötzlich Cero gegenüber.
„Ich will nicht gegen dich kämpfen!“, sagte er bedauernd. Inani ließ ihre nutzlose Illusionsfassade fallen.
„Du tust es gerade“, erwiderte sie, während sie seine brillanten Attacken mit ihrem Kampfstab parierte.
„Ich will dir so gerne glauben. Aber wenn ich mich jetzt offen auf deine Seite stelle und es findet sich heraus, dass es keinen Thamar gibt, dass ich einer raffinierten Intrige aufgesessen bin, ziehe ich Feindschaft und Rache von Roen Orm und Enras gesamter Sonnenpriesterschaft auf Barrand.“
„Was schlägst du vor?“ Verbissen ließ sich Inani unter der Wucht seines Angriffs zurücktreiben, hielt dabei die ganze Zeit Kythara, Janiel und Corin im Auge.
„Streng dich ein bisschen mehr an, lass dich von mir leicht verwunden, wenn mein Onkel herübersieht und setz mich dann magisch außer Gefecht. Ich bin nicht gegen dich, Inani, aber ich kann es mir nicht leisten, für dich zu sein.“
Ohne zu zögern ließ Inani sich den linken Arm aufschlitzen, brüllte laut genug, dass jeder im Saal das Blut bemerken konnte, das aus der Wunde sprudelte. Übergangslos deckte sie Cero mit so raschen Schlagfolgen ein, dass der Fürst kaum noch zum Atmen kam.
„Irgendwann, in einer besseren Welt, will ich dich als Verbündeten auf meiner Seite wissen!“, flüsterte sie in sein Bewusstsein.
„Wäre ich zwanzig Jahre jünger, würde ich dich zur Frau nehmen!“
„Wäre ich nicht mit Herz und Sinn vergeben, würde ich das Angebot annehmen, egal, wie alt du bist!“
Mit diesen Worten schleuderte sie Cero mit einer wuchtigen Attacke einige Schritt zurück, griff mit ihrer Erdmagie nach ihm und ließ ihn ohnmächtig zu Boden gehen. Sofort sprangen drei Gardisten auf sie zu, Inani löste sich von der Magie und verteidigte sich mit dem Stab.
„RÜCKZUG!“, schrie Kythara über das wilde Gemenge hinweg. Die Königin griff nach einem Stuhl und warf ihn durch die kostbaren Buntglasscheiben der Fensterfront.
„Inani, sämtliche Sonnenpriester sind auf dem Weg. Wir werden nicht fliehen können, die ganze Bande würde uns nur durch den Nebel folgen, bevor wir die Mädchen geholt haben.“
Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen erinnerte sich Inani an die Junghexen, die sich noch im Palast befanden und nicht aus eigener Kraft entkommen konnten. „Geh, Inani, jetzt sind die Pfade noch offen, und hole jede kampffähige Hexe Enras herbei!“
Inani schlug ihre Gegner nieder und rief ihre Seelenvertraute zu sich.
„Sorg für Ablenkung, niemand darf mir folgen!“, befahl sie der Raubkatze und griff gleichzeitig nach der Nebelwelt. Mit einem kurzen Blick vergewisserte sie sich, dass alle, die sie liebte, im Moment zurechtkamen. Corin focht tapfer gegen mehrere Soldaten, denen es sichtlich schwer fiel, eine solch unschuldig aussehende Frau anzugreifen. Janiel hielt gegen Rynwolf und den Attacken von zwei Gardisten stand, die sich zum Glück eher gegenseitig behinderten. Kythara drängte das Geschehen unerbittlich auf die ebenerdigen Fenster zu, um nach draußen zu gelangen. Ilat saß derweil auf seinem Thron und beobachtete unbeteiligt den tödlichen Tanz. Sein Blick fiel auf sie, sie erhaschte seine Gedanken.
„Ist das Spiel schon vorbei, Kätzchen?“
„Noch lange nicht. Es endet erst, wenn ich habe, was ich will, oder in Pyas Armen ruhe!“
„Fliehst du ohne deinen Liebsten?“
„Ich hole nur ein bisschen Verstärkung, die Priester werden gleich den Palast stürmen. Fass ihn nicht an, Ilat, ich warne dich!“
„Sag das Rynwolf. Dieser Bastard macht alles kaputt, wenn du nicht aufpasst, auch deinen Geliebten.“
Inani hätte triumphieren müssen. Vielleicht war nicht alles verloren, wenn Ilat sich innerlich von Rynwolf abwandte, war das Hauptziel erreicht. Jetzt mussten sie nur noch alle lebend hier herauskommen ... Die tiefe Trauer in Ilats Stimme berührte sie, schmerzte mehr als der Schnitt an ihrem Arm. Hastig rannte Inani in den Nebel hinein, sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen!
Als sie sicher vor Verfolgern war, konzentrierte Inani sich auf ihre Luftmagie. Jede Hexe konnte durch die Macht der Erde, die ihnen allen gemein war, miteinander in Verbindung treten, doch um sie alle gleichzeitig zu erreichen, brauchte es die Kraft der Luftenergien.
„TÖCHTER DER PYA! ICH BIN INANI, TOCHTER DER SHORA, UND RUFE EUCH IM NAMEN VON KYTHARA, UNSERER KÖNIGIN!
IHR HEXEN, EINE JEDE VON EUCH, DIE AUFGENOMMEN WURDE IN DEN INNERSTEN KREIS, EINE JEDE, DIE FÄHIG IST ZU KÄMPFEN, KOMMT NACH ROEN ORM ZUM PALAST DES KÖNIGS! HELFT, DIE KÖNIGIN ZU RETTEN! IHR SCHWESTERN DER DUNKELHEIT, LASST UNS NICHT IM STICH!“
Sie erschauderte, als hundertfache Antworten ihr Bewusstsein überschwemmten. Die Töchter der Dunkelheit waren auf dem Weg, die ewige Stadt in die Knie zu zwingen.
Inani kehrte zurück. Der Thronsaal war inzwischen verwaist, der Kampf ging draußen weiter. Tote und Verletzte lagen am Boden, unter ihnen Cero, der sich langsam zu regen begann; aber sonst niemand von denen, um die Inani fürchtete. Ohne zu zögern sprang sie durch die zerstörten Fenster und warf sich ins Kampfgetümmel, achtete nicht auf die Hexen, die ihr aus dem Nebel folgten wie eine schwarze Flut. Sonnenpriester empfingen sie mit Feuerkugeln und Stahl.
Inani sah, was geschehen würde. Die Zeit stand still in diesem Moment, die Schreie, der Lärm, alles versank um sie herum. Sie sah Rynwolf, das Schwert erhoben, bereit, Corin zu töten. Sie sah Janiel, auf den vier Feuerkugeln zugleich zurasten. Sie sah Kythara, die schneller rannte als es einem Menschen möglich sein sollte. Janiel schrie, warf sich mit ausgebreiteten Armen vor Corin. Inani schrie mit ihm, sie spürte das Schwert durch den Körper ihres Liebsten dringen, als wäre es ihr eigener. Sie versuchte verzweifelt, zu ihm zu gelangen, doch die Kämpfer waren wie eine Mauer. Kythara brüllte, sie wurde von all den Feuerkugeln getroffen, die auf Janiel gezielt gewesen waren. Inani kämpfte sich durch, schlug wie wild um sich, achtete nicht auf Deckung, Freund oder Feind, bis sie den Ort des Schreckens erreichte. Kythara lag über Janiel, schützte ihn mit ihrem eigenen Körper. Beide regten sich nicht. Mit fliegenden Fingern suchte Inani nach Herzschlägen, nach Atemzügen, und fand nichts, nur furchtbare Verbrennungen und Blut. Die Flammenschrift auf ihren Gelenken flackerte, bis sie erlosch. Inani schrie und weinte, ohne es richtig zu spüren, rief nach ihrem Liebsten, wissend, es war vergebens.
Sie wusste nicht, wie lange sie dort auf dem Boden kniete, bettelnd, weinend, beschützt von ihrer Seelenschwester und mehreren Hexen, die entschlossen darüber wachten, dass niemand Inani zu nahe kommen konnte.
Um sie herum tobte offener Kampf zwischen Hexen,
Priestern und königlichen Soldaten. In ihrem Innersten war nichts als Leere. Janiel war fort, ohne sie dorthin gegangen, wohin sie ihm nicht folgen konnte.