12.

 

„Lebt wohl. Sollten die Götter uns lieben, werden wir uns bald wieder sehen, in diesem oder auch dem nächsten Leben.“

Abschiedsgruß der Elfen

 

Jordre schwebte. Zumindest fühlte sich der Trancezustand, in den Ledreas Magie ihn versetzt hatte, genau so an. Ruhelose Bilder rasten durch sein Bewusstsein, viel zu schnell, um sie zu begreifen. Schmerz durchzog alles, was er wahrnahm, brennender, zerreißender Schmerz.

„I-stanam eidyonet!“, schrie jemand. Eine von Qual zerrüttete, ferne Stimme. Es dauerte lange, bis Jordre diese Stimme erkannte: Er selbst war es, der diese Wort rief, wieder und immer wieder. Noch länger dauerte es, bis er die Bedeutung der Worte begriff: „Ich werde nichts verraten!“

Ein Gesicht schälte sich aus dem Strudel flackernder Bilder hervor, kam langsam näher. Ein dunkelgraues Orngesicht, spitz und seltsam deformiert, als hätte man es mit einem Schmiedehammer zerschlagen und anschließend nur noch ungefähr zusammensetzen können. In den schwarzen Augen des Orn loderte etwas, das über Wahnsinn hinausging. Vielfalt. Nicht ein, sondern tausende Lebewesen starrten auf Jordre nieder, manche zornig, andere voller Hass, die meisten brennend vor Todesangst und Schmerz.

Entsetzt begann Jordre zu schreien, versuchte diesem Anblick zu entkommen, dieser Erinnerung, die ihm gehörte. Die er nicht besitzen wollte. Aber es gab kein Entrinnen, denn egal, wohin er zu fliehen versuchte, er nahm seine Gedanken mit sich.

 

Voller Mitgefühl beobachtete Ledrea die drei jungen Wesen, die schreiend und leidend am Boden lagen, gefangen in Erinnerungen an eine Zeit, die lange vor ihren jeweiligen Geburten lag. Sie strich über Jordres schweißnasses Gesicht, der unentwegt I-stanam eidyonet! flüsterte.

„Was hat er dir angetan, dass du am Ende doch alles verraten hast, Shesden?“, sagte Ledrea traurig und hielt Jordres Hände fest, damit er sich nicht selbst verletzen konnte. Es war seltsam, dass sowohl Fin Marlas Prophezeiung als auch Chyviles Vorgehen und Maondnys Eingriff in das Schicksal dafür gesorgt hatten, dass Shesden in seiner wiedergeborenen Form mit Anedel statt Elys verbunden war.

„Sicherlich ein weiser Zug derjenigen, die geschickt genug sind, das Schicksal anderer zu zerstören“, flüsterte sie gedankenverloren. „Vielleicht hätte Shesden sonst nicht zugelassen, dass seine Liebste sich opfert …“

Jordre beruhigte sich langsam, oder womöglich war auch er nur zu erschöpft, um noch länger zu kämpfen. Ledrea setzte sich an Peras Seite, die haltlos weinte, um nun ihr beizustehen.

„Für dich bin ich hier geblieben, mecharasa nym, mein Liebes. Ich wusste, du bist mit den anderen verdammt und kommst zurück. Jandalin, Ilberle, deine Schwester Irviga, sie alle sind bei den Verlorenen … Doch du bist den anderen Weg gegangen. Ich hätte Anevy nicht verlassen können, niemals! Gesucht habe ich dich, immer wieder. Und jetzt, wo ich dich gefunden habe, kann ich nicht bei dir bleiben.“ Ledrea küsste die Stirn der wimmernden, klagenden jungen Frau. Peras Trance reichte zu tief, sie spürte nichts von der Nähe ihrer ersten Mutter. „Ich werde meinen Weg gehen, Anedel, um dich zu beschützen. Wenn die Götter es zulassen, wirst du irgendwann verstehen, warum ich es tun musste.“

Es zerriss ihr Herz, das Leiden ihrer Tochter, dieser drei viel zu jungen Geschöpfe miterleben zu müssen. Wäre doch nur mehr Zeit geblieben, sie langsam, Schritt für Schritt, in die Vergangenheit zu führen, über Jahre hinweg an das zu erinnern, was sie einst gewusst hatten, Fähigkeiten zu wecken, die in ihnen schlummerten. Als stolze Krieger hätten sie Osmege entgegen treten müssen, nicht als verängstigte Kinder!

„Aber wer weiß, womöglich war es tatsächlich eine glückliche Entscheidung. Wenn noch weitere Jahrzehnte ins Land gezogen wären, bevor sich entscheidet, ob Osmege oder wir siegreich sein werden, wäre möglicherweise zu viel zerstört gewesen. Ihr Götter, ihr solltet die Unsterblichkeit von uns nehmen. Gleichgültig, wie lange wir leben, die Auswirkungen der Magie werden wir wohl niemals verstehen!“

Lange Zeit saß Ledrea da und wachte über die schmerzlich jungen, zerbrechlichen Leben, die in ihrer Hand lagen. Nacheinander lösten sie sich aus der Trance und fielen ohne zu erwachen in tiefen Schlaf. Ledrea blieb dicht bei ihnen, sang leise ihre liebsten Lieder, ein letztes Mal. Sie nahm Abschied von ihrem langen, fünfmal neu begonnenen Leben, von Erinnerungen, die sie schon verloren geglaubt hatte, von all der Liebe, die sie erfahren durfte, doch nicht festhalten konnte.

Als ihre Schützlinge schließlich erwachten, war sie bereit.

„Ich verlasse euch jetzt“, flüsterte sie lächelnd. „Ihr erinnert euch noch nicht vollständig an eure früheren Leben, aber der Anfang ist gemacht. Von hier ab müsst ihr alleine euren Weg finden. Ich hingegen werde mich Osmege auf meine Weise stellen, und damit euren Kampf womöglich ein wenig erleichtern.“

Sie schüttelte den Kopf, als Pera aufbegehrte. „Die Prophezeiung hat keinen Platz für mich. Mein Fluch ist wirksam, ich werde nun gehen. Weine um mich, wenn es dir hilft.“ Sie küsste Peras Wangen, gelöst und in sich ruhend wie seit Jahrhunderten nicht mehr.

„Sollten die Götter uns lieben, werden wir uns wieder sehen“, wisperte sie und umarmte die junge Frau, in der ihre Tochter lebte. Rasch verabschiedete sie sich von Jordre, der ihr in der kurzen Zeit ebenfalls ans Herz gewachsen war, und von Chelsa, die kaum begriff, was um sie herum geschah. Ein Jammer, Ledrea hätte gerne gesehen, wie diese Geschichte enden würde.

„Bleibt hier, bis diese Traumwelt zusammenbricht.“ Sie winkte ihnen ein letztes Mal zu, diesen Geschöpfen, die sie liebte. Die Hoffnung all jener, die noch frei sein durften von Osmeges Schatten.

Dann trat sie hinaus aus ihrer Zufluchtsstätte.

Das Verstecken hatte ein Ende.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Roen Orm 4: Herrscher der Elemente
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