20.

 

„Wenn es nichts mehr zu verlieren gibt als das eigene Leben, und der Tod der Feinde zu gewinnen ist, dann können die Mächtigsten unter den Hexen den Todestanz beginnen. Sie schöpfen mit beiden Händen von Pyas Macht und tanzen zur Melodie der göttlichen Geschwister. Einmal begonnen, endet er mit der Vernichtung allen Lebens in ihrer Reichweite, bis die Hexe stirbt, ausgebrannt von der Kraft der Göttin. Pya wird sie zu sich nehmen, in allen Ehren, denn innigere Hingabe ist keinem Menschen möglich.

Yosi von Rannam, „Töchter der Dunkelheit“

 

 

„Verwandle dich!“, befahl Inani. „Dein Orientierungssinn hat noch nie zuvor versagt. Wenn es irgendwo Hilfe gibt in dieser großen Leere, wirst du sie finden. Ich lenke die Priester ab, und sobald es möglich ist, fliegst du los.“ Corin wollte aufbegehren, doch Inani packte sie mit stählernem Griff am Arm und zog die Freundin dicht an sich heran. „Keine Widerrede“, fauchte sie mit glühendem Blick. „Ich habe heute meinen Liebsten verloren, meine Königin, und mit mir wird meine Seelenvertraute sterben. Wag es nicht, mir zu widersprechen, Corin! Du wirst fliegen und suchen, was auch immer es in den Ebenen an Hilfe oder Zuflucht gibt!“ Feuerkugeln schlugen um die beiden Frauen herum ein, Rauchsäulen stiegen auf. Die Priester hatten ihre Verwirrung abgeschüttelt und formierten sich zum Angriff. Die Erde war glücklicherweise zu karg, als dass sie in Brand geraten konnte, zumindest diese Gefahr drohte ihnen nicht. Inani umarmte ihre langjährige Freundin ein letztes Mal, küsste ihre Wangen, stieß sie dann von sich. Übergangslos verwandelte sie sich in eine Raubkatze, sprang mit großen Sätzen fort von Corin, womit sie ihr Gelegenheit gab, sich zu Boden zu kauern und Taubengestalt anzunehmen. Die Angriffe der Priester konzentrierten sich auf den Panther, der brüllend über die Ebene raste, immer gerade noch in Reichweite der Feuerkugeln.

Inani blühte auf. Hier war sie in ihrem Element, im Mittelpunkt von Kampf und Gefahr. Einen großartigen Ort zum Sterben hatte Corin ihr gefunden! Es fühlte sich gut an, keine Sorgen mehr haben zu müssen. Sich den Instinkten des Raubtieres zu überlassen. Aber sie blieb nicht lange in dieser Gestalt. Sie wollte töten, und das konnte sie nicht mit Krallen und Reißzähnen schaffen, diesmal nicht. Inani brachte sich mit einigen raschen Sprüngen außer Reichweite und verwandelte sich zurück, blieb als Frau auf dem Boden hocken, lose mit ihren beiden Seelentieren verbunden. Sie wusste, ihre Augen leuchteten mit der Kraft der Kyphra, ihr Haar lockte sich glänzend schwarz um ihre Schultern. Ein enges, dunkles Kleid verhüllte ihren Körper, ohne ihn zu behindern. Sie war Schlange und Katze zugleich, mit dem Bewusstsein eines Menschen.

„Ich bin Inani, Tochter der Shora, Erwählte der Pya!“, rief sie mit weit hallender Stimme. Die Sonnenpriester rückten langsam vor, gewillt sie zu vernichten. Inani lauschte der fernen Melodie göttlicher Sphärenklänge. Sie musste sich dieser Musik hingeben, sie ganz und gar mit ihrem Sein verbinden, dann konnte sie tanzen.

Die Muster der Welt entfalteten sich vor ihren Sinnen und enthüllten die pulsierende Lebenskraft der Priester. Schwarze Energie kroch über den Boden, auf ihre suchenden Finger zu. Dies war nicht das blaue Feuer, das Leben erschuf und dem Schöpfungswerk diente. Dies war die Macht der Leere, der Vernichtung. Die dunkle Kraft floss willig in ihre Adern, erfüllte Inani mit der Melodie der Götter. Sie vergaß, wer sie war, was sie war, gegen wen sie kämpfte. Es gab nur noch die Musik und den Tod.

Leise singend trat sie einen Schritt vor, hob die Arme zum Himmel, um die Götter zu grüßen. Ihr Körper wiegte sich unendlich langsam im Takt der Klänge, die nur sie zu hören vermochte. Feurige Kugeln blitzten im Muster auf, fügten sich ein in den ebenmäßigen Reigen. Gleichgültig, wie schnell diese Feuermagie sein mochte, Inani wusste, wann sie sich drehen, einen halben Schritt vortreten, ein winziges bisschen ihre Knie beugen musste, um diesen vollkommenen Feuerwesen nicht im Wege zu stehen. Sie tanzte mit ihnen, voller Glück. Diese Kugeln waren ihre Begleiter im Tanz für die Götter. Hinter ihr flatterte eine Taube in die Luft. Einen Moment lang überlegte Inani, ob sie dieses Geschöpf töten sollte, diese Störung des vollkommenen Musters; aber die Priester waren näher, ein lohnenderes Ziel. Eine der Feuerkugeln traf den Vogel und warf ihn beinahe zu Boden.

Solche Verschwendung, das kleine Ding ist die Mühe nicht wert!, dachte sie amüsiert. Summend zog sie die Macht der Winde zu sich heran. Tiefschwarze Wolken türmten sich am Himmel, Inani ließ nun auch sie tanzen, im Gleichklang mit der göttlichen Musik. Die Menschen um sie herum versuchten, vor ihr zu fliehen, sie schrien zu Ti um Gnade und Vergebung.

Warum sollte ein Gott sich anstrengen, euch zu erlösen? Ihr armen Geschöpfe, euer Leben ist so kurz, jegliches Elend vergeht doch von alleine …

Barmherzig zog sie eine der schreienden, weinenden Kreaturen an sich und küsste seine Stirn. Sie sank tot zu Boden, gefolgt von weiteren seiner Art, deren Lebensmuster Inani im Vorbeitanzen auslöschte wie Kerzen im Sturmwind. So war es besser, das Muster beruhigte sich dadurch. Diese besinnungslos verängstigten Wesen erregten ihr Mitleid. Sie ließ sich niedersinken, hieb im Rhythmus der Melodie mit beiden Fäusten auf die Erde. Schwarze Energie sprudelte ihr entgegen, die Essenz aus Erde, Feuer, Wasser und Luft zugleich. Das, was nicht sein konnte, denn all diese Mächte zerstörten sich gegenseitig. Inani griff nach ihr, verwirbelte sie zwischen den Händen, formte eine dichte Kugel daraus. Unschlüssig, welches Geschöpf sie zuerst erlösen wollte, zuckte sie schließlich die Schultern und blies sanft über das schwarze, pulsierende Gebilde. Myriaden winziger Teilchen stoben in alle Richtungen, wie entsetzliche Schmetterlinge des Todes. Nun gab es keine Tänzer mehr, Inani war allein. Ein Jammer, die Feuerwesen waren so schön gewesen!

Dann tanze ich noch ein wenig hier, bevor ich mich zu den Göttern begebe, dachte sie zufrieden. Sie hörte Flügelrauschen, blickte sich aber nicht nach dem großen Geschöpf um, das sich rasch näherte. Gewiss war es Geshar, der gekommen war, sie heimzutragen, nach Hause zu den Göttern. Sie war bereit für ihn.

 

~*~

 

Corin flog. Blinde Entschlossenheit trug sie voran, ihr gesamtes Denken war auf ein einziges Ziel gerichtet: FINDE HILFE!

Nie zuvor hatte ihr Richtungssinn sie fehlgeleitet. Sie hatte so deutlich gespürt, wohin sie im Nebel laufen musste, ausgeschlossen, dass es einfach keinen besseren Ort zur Flucht gegeben hatte! Die Feuerkugel, die sie gestreift hatte, wäre beinahe ihr Tod gewesen. Corin machte sich nichts vor, sie würde an den Folgen der Verbrennungen sterben, und das bald schon. Die Feuermagie verhinderte, dass sie sich magisch selbst heilen konnte. Dennoch flog sie weiter, getrieben von der Gewissheit, irgendwo gab es irgendetwas, irgendjemanden, der ihr und vor allem Inani helfen konnte. Sie weigerte sich zu glauben, dass Inani im Todestanz sterben würde, das war einfach undenkbar! Gewöhnliche Hexen mochten so enden. Ihre Mutter war auf diese Weise gestorben. Nicht aber Inani. Man erzählte sich von zwei Dunklen Töchtern, deren Opfer von Pya abgelehnt worden war, die nach dem Todestanz lebendig zurückgekehrt waren. Dies musste auch für Inani möglich sein!

Corin hörte den Ruf ihrer Seelenvertrauten. Die Taube versuchte alles, um zu ihr zu gelangen, sie hatte den Nebel verlassen, dort, wo er blockiert wurde und flog nun den langen Weg zu ihr. Sie schickte sich an, erneut in den Nebel einzutauchen, doch das wollte Corin nicht zulassen.

„Warte im Nebel“, befahl sie. „Die Priester werden bald sterben oder nicht mehr die Kraft haben, dich zu verletzen.. Warte, bis es soweit ist.“

„Unser Ende ist nah, Schwester“, gurrte die Taube.

Corin antwortete nicht. Sie brauchte alle Kraft, um ihre Flügel zu bewegen. Als sie schon längst nicht mehr sah, wohin sie flog, spürte sie mit einem Mal: Sie war angekommen. Vertrauensvoll ließ sie sich gegen den schweren Körper prallen, der das Ziel ihrer Flucht gewesen war. Ihre und Inanis einzige Hoffnung.

 

~*~

 

„Au!“ Verwundert starrte Eiven auf den Vogel, der gegen seine Brust geflogen war. Er schaffte es gerade noch, ihn aufzufangen, bevor er zu Boden fiel. Gemeinsam mit Avanya hatte er das seltsame Treiben in der Ebene beobachtet – Nebel, dunkle, ferne Gestalten, feurige Kugeln, Rauchsäulen. Dann die Gewitterwolken, die sich genau über diesen Gestalten aufbauten, Erschütterungen und Erdbeben, die bis hierher zu spüren waren. Sie wussten beide, dass dort Magier gegeneinander kämpften, darum hielten sie sich bewusst so weit entfernt, wie es möglich war. Jetzt war er froh, dass Avanyas panische Angst vor unbegrenzter Weite sie gezwungen hatte, am Rand der Ebenen zu wandern. Andernfalls hätten sie sich vielleicht inmitten der entfesselten Mächte dort wieder gefunden und wären wohl darin umgekommen. So wie diese Taube hier. Das weiße Gefieder war von Ruß überzogen, der linke Flügel und die Brust schwarz verbrannt. Wie das winzige Geschöpf es geschafft hatte, soweit zu fliegen, war ihm ein Rätsel. Avanya trat neben ihn, sie starrte die Taube mit weit aufgerissenen Augen an. „Eiven …“, begann sie.

Der Vogel regte sich plötzlich. Eiven und Avanya schrien zugleich auf, als das Tier sich verwandelte: Eine blonde junge Frau lag nun schwer verletzt in Eivens Armen.

„Corin!“ Avanya half, die wimmernde Frau zu Boden gleiten zu lassen.

„Du kennst sie?“

„Ja. Eiven, sie ist eine von den Hexen, die mir geholfen hatten. Corin, kannst du mich hören?“ Avanya zog den Kopf der Verletzten in den Schoß und beugte sich tief zu ihr hinab. Benommen untersuchte Eiven die Verbrennungen. Er hatte schon einige entsetzliche Wunden gesehen, Loy, die schreiend vor Schmerzen gestorben waren. In Royas Schatten, immer zwei Schritte hinter der Heilerin, konnte er vieles lernen. Genug, um zu wissen, dass es für diese Frau keine Heilung mehr geben würde. Wie betäubt löste er die Nackenverschnürung seiner Weste, bedeckte damit die schwarz verkohlte Brust der Hexe – mehr, um nicht auf diese Wunde starren zu müssen. Es gab nichts, womit er Corin hätte helfen können, außer, ihr einen raschen, gnadenvollen Tod zu schenken.

„Eiven, Inani ist dort draußen!“, rief Avanya in diesem Moment. „Sie kämpft gegen eine Übermacht von Sonnenpriestern, Corin ist geflohen, um Hilfe zu holen. Sie besitzt wohl irgendeine Magie, die sie genau zu uns geführt hat.“

„Avanya!“ Eiven lenkte die Aufmerksamkeit der Nola auf die grässlichen Verbrennungen. Betroffen senkte sie den Kopf.

„Bitte, bringt mich zu Inani“, flüsterte Corin gebrochen. „Mein Sinn hat mich zu euch gebracht, ihr seid meine Hilfe. Bringt mich zu ihr, ich muss sie retten. Bitte!“ Sie suchte Eivens Blick und umklammerte seine Hand. „Loy, flieg mich zu ihr. Ich weiß, dass ich sterbe, ich muss bei ihr sein. Ich muss wissen ob sie überlebt!“

„Verwandle dich wieder“, erwiderte er leise. „Ich bringe dich dorthin.“ Alles in ihm weigerte sich, in die Nähe der tobenden magischen Kräfte zu fliegen, die er am Horizont wüten sah, aber er konnte dieser todgeweihten Frau nicht den letzten Wunsch verweigern. Fasziniert beobachtete er, wie Corins zerstörter Körper kurz in blauem Licht aufglühte, danach wandelte sie sich übergangslos zu einer Taube.

„Nimm mich mit!“, bat Avanya. „Vielleicht brauchst du meine Hilfe.“

„Ich muss fliegen, und hier in der Ebene tragen mich die Aufwinde sicherlich ziemlich weit nach oben.“

„Ich werde Corin tragen und nur auf sie achten. Nimm mich mit!“ Ihre Stimme war fest und entschlossen, also widersprach Eiven nicht länger, reichte ihr die Taube und hob sie in seine Arme.

„Nicht zappeln, nicht in den Himmel blicken. Konzentriere dich auf Corin und auf mich, sonst nichts!“, schärfte er ihr ein, gab ihr einen flüchtigen Kuss und stieß sich dann kraftvoll ab. Sturmwinde griffen nach seinen Flügeln, sie versuchten ihn zu zerschmettern. Doch Eiven war stark, er nutzte die Strömungen der Luft, um sich zu seinem Ziel bringen zu lassen: eine einsame, langsam tanzende Gestalt im Auge des Infernos der entfesselten Naturgewalten.

 

~*~

 

„INANI!“

Die Hexe, die vergessen hatte, was sie war, lächelte glücklich. Pya sprach zu ihr. Nun würde alles in Vollkommenheit enden.

„DEINE FEINDE SIND VERNICHTET, INANI. DEIN WEG DARF DENNOCH NICHT ENDEN. DU HAST EINE AUFGABE ZU ERFÜLLEN. KEHRE UM!“

„So viele Lebenswege bleiben unvollendet. Lass mich zu dir“, bat Inani.

„ICH KANN DEIN OPFER NICHT ANNEHMEN, NICHT SO KURZ VOR ERREICHEN DES GLEICHGEWICHTS. ERINNERE DICH, WER DU BIST, DU KANNST ZURÜCK.“

Die dunkle Macht der Göttin umhüllte Inani, sie erfüllte ihr Innerstes. Sie erinnerte sich, wer sie war, was sie getan hatte – und was ihr genommen worden war.

„JANIEL LEBT. ER SUCHT NACH DIR. SIEH AUF DEINE HÄNDE, DIE FLAMMENSCHRIFT LEUCHTET. KEHRE HEIM ZU IHM.“

„Ich kann nicht. Ich kann es nicht! Pya, ich ertrage den Schmerz nicht länger! So viele sind gestorben, wegen mir! Zwing mich nicht, noch länger auf deinem Weg zu wandeln, lass mir den Frieden! Andere sollen meine Aufgabe übernehmen, ich kann es nicht!“

„ICH HABE DICH GEWÄHLT, INANI, WEIL DU DIESEN SCHMERZ SPÜREN KANNST. ES GAB ANDERE, DEREN VERSTAND SCHÄRFER, DEREN MACHT UND WILLENSKRAFT GRÖSSER WÄRE ALS DEINE.

HEXEN, DIE ALL DIE MACHT, DIE ICH DIR ÜBERGAB, ZIELGERICHTETER VERWENDET HÄTTEN, OHNE DARAN ZU ZERBRECHEN.

DOCH NIEMAND VON IHNEN HÄTTE SO SEHR GELITTEN WIE DU, SO STARK GELIEBT, MIT SO VIEL LEIDENSCHAFT ALLES GEGEBEN, WAS SIE BESITZEN.

NUR WER BEREIT IST, SICH SELBST FÜR DIE LIEBE ZU GEBEN UND DIESE LIEBE ZU OPFERN WIE SICH SELBST, KANN DAS GLEICHGEWICHT ERREICHEN. DAS GLEICHGEWICHT, DAS NICHT ZERSTÖRT WIE DIE DUNKLE MACHT, DIE DICH GERADE ERFÜLLT, SONDERN NEUE ORDNUNG ERSCHAFFT.

DU BIST DIE HERRSCHERIN DER ELEMENTE. ICH BRAUCHE DICH.“

Weinend brach Inani zusammen.

„Lass mich gehen! Ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr! Beende diesen Kampf!“

„DANN IST ALLES VERLOREN“, sagte Pya voller Bedauern. Inani spürte, wie die Göttin nach ihr griff, um ihr diesen letzten Wunsch zu erfüllen – doch Pya zögerte.

„Inani …“ Das war nicht die Göttin. Inani spürte, wie sie berührt, gestreichelt wurde, und erkannte schließlich die leise Stimme in ihrem Inneren.

„Corin?“ Ja, das war ihre Schwester, deren Taube war bei ihr, und auch die Leopardin war gekommen. Gewiss, die Priester waren tot, damit standen die Nebelpfade wieder offen.

„Bleib stark, Inani. Schwöre mir, dass du nicht aufgibst, egal, was geschieht.“

Tiefe Liebe erfasste Inani, und noch tiefere Trauer. Sie wusste, es war der Abschied. Corin würde sie verlassen.

„Lass mich mit dir gehen“, bettelte sie und weinte um diese Seelenfreundin.

„Bleib. Ich brauche dich hier, in Enra. Nur du kannst mir noch den Todeskuss geben, nur du kannst das Ritual so erfüllen, wie ich es mir wünsche!“

Staunend begriff Inani, was Corin von ihr forderte, sie sah die Gedanken ihrer Schwester vor ihren inneren Augen. Nicht das gewohnte Todesritual, bei dem ein Haar der Hexe für jedes ihrer Lebensjahre Verderben über die Menschen brachte, sondern etwas, was noch nie da gewesen war.

„Pya gewährt es mir. Die Ordnung steht längst Kopf, es gibt zu viel Tod und zu wenig Hoffnung. Ich wünschte, ich wäre uralt, wie Yosi, dann könntest du so viel bewegen. Schwöre, dass du es tun wirst.“

Inani nahm erst jetzt ihren eigenen Körper und ihre Umgebung wahr. Sie lag am Boden, ganz dicht bei ihrer Hexenschwester. Jemand kniete neben ihr, ein anderer war bei Corin.

„Ich schwöre es.“ Inani schluchzte, sie verdammte sich selbst damit. Verurteilte sich zum Kampf. Zum Leben.

„Bring mich zu ihr“, bat sie den Fremden in ihrem Rücken. Starke dunkle Hände halfen ihr, Corin in die Arme zu schließen. Die Hände eines Loy. War Niyam gekommen?

„Vergangen ist die Nacht, verronnen ist die Kraft, verdorrt die Seele, verfallen der Leib. Gib den Todeskuss und setze mich frei, Schwester der Dunkelheit. Binde meine Augen, nimm mein Haar. Vollbringe mein Lebenswerk, und ich werde sitzen zu Füßen der Göttin, erwarte dich dort, bis auch du zu uns kommst“, wisperte sie auf Is’larr, gemeinsam mit Corin, hielt sie umfangen, wiegte sie, nahm Corins gesamtes Leben in sich auf.

Wie soll ich ohne dich weitermachen, Corin? Wie soll ich den Weg nach Hause finden, wenn ich mich verirre? Ich brauche dich doch!, dachte sie in das sterbende, dahinschwindende Bewusstsein hinein.

Wir werden uns wiedersehen. Pya hat es mir versprochen, ich lasse dich nicht allein. Such Janiel, bevor es zu spät für ihn ist … Und erfülle mein Werk.

Das Seelenband zerriss. Corin war fort. Inani begann zu schreien, einsam und verloren, sie schrie den Wahnsinn dieser Welt aus sich heraus, konnte ihn nicht ertragen. Sie wollte ihn nicht ertragen.

 

Einige hundert Schritt entfernt kniete Maondny am Boden, verborgen hinter einem Baum. Sie klammerte sich stöhnend an einen Ast, schlug mit dem Kopf rhythmisch gegen den Stamm. Die Schreie ihrer Freundin waren mehr, als sie verkraften konnte. Ihre Schuld. Es war ihre Schuld, immer wieder, jeden Tag aufs Neue. Alles was geschah hatte sie verursacht, sie ganz allein, weil sie einen jungen Mann nicht hatte sterben lassen wollen. Weil sie in das Schicksal eingegriffen hatte.

„Es hätte Schlimmeres heute geschehen können. Inanis Opferbereitschaft hat viele Leben gerettet“, wisperte eine Stimme hinter ihr. Maondny drehte sich nicht um, sie wollte diesen Boten der Götter nicht ansehen.

„Ja, sie hätten alle sterben können, die Priesterschaft wäre vernichtet und die falsche Hexe zur Königin von Roen Orm gekrönt worden. Das macht es nicht weniger entsetzlich, verstehst du das nicht?“

„Nein. Du weißt, Mitleid ist mir fremd.“ Die Stimme kicherte unbekümmert. „Ist es nicht gut, dass die wirklich

wichtigen Kämpfer in deinem Spiel überlebt haben? Gewiss, die Hexenkönigin ist ein herber Verlust, aber die kleine Taube gar keiner.“

„Schweig!“, zischte Maondny zornig. „Ein Leben wird nicht danach gewichtet, ob es nützlich für die Götter ist oder nicht! Ich habe Corin geliebt, ihr Verlust zerschneidet mir das Herz!“

„Dann ist alles so, wie es sein soll. Solange du weißt, was du opferst, solange du bedauerst, was du anrichtest, darfst du dein großes Spiel treiben, wohin du nur willst, wir werden dich nicht hindern. Geht es voran mit dem Splitter? Kommt Thamar zurecht? Und du erinnerst dich an unser Abkommen?“

„Alles Bestens“, grollte Maondny, während goldene Funken vor ihren Augen tanzten.

Sie hörte, wie der Bote sie verließ, wandte noch rechtzeitig den Kopf, um einen Blick auf die kleine Eule zu erhaschen, die kichernd in der Dämmerung verschwand. Sie liebte die Gedankenboten des Weltenschöpfers genauso sehr, wie sie sie fürchtete.

Inanis Schreie waren verebbt. Maondny beobachtete, dass die schwarze Materie aus ihr herausströmte und schadlos in der Erde versickerte. Wie gerne wäre sie dort bei ihrer Freundin, wie gerne würde sie sie trösten! Sie wusste, Inani würde sie nicht zurückweisen, im Gegenteil. Aber sie wusste auch, dass die Schuld sie vernichten würde, wenn sie jetzt Corin ansehen musste, darum blieb sie, wo sie war. Einsam und verloren.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Roen Orm 4: Herrscher der Elemente
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