26.

 

„Erwecke, was im Verborgenen schlummert. Führe diejenigen, die ihren Weg suchen. Zeige ihnen ihr Schicksal und hilf, dass sie es annehmen können.“

Lebensaufgabe von Kythara, Tochter der Telena, Königin der Hexen

 

 

Gleichgültig, wie oft Inani bereits Hexen gesehen hatte, die ihre Lebensaufgabe vollenden durften, sie würde sich niemals an den Anblick gewöhnen. Kythara, die schöne, stolze Rabenhexe, gab es nicht mehr. In diesem dämmrigen, mit allen möglichen Dingen vollgestopften Keller lag eine uralte Greisin, so verfallen und schwach, dass nichts als purer Trotz sie am Leben zu halten schien. Schwere Brandwunden zeigten, dass Kythara diesen Tag auf keinen Fall überdauert hätte, würde die Göttin sie nicht halten.

„Du bist hier“, wisperte die sterbende Königin in Inanis Bewusstsein. Sie öffnete weder die Augen noch zeigte sie auf andere Weise, dass sie keineswegs ohnmächtig war, wie Inani zuerst geglaubt hatte. Neben ihr stand der Korb mit ihrem Haar, das nur darauf wartete, den Zyklus zu beenden. Auch dafür musste Pya Kythara die Kraft geschenkt haben.

„Komm zu mir. Bevor du mich zu Pya schickst, musst du mich heilen, sonst fehlt mir die Konzentration, alles zu sagen, was wichtig ist.“

Verwirrt kniete Inani neben Kythara nieder und ließ Magie in den zerstörten Leib fließen. Es war nicht üblich, dass es noch etwas Wichtiges zu sagen oder zu tun gab, eigentlich sollte mit der Erfüllung der Lebensaufgabe alles erledigt sein.

„Sorge dafür, dass alle magischen Geschöpfe Enras meine Worte hören können, ich will, dass jeder es weiß, ohne Ausnahme. Alle Hexen, Priester, Töchter des Lichts, alle Loy, Nola, Elfen und was es sonst noch gibt an magischem Volk!“

„Es sei, meine Macht steht dir zur Verfügung.“

Inani wusste nicht, was sie zu erwarten hatte, konzentrierte sich aber gehorsam auf ihre Luftmagie, so, dass Kythara durch sie sprechen konnte. Sie war ausgebrannt von dem, was in den letzten Stunden über sie hereingestürzt war. Sie wusste nicht einmal sicher, ob sie stark genug sein würde, Kythara den Todeskuss geben zu können, um das gewaltige Leben dieser Hexe in sich aufzunehmen, nachdem sie gerade erst Corins empfangen hatte. Doch niemals hätte sie diese Aufgabe jemand anderem überlassen können, eher würde sie daran zugrunde gehen!

„TÖCHTER DER DUNKELHEIT, HÖRT MEINE WORTE! ICH BIN KYTHARA, TOCHTER DER TELENA, KÖNIGIN DER HEXEN. MEIN LEBENSWERK IST VOLLENDET, ICH WARTE AUF DEN KUSS DES TODES.

INANI, TOCHTER DER SHORA, WIRD EURE NEUE KÖNIGIN SEIN. GEHORCHT IHR, WIE IHR MIR GEHORCHT, KÄMPFT FÜR SIE, WIE IHR FÜR MICH GEKÄMPFT HABT. HÖRT DIESEN NAMEN UND VERGESST IHN NIEMALS MEHR: INANI, ERWÄHLTE DER PYA!“

Wie betäubt starrte Inani auf Kythara nieder. Sie konnte es nicht fassen, sie konnte, wollte nicht begreifen, was dies für sie bedeuten würde. Sie war eine Kriegerin, keine Königin! Sie wollte frei sein, durch Enra zu wandern, niemandem Rechenschaft ablegen müssen, sie wollte diese Verantwortung nicht ...

„Nun komm schon, ich bin am Ende!“, drängte Kythara.

Ohne noch etwas empfinden zu können sprach Inani die richtigen Worte und beendete damit das Ritual. Sie hatte keine Tränen mehr, die sie weinen konnte, keine Kraft mehr für Trauer und Leid.

„Suche deinen Liebsten, er braucht dich, und du brauchst ihn“, flüsterte Kythara. „Ich bin so stolz auf euch beide! Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet ein Sonnenpriester mein Lebenswerk beschließen würde! Trauere nicht um mich, ich bin so froh, dass ich meinen Weg bis zum Ende gegangen bin.“

Inani wiegte diese in jeder Hinsicht große Hexe, die ihr mindestens ebenso sehr eine Mutter gewesen war wie Shora, bis es vorbei war. Kytharas Leben überschwemmte ihren erschöpften Verstand, dreihundertsechsundzwanzig Jahre Kampf und Hingabe an Pya. Es war mehr, als sie ertragen konnte, Inani sank nahezu besinnungslos über dem toten Körper zusammen. Sie spürte kaum, dass ihre Seelenvertraute ihr Kraft zu geben versuchte, dann durch den Nebel davoneilte. Sie wusste nicht, wer zu ihr kam, geführt von dem Pantherweibchen, sie hochhob und erst in die Zwischenwelt, dann an einen Ort fern von Roen Orm davontrug. Melliare sprach zu ihr, bevor sie endgültig ohnmächtig wurde.

Ihre Freundin würde Kytharas Lebensweg beenden und Pyas Gleichgewicht über Roen Orm bringen. Es war nicht üblich, dass andere Hexen den Tod zu den Sterblichen trugen, sobald der Todeskuss gegeben worden war, aber durchaus möglich. Das war ein Segen, denn Inani hätte die Kraft nicht mehr dazu gefunden, nicht innerhalb der langen Stunden, die es dauerte, bis sie wieder erwachte.

 

~*~

 

„Willkommen“, sagte eine vertraute Stimme, als Inani mühsam die Augen aufschlug.

„Janiel?“ Sie tastete blind nach dem Geliebten, wusste nicht, ob sie sich diese Stimme vielleicht nur eingebildet hatte.

„Ich bin hier. Ich lebe, mir geht es gut. Dank Kythara, sie hat mich gerettet.“

„Ich weiß … ich trage ihre Erinnerungen daran …“ Sie sah sein Gesicht ganz nah über sich, und Ruhe kehrte in ihren trudelnden Geist ein. Erst jetzt konnte sie wirklich glauben, dass Janiel überlebt hatte.

„Wo sind wir?“ Inani schrak zusammen, als ihr klar wurde, dass sie nichts von ihrer Umgebung erkannte.

„Im Tempel von Kashuum, Ronlad gewährt uns Gastfreundschaft, solange wir sie brauchen. Ich hoffe, du verzeihst mir, dass ich dich in einen Ti-Tempel entführt habe.“ Janiel küsste sie zärtlich, und sie ließ alle Fragen ruhen.

„Halt mich fest, Janiel. Wenn du mich hältst, dann weiß ich, wer ich bin, dann kann ich mich von Kythara und Corin, von Yosi und den anderen Hexen, deren Erinnerungen ich trage, unterscheiden“, flüsterte sie. „Sie werden verblassen, die Erinnerungen, irgendwann, aber das dauert.“

Ein Winseln lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den jungen Wolf, der sich scheu an Janiels Seite hielt und offensichtlich nicht ganz glücklich über die Nähe der Leopardin war, die neben Inani ruhte.

„Er ist schön, Janiel, unglaublich schön“, wisperte sie, froh, geborgen in seinen Armen liegen zu dürfen. Der Wolf kam zu ihr und schnupperte neugierig an ihrer ausgestreckten Hand.

„Er hat für mich sein Rudel aufgegeben. Dieser Seelenbund ist seltsam. Anders als mit dir.“

„Lass ihn zu mir. Wenn er es will, werde ich Teil seines neuen Rudels sein.“

Der Wolf scheute noch vor ihr zurück, aber Inani spürte, er würde sich ihr sehr bald öffnen, ihr und der Leopardin. Es würde nicht die Verluste ausgleichen, die sie erlitten hatte, doch es würde ein wenig den Schmerz lindern. Erschöpft barg sie ihren schmerzenden Kopf in Janiels Händen. Morgen wollte sie von Ilat hören, von Rynwolf und von allem, was in Roen Orm geschehen war und augenblicklich geschah. Morgen wollte sie Avanya und Eiven holen, wie sie es versprochen hatte. Morgen. Heute wollte sie nur still liegen und sich von ihrem Liebsten halten lassen, unendlich dankbar, dass er zu ihr gefunden hatte.

Janiel streichelte sie sanft, gab ihr seine Wärme, seine Liebe.

„Willkommen, Königin der Töchter der Dunkelheit“, flüsterte er ihr zu, und es klang wie eine Prophezeiung.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Roen Orm 4: Herrscher der Elemente
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