27.
„Die Wahrheit ist ein Spiegel, der immer nur das Gesicht desjenigen zeigt, der nach ihr sucht, statt dem, was er finden sollte.
Sinnspruch aus Roen Orm
Rynwolf zog sich die gelbe Robe über. Gleich würde er einen Gottesdienst halten, aber nicht irgendeinen, wie es ihn täglich zweimal gab. Für gewöhnlich leitete einer seiner höheren Priester diese einfachen Gebetsstunden, nur an hohen Feiertagen und zu besonderen Gelegenheiten setzte sich Rynwolf selbst die Sonnenkrone auf. Bereits seit dem frühen Morgen wurden in regelmäßigen Abständen die Trommeln geschlagen, die alle Gläubigen der Stadt zur Mittagsstunde in den Tempel riefen.
Noch stand allerdings nicht fest, wie der heutige Tag verlaufen würde, angespannt wartete er, bereits so lange – da klopfte es.
Hoffentlich nicht wieder ein Novize!, dachte er zwischen Hoffen und Bangen, als er die Tür aufriss.
„Endlich! Ich dachte schon, Ilat hätte dich erschlagen!“, flüsterte Rynwolf erleichtert beim Anblick seines Neffen. Oh, es war nicht leicht gewesen, das Misstrauen zurückzudrängen, obwohl Ceros Erklärungen über seine Bekanntschaft mit den Hexen nachvollziehbar geklungen hatten. Doch Rynwolf musste diesem Mann einfach vertrauen. Es gab sonst niemanden mehr, in ganz Enra nicht.
Cero schüttelte nur den Kopf und schloss hastig die Tür hinter sich.
„Ich habe, was du wolltest. Ilat weiß nichts davon, aber es war schwierig. Er hat durchaus bemerkt, dass ich ihn auf irgendeine Weise betrügen will.“ Er hielt Rynwolf mehrere Pergamente hin – die Dokumente, die das Siegel des Erzpriesters trugen und ihn als Hochverräter zeichneten.
„Wenn Ilat ein Narr wäre, hätte ich bei weitem nicht so viele Probleme, Cero“, sagte Rynwolf. Er studierte die Listen kurz, warf sie dann ins Feuer, ohne zu fragen, was es den seinen Neffen gekostet haben mochte, sie zu stehlen.
Cero verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete seinen Onkel. Sie waren nach dem Tod von Ceros Mutter fast wie Brüder aufgewachsen, da sie nahezu gleichaltrig waren, Cero lediglich um zwei Jahre jünger. Er erinnerte sich gut, wie schwer es ihm gefallen war zu akzeptieren, dass Rynwolf Magie besaß und einen völlig anderen Lebensweg einschlagen musste. Stets hatten sie einander vertraut. Für Rynwolf hatte Cero sich intensiv dem Gebet und den Ritualen der Ti-Priester hingegeben, um ihm zumindest geistig nahe bleiben zu können. Nun zweifelte er zum ersten Mal in seinem Leben an diesem Mann und wusste nicht einmal, warum genau. Rynwolfs Ziel, gemeinsam mit Ilat das untragbare politische System von Enra zu erneuern, dabei inmitten der Kriegswirren den unfähigen König zu töten und durch ihn, Cero zu ersetzen, war gewiss radikal und würde sich nicht ohne hohe Verluste durchführen lassen, aber es war sinnvoll. Einige Provinzen würden sie verlieren, da es unmöglich sein würde, sie zu erobern – ein Schaden wäre es nicht. Wer brauchte schon die Waldgebirge, Kashuum, die Salzwüste? Inanis Gerede von einem jüngeren überlebenden Prinzen mochte die Wahrheit sein oder auch nicht, darauf konnte Cero reagieren, wenn es soweit kam, sich entscheiden zu müssen. Das war es nicht …
Wo ist er hin, der hoffnungsvolle Visionär? Der lebensfrohe, weitsichtige Rynwolf, der sich für alles begeistern konnte? Der jeden Teil der Schöpfung liebte? Wie viele Hexen hat man dir befohlen zu foltern und in Stücke zu reißen, wie viele unschuldige Leben musstest du opfern, bis diese Liebe in dir gestorben ist? Seit wann bist du dieser verbitterte Zyniker? Ah, warum bin ich nach Barrand gegangen? Hätte ich dir hier in Roen Orm zur Seite stehen sollen, um dich retten zu können?
Cero folgte seinem Onkel stumm in das Tempelheiligtum. Der riesige Saal war bereits erfüllt mit hunderten von Adligen und reichen Bürgern, während die weniger gut gestellten Bewohner Roen Orms sich im Innenhof sammelten. Rynwolfs Stimme würde bis zu ihnen dringen, das wussten sie, deshalb nahmen sie diese Beschränkung geduldig hin. Cero erinnerte sich an früher, als er ein kleiner Junge gewesen war und an den hohen Festtagen zuhause bleiben musste, weil es regelmäßig zu schweren Ausschreitungen unter den Armen kam, die auch in den Tempel wollten und nicht durften. Rynwolfs Luftmagie garantierte Frieden in dieser Stadt.
Ilat und seine engsten Berater saßen in den ersten Reihen. Obwohl es kaum eine Stunde her war, seit Cero mit dem König über Kriegsschiffe und Strategien gesprochen hatte, war Ilat seitdem scheinbar um Jahrzehnte gealtert. Bleich und angespannt saß er da, sein Blick hing wie gebannt an Rynwolf. Also wusste er, dass die Dokumente und damit sein einziges Druckmittel auf Rynwolf verloren waren.
Cero nickte seinen Gefolgsleuten zu. Er war nicht eingeweiht worden, was Rynwolf genau plante, was Ilat plante, wie beide jeweils reagieren würden, aber dieser Gottesdienst würde gewiss nicht der friedlichen Anbetung Tis gewidmet werden.
„Wen beschützen wir, Herr? Den König oder den Erzpriester?“, wisperte sein Hauptmann.
„Rynwolf, es hat sich nichts geändert“, erwiderte Cero bestimmt. Noch nicht …
Der Gottesdienst begann, mit Liedern und Gebeten. Angespannt wartete Cero auf den Moment, wo die Verkündung beginnen würde, jener Teil der Messe, in dem der leitende Priester aus heiligen Schriften lesen oder von Tis Wundern berichten würde. Was auch immer Rynwolf vorhaben mochte, es würde geschehen, sobald er sich der Menschenmenge zuwandte und vor ihr niederkniete, zum Zeichen, dass er, der höchste Führer der Ti-Kirche, demütiger Diener der Gläubigen war.
„Meine Brüder und Schwestern im Geiste, lasst mich von Tis Weisheit künden“, begann Rynwolf mit magisch verstärkter, weit tragender Stimme.
„Wir hören deine Worte“, erwiderte die Menge mechanisch.
„Meine Brüdern und Schwestern, ich muss euch berichten, dass ich, euer Führer in Tis Namen, mich geirrt habe.“
Tiefes Schweigen senkte sich über Tempel und Vorplatz. Nervös lockerte Cero sein Schwert – egal, was nun folgen mochte, es war Chaos zu befürchten.
„Wie mein Vorgänger im Amte war ich fest davon überzeugt, dass es keine Dunklen Töchter der Pya gibt, lediglich von Ti abgefallene Frauen, verführt vom Finsterling. Dies war ein Irrtum. Es gibt sie, die Hexen, es gibt sie wahrhaftig. Was über unsere Stadt gekommen ist, das waren die verderbten Töchter Pyas. Die Toten, die wir beklagen müssen, die Verwüstung des Königspalastes, all dies war kein Zufall.“
Rynwolf erhob sich, das Gesicht von Kummer zerfurcht.
„Ihre Majestät Ilat, unser geliebter König, wurde von Hexen verführt. Ich fürchte um sein Heil.“
Ilat erhob sich langsam und näherte sich dem Altar. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, von seiner Reaktion hing nun alles ab – würde es zu Ausschreitungen kommen? Vielleicht sogar zu offenen Kämpfen? Er wirkte unbeteiligt, beinahe, als ginge ihn das alles nichts an.
„Du hast also beschlossen, dass ich als König nicht mehr länger tauglich bin?“, fragte er, ohne sich abzumühen, laut zu sprechen. Rynwolfs Magie trug seine Worte noch in die hintersten Winkel von Roen Orm.
„Ihr seid vom Finsterling besessen und von seinen Huren missbraucht, Ilat. Unterwerft Euch der Priesterschaft, wir können Euch zurück zum Licht führen.“
Cero erschauderte vor dem, was er in Rynwolfs Gesicht las. Sein Onkel war entweder der begnadetste Lügner unter Tis Sonne, oder er glaubte tatsächlich an das, was er sagte. Das tiefe Bedauern, die aufrichtige Sorge, all das konnte doch nicht gespielt sein!
„Und wenn ich sage, dass niemand mich missbraucht hat, abgesehen von den Sonnenpriestern, dies allerdings nicht im Bett, sondern mittels politischer Machtspielchen?“ Ilat wandte sich ab, schlenderte scheinbar gelassen zum Altar.
„Wenn Ihr Euch nicht freiwillig von den dunklen Kräften heilen lasst, müssen wir Euch zwingen, Majestät“, sagte Rynwolf sanft, als würde er einem uneinsichtigen Kranken die bittere Medizin schönreden wollen.
„Lassen wir die Spielchen, Priester. Du willst mich vom Thron schubsen und versteckst dich hinter deinem Gerede von Heil und bösen Mächten.“ Ilat begann mit einem der Goldgefäße zu spielen. „Ich werde sammeln, was mir noch treu ergeben ist, was sich bestechen und mit Gewalt einschüchtern lässt und erwarte dich morgen früh vor Roen Orms Toren. Zufrieden?“ Er streckte den Arm aus und goss das Öl in dem Gefäß über Rynwolfs Kopf. Der Erzpriester rührte sich nicht, starrte Ilat nur an.
„Ihr wollt also Unschuldige sterben lassen? Ihr weicht nicht von Eurem Weg in die Dunkelheit ab?“, fragte Rynwolf anklagend.
„Es gibt keine Unschuld, Priester. Sei zufrieden, dass ich keine Häuserschlacht innerhalb von Roen Orm beginne. Du weißt, wo du mich findest.“
Mit diesen Worten verließ Ilat den Tempel. Die Menge teilte sich vor ihm. Niemand hinderte ihn, niemand sprach.
Alle starrten schweigend auf Rynwolf und versuchten zu begreifen, was hier geschah. Kein Chaos, nur stille Fassungslosigkeit. Cero seufzte. Dieser Kampf würde Roen Orms bereits blutgetränkte Erde mit einem Leichentuch zudecken, das allein war gewiss. Er schloss sich Rynwolf an, als dieser den Gottesdienst beendete und die Gläubigen fortschickte.
„Bist du auf meiner Seite, Neffe?“, wisperte der Priester mit flackerndem Blick.
„Wo sollte ich sonst sein?“ Aber Cero wusste nicht, wohin er gehörte. Die Wahrheit, er wüsste nur zu gerne, was wirklich wahrhaftig war …