8.

 

„Das größte Leid ist stets jenes, das wir uns selbst zufügen, aus freiem Willen, im Glauben, das Richtige zu tun.“

Sinnspruch, Ursprung unbekannt

 

Schweigend marschierten Pera, Jordre, Chelsa und Ledrea durch karges, zerrissenes Land. Die Elfe hatte einen von Chyviles Aquamarinen zu einem Schutzamulett für das Mädchen geformt, damit auch sie vor Osmeges Kreaturen geschützt war. Es schien Chelsa nicht zu interessieren, sie reagierte kaum auf die fremde, bedrohliche Umwelt und wies Peras Versuche, ein Gespräch zu beginnen, gleichgültig von sich. Dabei brannten Pera wie Jordre darauf, etwas über dieses Mädchen zu erfahren, das solch große Bedeutung haben sollte. Auch Ledrea war nicht mehr fähig, auf Fragen zu antworten. Sie murmelte unentwegt vor sich hin, blickte gehetzt um sich, als würde sie Feinde im Nacken spüren, dabei gab es hier vergleichsweise wenige Chimären oder entartete Pflanzen.

„Er ist nah, nah, er ist nah!“, hörte Jordre immer wieder. Zumindest bildete er sich ein, dass dies die Bedeutung der Worte sein könnten, Ledrea flüsterte in ihrer eigenen Sprache. Schließlich hielt Pera die Anspannung nicht mehr aus und stellte sich der Elfe in den Weg.

„Keinen Schritt weiter!“, zischte sie wütend. „Sind wir in Gefahr, ja oder nein? Wenn ja, welche Gefahr, und was können wir dagegen tun?“

Zuerst fuhr Ledrea erschrocken zusammen, aber dann lächelte sie traurig.

„Es ist gut. Ich bin …“ Fahrig wischte sie sich über das Gesicht. „Kommt mit in die Traumwelt. Wir haben nicht mehr viel Zeit, bald wird mein Fluch sich erfüllen. Ihr müsst es bis dahin geschafft haben. Schaffen, ja … Wissen. Das braucht ihr. Schließt die Augen!“

Es brauchte mehrere Anläufe, bis Chelsa bereit war, der Aufforderung der Elfe zu gehorchen und die Lider geschlossen zu halten. Sie zeigte zum ersten Mal offen ihre Angst, die sie bislang unter der Maske der Gleichgültigkeit verborgen gehalten hatte. In Ledreas sicherer Traumzuflucht atmeten sie alle erst einmal auf. Auch Chelsa schien zu spüren, dass sie hier nicht angegriffen werden konnte, da sie etwas ruhiger wurde.

„Wir haben nicht viel Zeit“, wiederholte Ledrea mehrfach. „Ihr müsst es wissen, jetzt, ihr alle drei. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis es soweit sein wird. Osmege ist bereit für mich, mein Fluch wird sich bald erfüllen.“ Sie hob die Hand, als Pera ansetzte zu sprechen und winkte hastig ab. „Keine Fragen, hör mir zu!“, befahl sie ungewohnt barsch. „Legt euch auf den Rücken. Du auch, Chelsa, vor allem du!“

Zögerlich gehorchten die drei und legten sich auf dem seltsam unstofflichen Boden nieder. Ledrea schien nicht mehr die Kraft oder Konzentration zu besitzen, ihre Traumwelt zu gestalten, sie befanden sich hier in einem wattigen, grau-weißen Nirgendwo, in dem alle Geräusche unangenehm gedämpft klangen und das quellenlose Licht nur wenig erhellte. Alles fühlte sich zugleich fest und nachgiebig an.

Jordre schloss auf Ledreas Befehl hin zögerlich die Augen. Seltsame Unruhe erfüllte ihn, er ahnte, dass er nun Antworten auf Fragen erhalten würde, die ihn schon sein ganzes Leben lang gequält hatten. Nun, wo es soweit war, fühlte er sich nicht bereit dafür, gerne hätte er noch einige Jahre länger gewartet. Was auch immer es war, es würde schrecklich sein, sonst hätte Chyvile ihm diese Antworten nicht stets vorenthalten, mit Trauer im Blick.

„Ihr alle kennt die Geschichte, wie aus zwei unglückseligen Orn das Monster Osmege wurde“, begann Ledrea mit ferner, verlorener Stimme zu erzählen. „Ihr wisst, dass ein kleines Elfenmädchen namens Elys mit Steinen spielte und einen Vereinigungszauber sprach, den Ismege hörte und für ihre eigenen Zwecke zu missbrauchen begann. Ihr wisst, dass Shesden, der spätere Gefährte von Elys, gefangen genommen und gefoltert wurde, bis er Osmege verriet, wo die letzte Allianz aus Elfen und Famár angreifen wollte. Was ihr nicht wisst ist, dass es Shesden gelang Selbstmord zu begehen, bevor Osmege ihn zu einem der Verlorenen machen konnte. Auch Elys tötete sich selbst, als sie das Schicksal ihres Liebsten in ihrem Inneren spürte. Meine Tochter Anedel sollte sich zu dieser Zeit um Elys kümmern, die mit Shesdens Kind schwanger war, und sie beschützen.“ Ledreas Stimme versank zu einem kaum noch hörbaren Flüstern. „Auch sie nahm sich das Leben, als sie Elys tot auffand.“

Jordre wollte sich aufsetzen und hörte, wie sich Pera neben ihm regte, doch Ledrea drückte sie beide unerbittlich zurück.

„Anedel sprach zu mir, bevor sie an dem Gift starb. Sie sagte, Elys hätte einen heiligen Schwur geleistet, zurückzukehren und Osmege zu vernichten, nachdem sie in einer Vision sah, wie Shesden diesen Eid ebenfalls in seinen letzten Augenblicken gesprochen hatte. Meine Tochter sagte, sie würde sich diesen beiden anschließen und alles tun, alles, damit dieses Ziel erreicht wird.“

Eine Weile lang war nichts zu hören, außer Ledreas leisem Weinen.

„Der Grund, warum ich euch beide, Pera und Jordre, überhaupt finden konnte, als ihr sterbend im Schnee lagt, und dass ich die Kuppel durchschreiten konnte, als die Wassermagie der Famár euch eigentlich vollständig beschützen sollte, liegt darin, dass ich euch schon fast so lange kenne, wie ich selbst lebe. Der Fluch der Unsterblichkeit, den wir Elfen selbst über uns brachten, zwingt uns zur Wiedergeburt. Die Jenseitswächter achteten den gemeinschaftlichen Eid, der geleistet wurde, und sie schickten Anedel, Elys und Shesden immer wieder und wieder zurück in ein neues Leben nach Anevy, unzählige Male – in den Körpern von Orn, denn Elfen gab es keine mehr. Nie gelang es den dreien, zueinander zu finden, bis zum heutigen Tag. In dir, Jordre, lebt Shesden weiter. Ich weiß nicht, warum deine Orn-Eltern dich ausgesetzt haben. Vielleicht hatten sie versucht, ein sicheres Dorf zu erreichen und wurden von Osmeges Schöpfung überwältigt. Jedenfalls ist es eine seltsame Wende, dass ausgerechnet Chyvile deine Pflegemutter geworden ist. Chyvile hatte sich nie verzeihen können, dass Shesden vor ihren Augen gefangen genommen und verschleppt wurde.“

Wie erstarrt versuchte Jordre zu begreifen, was Ledrea ihm da sagte. In ihm sollte ein Elf leben? Nicht irgendeiner, sondern jener Krieger, der unter der Folter zerbrochen war und damit den letzten Angriff der freien Völker zunichte gemacht hatte?

„Pera, du hast dich von Anfang an zu mir hingezogen gefühlt. Es war mir ein Trost, dich noch einmal gefunden zu haben, möglicherweise das letzte Mal, denn wenn mein Fluch wirkt, werde ich wahrscheinlich nie mehr zurückkehren können. Du bist Anedel. Und du bist Pera. Beide Namen bedeuten dasselbe: Die Treue. Diejenige, die bleibt, wenn alle anderen bereits geflohen sind.“

Ledrea schwieg wieder, und sofort wandten Pera und Jordre die Köpfe zu Chelsa, die vollkommen still zwischen ihnen lag.

„Tarches, der Baum der Namen, hat nicht versucht, dein Schicksal zu verschleiern. Chelsa bedeutet in der alten Hochsprache der Orn Die Steintänzerin. Was Tarches gemeinsam mit der Fren verhinderte, war jeder magische Versuch, egal ob von Osmege oder jemand anderen, dich über diesen Namen zu finden. Ich musste einen sehr starken Fluch wirken, um dich aufspüren zu können und hätte es nicht geschafft, wenn ich dich damals nicht so gut gekannt hätte. In dir, Chelsa, lebt Elys, jene Elfe, deren Spiel Verdammnis über eine ganze Welt brachte. In dir lebt die Möglichkeit, Osmeges Herrschaft zu beenden. Aus diesem Grund sagte ich, dass die Prophezeiung, die Fin Marla sprach – erst sprach, nachdem ihr drei euch bereits selbst verflucht hattet – nicht eindeutig ist, Chelsa. Dein Leben als Orn wird enden, auf die eine oder andere Weise. Sollten die Elfen zurückkehren, besteht aber Hoffnung für dich, von neuem geboren zu werden und dich an dieses Leben zu erinnern.“

Chelsa schluchzte auf und klammerte sich an Pera.

„Ich verstehe das alles nicht! Ich bin niemand anders, ich bin Chelsa, ich selbst, sonst nichts! Ich will niemand anderes sein, ich will nicht sterben, ich will nicht zurückkommen und trauern um das, was nie wieder sein wird! Ich will das alles nicht!“, rief sie verzweifelt. Mitfühlend legte Jordre eine Hand auf die bebenden Schultern des Mädchens und suchte dabei Peras Blick. Für ihn war dieses Kind einfach nur irgendeine Orn, eine Verpflichtung, die man ihm aufgetragen hatte, nicht die Gefährtin, nach der er dutzende Leben lang suchen musste. Seine Liebe gehörte Pera, ganz allein ihr!

„Ich werde jetzt ein Ritual wirken, das euch vielleicht helfen wird, euch an eure vergangenen Leben zu erinnern. Wäret ihr in Elfenkörpern zurückgekehrt, wäre es nicht nötig gewesen, denn ihr würdet euch von allein erinnern können. Als Orn braucht ihr magische Hilfe, und mehr Zeit, als wir haben. Vermutlich wird Chelsa sich gar nicht erinnern, du bist zu jung. Verflucht sei Maondny, die mit unser aller Schicksal spielte!“

Verwirrt blickte Jordre zu ihr auf, noch nie hatte Ledrea mit solch leidenschaftlichem Zorn gesprochen. Wer wohl Maondny sein mochte? Er erinnerte sich, dass auch Chyvile diesen Namen verflucht hatte, also musste es wohl eine schreckliche Gestalt sein. Gefährlicher noch als Osmege? Eine fremde Göttin möglicherweise? Oder eine andere Elfe, die mit seltsamen Flüchen in die natürliche Ordnung der Welt eingegriffen hatte?

„Sei es, wie es ist, versuchen müssen wir es. Bleibt einfach still liegen und wehrt euch nicht. Es wird nicht wehtun.“

Jordre griff nach Peras Hand, umarmte mit ihr gemeinsam Chelsa, die immer noch leise weinte. Wenn er seiner eigenen Vergangenheit begegnen sollte, wollte er sich dabei nicht allein fühlen müssen.

 

Roen Orm 4: Herrscher der Elemente
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